Geflüchtete an der EU-Außengrenze: Welch kalte Sprache!

An der EU-Außengrenze ist die Lage dramatisch. Den Politiker Christian Lindner bewegt dabei nur ein angeblicher „Kontrollverlust“ Deutschlands.

Christian Lindner im Profil.

In seiner Sprache werden die Geflüchteten zu störenden Objekten: Christian Lindner Foto: Annegret Hilse/reuters

Man könnte als Spitzenpolitiker über vieles sprechen, angesichts der dramatischen Bilder von der griechisch-türkischen Grenze.

Man könnte über Kinder sprechen, die von ihren weinenden Eltern aus Tränengaswolken getragen wurden. Oder über ein Kind, das vor der Küste von Lesbos ertrank.

Man könnte über ein Schiff der griechischen Küstenwache sprechen, das an einem Schlauchboot voller Geflüchteter vorbeirauschte, mit voller Absicht und gefährlich nah.

Man könnte über die Idee der griechischen Regierung sprechen, mal eben das Asylrecht auszusetzen, was die Genfer Flüchtlingskonvention unterläuft.

Man könnte über Erdoğans Dreistigkeit sprechen, über das europäische Versagen in der Flüchtlingspolitik oder über das Angebot deutscher Kommunen, Geflüchtete aufzunehmen.

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner entschied sich am Montag anders. Er sprach vor allem über eines, nämlich über eine sehr deutsche Befindlichkeit. Die Kanzlerin habe versprochen, „dass sich ein Kontrollverlust wie 2015 nicht wiederholt“, schrieb Lindner auf Twitter, wo ihm über 380.000 Menschen folgen.

Daran würden sie, der Innenminister und die Unionsparteien gemessen. „Die Bilder und Nachrichten aus Griechenland zeichnen mitnichten das Bild einer kontrollierten Lage.“ Meinte Lindner und fügte hinzu, dass es „zur Reduzierung der Migrationsbewegungen“ hilfreich wäre, wenn Merkel öffentlich sage, „dass es eine unkontrollierte Einreise nach Deutschland nicht mehr gibt“. Das war also Lindners Sorge angesichts des Dramas an der EU-Außengrenze: Unordnung im warmen, gemütlichen Deutschland.

Was zuallererst auffällt, ist die kalte, technokratische Sprache. „Kontrollverlust“. „Gemessen“. „Reduzierung der Migrationsbewegungen“. Lindner hält sich das Leid von Menschen mit seltsam unkonkreten Substantiv-Ungetümen vom Leib. Der Politiker spricht offensichtlich nicht über Hilfsbedürftige oder eher: Er will es nicht tun. In seiner Sprache werden die Geflüchteten zu störenden Objekten.

Das ist keine Kleinigkeit. Sprache setzt sich in den Köpfen fest, sie schafft Realität. Die AfD liebt es, wenn andere über einen angeblichen drohenden Kontrollverlust reden, aus naheliegenden Gründen.

Lindner ist mit seiner Furcht vor dem Gestern und der Fixierung auf Deutschland nicht allein. Merkel hat in den vergangenen Jahren gefühlt tausend Mal gesagt, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholen dürfe. CDUler, Sozialdemokraten und selbst Grünen-Chefin Annalena Baerbock warnen im Moment davor. Sie wollen die Deutschen beruhigen, aber vermutlich erreichen sie das Gegenteil. Ein Fokus auf die Vergangenheit ist nicht geeignet, um ein gutes Morgen zu beschreiben.

Imaginierter Kontrollverlust

Deutschland hat den – kurzfristigen und nicht zu leugnenden – Verlust der Kontrolle im Jahr 2015 bekanntlich sehr gut überstanden. Dem Land geht es blendend, vielen Menschen wurde geholfen. Vor allem aber gilt: Was heute an der türkisch-griechischen Grenze passiert, lässt sich mit 2015 nicht vergleichen, auf mehreren Ebenen nicht. Den Kontrollverlust, den Lindner und andere imaginieren, gibt es nicht.

Nähme Deutschland zum Beispiel 7.000 Kinder samt ihren Eltern aus dem Flüchtlingslager Moria auf, wäre dies nicht nur eine humanitäre Geste und eine Entlastung des griechischen Staates. Es wäre auch ein überschaubares, leicht zu handhabendes Kontingent. Der Staat wüsste dieses Mal, wer kommt. Er wäre vorbereitet, die Strukturen für Hilfe sind da. Viele deutsche Kommunen bieten ihre Hilfe gerade an. Politiker, die jetzt vor Kontrollverlust warnen, handeln verantwortungslos, weil sie Panik schüren.

Sehr angebracht wäre es allerdings, über die wahren Kontrollverluste zu sprechen. Griechenland, ein EU-Staat, verweigert gerade Menschen ihr Recht, einen Asylantrag zu stellen. Das ist ein kalkulierter, von anderen EU-Staaten geduldeter Rechtsbruch. Mitmenschlichkeit? Anstand? Gültigkeit des Rechts, auch in schwierigen Zeiten? Erdoğan muss nur ein paar Reisebusse mit Geflüchteten losschicken, schon wirft die EU all ihre Werte über Bord.

Ein Kontrollverlust ist es, wenn auf Lesbos Rechtsextreme patrouillieren. Ein Kontrollverlust ist es, wenn Polizisten dulden, dass Journalisten bedroht werden. Wenn die Küstenwache dabei zusieht, wie ein Flüchtlingsboot manövrierunfähig auf dem Meer treibt. Oder wenn Grenzschützer Tränengasgranaten auf Kinder schießen.

Anders gesagt: Wer angesichts der aktuellen Krise der EU über 2015 schwadroniert, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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