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Doppelmoral im WeltsportFür die eigenen Verbrechen blind

Alina Schwermer
Essay von Alina Schwermer

Für alle gleich geltende Regeln im Weltsport sind eine Illusion. Der politische Westen gibt den Ton an – und die, die das Geld geben.

Liberale Demokratien gegen Autokratien, gute Turniergastgeber gegen schlechte: Deutschlands Menschenrechtsdiskurs im Sport Foto: Katja Gendikova

E s sollen fette Jahre werden für den Sport, richtig fette Jahre. Und eine große Propagandashow für die USA. Vier Weltsportturniere finden in den nächsten Jahren in den Vereinigten Staaten statt: die neu aufgeblähte Klub-WM diesen Sommer, die Männerfußball-WM 2026 mit Kanada und Mexiko als Co-Gastgebern, Olympia in Los Angeles 2028 und wohl die Frauenfußball-WM 2031. Es ist eine ungewöhnliche Konstellation mit ungewöhnlichen Gewinnaussichten.

896 Millionen US-Dollar Preisgeld bei der WM, das ist doppelt so viel wie die Rekordsumme von Katar 2022; bei der Klub-WM wird die Fifa für wenige Wochen Fußball eine Milliarde Dollar ausschütten. Sportarten wie Männerfußball, die an Wachstumsgrenzen stoßen, sehen im US-Markt eine rettende Planke. Und noch etwas ist bemerkenswert: wie still es ist. Menschenrechtsverletzungen sind kein Thema.

Die USA sind ein Gastgeber, der Staaten mit völkerrechtswidriger Annexion bedroht, Unliebsame deportieren lässt, die Wissenschafts- und Protestfreiheit massiv eingeschränkt hat, Klimakrise und Überreichtum gezielt vorantreibt und im Gazastreifen eine ethnische Säuberung finanziert. Und es passiert: nichts. Kaum Boykottaufrufe, keine Proteste, nicht mal Debatten. Die deutschen Welt­meis­te­r:in­nen der Menschenrechte zucken mit den Achseln.

Stellen wir uns kurz vor, was in den Talkshows los wäre, wenn dieselben Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld von vier(!) Großturnieren in China, Russland oder Katar geschähen. Beim Bündnispartner mit zweierlei Maß zu messen, hat im Sport eine lange Tradition. Die deutsche Totalverweigerung von Empathie und Reflexion ist nicht neu. Neu ist die Dimension schierer Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber dieser neuen Dimension heftigster Verbrechen.

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Von US-Investoren abhängig

Auch selbst proklamierte Werte wurden schnell abgewickelt. Europas Sport hat sich bemerkenswert rasch arrangiert mit dem dystopischen Techfaschismus beim großen Bruder. Denn viele Klubs haben sich gerade seit der Pandemie und dem Ukrainekrieg gefährlich von US-Investoren abhängig gemacht. Fans indessen fokussieren sich auf die geplante Fußball-WM in Saudi-Arabien. Dabei ist Trumps innenpolitischer Krieg gegen den Liberalismus eigentlich ihr Thema: LGBT-Rechte, Migrant:innen, Meinungsfreiheit.

Deutschlands Menschenrechtsdiskurs im Sport hat Länder nie objektiv betrachtet; er war immer auch eine Erzählung moralischer Überlegenheit. Liberale Demokratien gegen Autokratien, gute Turniergastgeber gegen schlechte. Ein sehr deutsches Framing übrigens auch von Weltpolitik. In einem globalen Ausbeutungssystem ist das völlig unterkomplex. Diese Erzählung funk­tio­nierte im Sport, indem man die Stärken des eigenen Blocks zum Goldstandard erhob: Mehrparteiensysteme, Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte.

Klassische Verbrechen von Gastgebern des reichen Nordens dagegen waren bei der deren Beurteilung nicht relevant: Klimabilanz, Invasionen, Überreichtum, Verbrechen beim Asyl, verwehrte Bewegungsfreiheit für das globale Prekariat. Man hat lokale Verhältnisse thematisiert, nicht die globalen. Der hauseigene Neofaschismus und immer brutalere nationale Festungen aber haben diesen Glauben der Linksliberalen an ihre anständige Heimat zerschellen lassen. Es bleibt Schweigen.

Es gibt zusätzlich eine juristische Komponente. Die Fälle Russland/Belarus und USA/Israel lassen sich nicht vergleichen. Aber wenn dieselben Weltsportverbände, die Russland und Belarus nach wenigen Tagen für die völkerrechtswidrige Besatzung in der Ukraine sperrten, bei der völkerrechtswidrigen Besatzung palästinensischer Gebiete, zumal bei Verdacht auf Völkermord, systematisch wegsehen, läuft etwas dramatisch schief.

Sanktionen oft willkürlich

Das gilt übrigens auch für die Verantwortung der Vereinigten Arabischen Emirate beim mutmaßlichen Völkermord im Sudan, für den sich arabische Fans nicht ganz so erwärmen können wie für Gaza. Ein Recht, das nur nach Gutdünken gilt, ist nichts wert. Und wenn niemand mehr daran glaubt, ist es das Ende einer Ordnung. Dabei war die Idee gemeinsamer Regeln für den Weltsport zunächst einmal fortschrittlich.

Ihre Fußfessel aber war stets, dass Menschenrechte im Sport kein Justizinstrument sind – sie sind ein geopolitisches Instrument. Bis heute gibt es keine transparenten Kriterien für politische Sanktionen. Weltverbände beschließen sie willkürlich und meist unter hohem politischem Druck, denn sie selbst haben gar kein wirtschaftliches Inte­resse an Ausschlüssen. Es gibt auch keine freie Gerichtsbarkeit, an die ein sanktionierter Verband sich wenden kann – der Sportgerichtshof CAS ist finanziell und personell stark von den Verbänden abhängig.

Und fast immer hat sich bei Ausschlüssen der politische Westen durchgesetzt. Heftig mit Sperren sanktioniert wurden etwa die Mittelmächte nach dem Ersten Weltkrieg. Eine zweite Sanktionswelle ging gegen die Achsenmächte nach dem Zweiten Weltkrieg, eine dritte gegen die US-Gegner im Vietnamkrieg. Dahinter steht ein imperiales Verständnis von Kriegsschuld; Krieg entsteht demnach nicht durch Block-Konkurrenz, sondern durch den Gegner.

Und strafbar sind jene Kriege, die den transatlantischen Block bedrohen. Diese Kontinuität reicht bis zum Ukrainekrieg. Keine westliche Invasion im Globalen Süden, keine Annexion und kein kolonialer Völkermord wurden im Sport je bestraft. Es ist ein Recht für manche, nicht für alle. Diese Ordnung musste scheitern. Je multipolarer die Welt wurde, umso weniger waren drastische Maßnahmen möglich.

Wachsender Einfluss der Autokraten

Der Strafausschluss Indonesiens in den 1960ern etwa, nachdem Präsident Sukarno ein kurzlebiges antikoloniales Olympia gegründet hatte, wäre heute nicht mehr durchsetzbar. Formate wie die BRICS Games, die Islamic Solidarity Games oder die vom Trump-Clan finanzierten Enhanced Games konkurrieren mit der alten Sportwelt; auf einem Nebenplatz – vorerst. Die Macht im Sport ist diverser geworden. Zugleich haben Autokraten massiv an Einfluss gewonnen.

Dieses Missverständnis – den einen Welt­bür­ge­r:in­nen ging es um Teilhabe, den anderen um Ausschluss von Autokratien – bildete einen Kernkonflikt des letzten Sportjahrzehnts. Und die teils hysterischen Proteste gegen die Katar-WM waren womöglich der Moment, in dem der Rest der Welt die Erzählung von Menschenrechten nicht mehr glaubte: einem Europa, das sich für Katars Mi­grant:in­nen ereiferte, während es die eigenen ertrinken ließ. Katar und Gaza.

Die völlig überschätzte Teilisolation Russlands war das letzte Hurra dieser Herrschaft. Mit der auch sportlichen Annäherung der USA an Russland beginnt eine Ära wechselnder Bündnisse. Es wird für Großmächte darin schwerer werden, ihre Sanktionsvorstellungen durchzusetzen; denkbar sind eher Pattsituationen. Die neue IOC-Präsidentin Kirsty Coventry hat direkt nach ihrer Wahl angekündigt, sie sei gegen Ausschlüsse. Dabei ging einst ein kurzes Fenster der Möglichkeiten für eine echte Vision auf, als neue Staaten dazustießen.

Die frisch gegründeten afrikanischen Staaten erwirkten in den 1960ern einen langjährigen Sportausschluss Apartheid-Südafrikas. Er gilt als einer der wenigen wirksamen Boykotte in der Sportgeschichte, unter anderem weil er langfristig, konsequent und nicht blockpolitisch motiviert war. Letztlich aber setzen sich fast überall Autokraten, Diktatoren und Islamisten durch. Eine Vision für den Sport findet sich nirgends mehr.

Sanktionen haben selten Erfolg

Doch wie ließe sich wirklich etwas verändern? Die meisten Boykotte im Sport haben eine schlechte Bilanz. Oft ging es Staaten, Fans oder Sport­le­r:in­nen eher darum, Haltung zu demonstrieren, nach innen oder nach außen. Denn um substanziell etwas zu verändern, muss es eines geben: Zusammenarbeit. Anders gesagt: Ein Turnier muss stattfinden. Wie erfolgreiche Kämpfe funktionieren, zeigte sich ausgerechnet in Katar.

Mit langem Atem der Fans, stetigen Recherchen, Druck durch NGOs und Protesten hat Europa echte punktuelle Verbesserungen für Mi­grant:in­nen erkämpft, darunter auch Gesetzesänderungen. Gerade die sind wichtig, weil Menschen sich später darauf berufen können. Auch die US-Regierung ließe sich im Scheinwerferlicht durchaus unter Druck setzen. Etwa mit einer Kampagne, die ein sofortiges Ende der Massaker und eine gerechte Lösung für den Gazastreifen forderte.

Oder verbindliche Teilhabe von trans Frauen. Oder die sofortige Aussetzung von Deportationen illegalisierter Menschen. Ein Sportturnier wird und darf keine Gesellschaft umkrempeln, durchaus jedoch kann eine Kampagne wirken. Doch bei Menschenrechten ging es nie um Menschen. Jedenfalls nicht um alle. Das ist die wahre Tragik. Ein völliger Ausschluss von Staaten übrigens kann helfen, aber nur, wenn einzelne Staaten tatsächlich eine akzeptierte Regel brechen.

Gegen Afghanistans Frauensportverbot etwa sind Sanktionen überfällig. Viele Formen staatlicher Aggression dagegen sind im Kapitalismus die Regel. Für wen etwa Besatzung oder Invasion ernsthaft Kriterien sind, der müsste derzeit eine lange Liste von Verbänden sperren. Gewalt ist systemisch. Der Glaube an zähmbare Staaten war der große Fehler der „regelbasierten Ordnung“. Der Sport muss viel globaler denken. Klimakatastrophe, eskalierende Ungleichheit, religiöser Faschismus oder die Festungen des Wohlstands bedürfen globaler Kämpfe.

Dafür ist ganz zentral, die Weltsportverbände und ihre Sponsoren zu demokratisieren. Die autokratische Wirtschaft war vielleicht der folgenschwerste Fehler des liberalen Zeitalters. Und womöglich sein Sargnagel. In Konzernen, wo man Mächtige nicht abwählen kann und nicht mitbestimmt, wohin Gewinne fließen, ist Gemeininteresse nicht durchsetzbar. Das gilt auch für Sport­events.

Überfällig sind auch Arbeitsgruppen, die sich mit einem Postwachstumssport auseinandersetzen, mit der Niederschlagung der Oligarchie, statt die großen Leitbahnen den Reichen zu überlassen. Zu erwarten ist nichts davon.

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Alina Schwermer
freie Autorin
Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum und Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen und übers Reisen. Autorin mehrerer Bücher, zuletzt "Futopia - Ideen für eine bessere Fußballwelt" (2022), das auf der Shortlist zum Fußballbuch des Jahres stand.
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7 Kommentare

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  • Ein ziemlich cooler Artikel, in dem die Autorin recht unbequeme Wahrheiten benennt. Der reiche und mächtige Norden gibt halt seit 1492 weltweit ziemlich den Ton vor, (wenngleich in den letzten Jahren insgesamt mit abnehmender Tendenz). Auch die Innen-Außen-Verhältnisse oder die Vielfach-Maßstäbe bei „Sanktionen“ als das bezeichnet zu haben, was sie sind, ist in dieser Breite und Ausführlichkeit sonst eher selten. Chapeau!

  • "Und noch etwas ist bemerkenswert: wie still es ist. Menschenrechtsverletzungen sind kein Thema."

    Wirklich, sher bemerkenswert. Überall sonst in der Welt sind Menschenrechte zentrales Kriterium bei der Ausrichtung von Sportturnieren und werden genauestens überwacht - nur der Ami darf machen was er will. Cui bono???!!!

  • Wenn man jede aus eigener Sicht unerwünschte Situation wie „Überreichtum“ und „Bewegungsfreiheit“ zum „Verbrechen“ ausruft, dann gibt es natürlich keine „Guten“ mehr. Kann man machen. Aber dann sind alle „Böse“. Und man kann die Kategorie einfach aufgeben - etwa: Olympia in Russland oder Italien: egal, sind alles Verbrecher.

  • "Stellen wir uns kurz vor, was in den Talkshows los wäre, wenn dieselben Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld von vier(!) Großturnieren in China, Russland oder Katar geschähen."

    Ganz ehrlich?



    Man wäre heilfroh gewesen, wenn es nur diese Dinge gewesen wären. Ich erinnere mich an die Diskussionen um Sotschi, Peking, Katar, Südafrika usw. Da reden wir über Dinge gegen die das, was im Artikel den USA vorgeworfen wird, ehrlicherweise peanuts sind.

    Sollten bis dahin tatsächlich Grönland und/oder Kanada tatsächlich worden sein, reden wir über ganz andere Dinge, das ist klar. Aber dann hätten wir eine Weltlage, die wir uns heute kaum vorstellen können. Da wäre die Frage, Sportgroßereignisse in den USA zu boykottieren, bestenfalls drittrangig,

  • Panem et circenses. Brot und Spiele. Das hat schon immer gut geklappt, okay, nicht immer mit dem Brot. Den gemeinen Zuschauer von Sportereignissen interessiert es erst gar nicht, wie Katar es 2022 bewiesen hat. Nicht Radikalismus und Extremismus sind die größten Gefahren für demokratische Gesellschaften. Es ist die Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit der breiten Masse. Billig Fleisch, billig Mallorca, abends Fußball oder ein anderer Sport in der Glotze und schon ist die Welt für die meisten Menschen in Ordnung.

  • Der Sport ist nicht nur Abbild der Gesellschaft, er ist kultisches Vorbild. Hier wird der liberalen Wettbewerbskultur gehuldigt, der ewige Kampf als sozialdarwinistischen Naturgesetz gefiert. Die Illusion von gleichen Rechten und Regeln als Gerechtigkeit und Basis für Chancengleichheit sei, kann nur unter absurden Verrenkungen aufrecht erhalten werden. Im Sport werden die Menschen in Leitungsklassen und Ligen aufgeteilt und selbst Menschen mit körperlichen Einschränkungen dürfen sich im Kampf gegen sich selbst und andere beweisen. Jenseits des Sports gibt es diese Segregation in abgeschirmte Leistungsklassen aber nicht. Hier bestimmen unweigerlich die Herkunft und soziale Ausgangslage, welche realen Chancen man im Leben hat. Wer verliert, ist nicht zweiter Sieger oder steigt in eine untere Liga ab, er/sie erfährt die ganze Wucht der Ungleichheit. und weil das so ist, sind der ganze Liberalismus und die Marktwirtschaft, auch der Sozialliberalismus und die soziale Marktwirtschaft, asozial und verhindern lebendige Demokratie.

    • @DemokratischeZelleEins:

      ((gefiert ... sitzen Sie gerade in den Niederlanden?))



      Herkunft bestimmt bei Vermögen etwas mehr als die Hälfte, und das ist diese mehr als die Hälfte zu viel.

      Bei Sport sind es Gene, Entdecktwerden, Trainingsbedingungen und Trainingseifer. Keine schweren Verletzungen hilft auch.



      Eigentlich ist es seit den Griechen spielerische Erziehung zum Kriege, was mensch jetzt positiv oder negativ sehen mag. Immerhin mit Regeln, was der Krieg kaum hat. Leistung und Wettbewerb können dadurch auch mal gezähmt ausgelebt werden - manche brauchen's wohl, andere nicht.



      Das Athletentum heute mit Gladiatorens, die irgendwie für einen im Fernsehen sporten, verstehe ich auch nur halb.