Fragwürdiger Partner Israels: „In der Gefährlichkeit könnte er die Hamas übertreffen“
Netanjahus Regierung gibt Waffen an eine fragwürdige Miliz in Gaza. Das könnte Israelis wie Palästinensern schaden, mahnt Nahostexperte Jan Busse.

taz: Herr Busse, im Kampf gegen die Hamas bewaffnet die israelische Regierung offenbar eine zweifelhafte Miliz in Gaza um die kontroverse Figur von Yasser Abu Shabab. Wieso?
Jan Busse: Weil der Herrschaftsanspruch der Hamas in Gaza dadurch zumindest infrage gestellt wird. Und letzten Endes ist es der Versuch, einen Proxy zu schaffen – also einen Akteur, über den Israel eine gewisse Kontrolle ausüben kann. Ich glaube, dass Israel durch die Unterstützung dieser Gruppe den Versuch unternimmt, die Hamas zu schwächen. Aber eine militärische Schwächung dadurch ist unrealistisch.
taz: Warum?
Busse: Weil diese Bande der Hamas zahlenmäßig drastisch unterlegen ist. Laut Schätzungen soll sie um die 300 Mann stark sein. Bei der Hamas kann man davon ausgehen, dass es noch einige Tausend Kämpfer sind. Eine richtige Bedrohung könnten diese Akteure für die Hamas also nicht direkt darstellen.
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taz: Eine Art Divide-et-Impera-Strategie also. Heißt: teile und herrsche – der Versuch, die zu beherrschende Gruppe in Untergruppen aufzuspalten. Was könnten die Folgen sein?
Busse: Es besteht die Gefahr, dass sie sich am Ende in einer Nachkriegsordnung in Gaza etablieren. Das würde zu einer Fragmentierung der Kontrolle im Gazastreifen führen. Wenn so ein problematischer Akteur unterstützt wird, ist das Risiko da, dass sich die Gruppe irgendwann auch gegen Israel richtet und sicherlich keine Politik verfolgt, die auf Ausgleich und friedliche Verständigung ausgerichtet ist. Dies ist kein Akteur, der Israel direkt vor der Haustür haben möchte. In der Gefährlichkeit und ideologischen Ausrichtung könnte er die Hamas potenziell sogar übertreffen. Außerdem gibt es bei derartigen Gruppen keinerlei Legitimation durch die palästinensische Bevölkerung.
taz: Manche Beobachter sehen darin eine ähnliche Strategie wie die von Israel vor Jahrzehnten mit der Hamas, als Israel deren Gründer unterstützte oder zumindest tolerierte, um die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) im Zaum zu halten.
Busse: Es gibt viele Analysten, die eine Parallele zur Zeit der Entstehung der Hamas zeichnen. Und zwar, dass auch nach der Entstehung des militanten Islamismus im Gazastreifen etwa Mitte/Ende der 1980er Jahre, dies vorübergehend zumindest von israelischer Seite geduldet wurde, weil man den Eindruck hatte, dass dies zur Schwächung der PLO beiträgt.
taz: Und welche Auswirkungen könnte das auf die Palästinenser*innen haben?
Busse: Die Unterstützung solcher Gruppen ist auch dahingehend für die palästinensische Bevölkerung eine Gefahr, weil sie eben nicht vertrauenswürdig sind und keinesfalls in eine Position gebracht werden sollten, wo sie über die Verteilung von humanitärer Hilfe und die Gewährung von Sicherheit und Schutz entscheiden können.
taz: Aber das tun sie offenbar. Abu Shabab wirbt gerade damit, humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu erleichtern.
Busse: In den vergangenen Monaten haben wir von israelischer Seite immer wieder den Vorwurf gehört, wir könnten die humanitäre Hilfe nicht über die etablierten Kanäle, Vereinte Nationen und damit verbundene Hilfsorganisationen, in den Gazastreifen leiten, denn sie würden von der Hamas geplündert. Es gab jedoch keinerlei Belege laut Vereinten Nationen, dass das jemals systematisch passiert sei, Belege gab es allerdings dafür, dass genau diese Gruppe, die Israel jetzt unterstützt, an Plünderungen beteiligt war. Und dass israelische Truppen, die in der Nähe waren, nicht dagegen vorgegangen sind.
taz: Das klingt nach einer explosiven Mischung. Hat sich Israels Strategie im Gazastreifen in den letzten Monaten insgesamt verändert?
Busse: Seit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen im März hat Israel einen Strategiewechsel unternommen, und zwar gezielt auch zivile Vertreter der Hamas getötet. Nicht nur Anhänger der Qassam-Brigaden, sondern auch Vertreter des Innenministeriums oder der Polizei – also diejenigen Akteure, die für das Regieren im Gazastreifen verantwortlich sind. Und die Idee dahinter ist, dass die Hamas nicht mehr in der Lage sein soll, dort zu regieren. Vor diesem Hintergrund sehe ich auch die Unterstützung dieser bewaffneten Bande.
taz: Teilweise hat man jedoch den Eindruck, dass es auf israelischer Seite gar keine Strategie mehr gibt in diesem Krieg.
Busse: Eine Strategie gibt es nur in sehr begrenzter Form. Ein Element ist, dass die Kriegsführung seit Ende März massiv verschärft worden ist. Weil man das Gebiet langfristig halten und kontrollieren möchte. Aber die letzten anderthalb Jahre haben gezeigt, dass es nicht so leicht ist, die Hamas zu bekämpfen. Es scheint, wenn, dann nur dann möglich, wenn man bewusst völkerrechtswidrig den Tod von Zivilisten in Kauf nimmt.
taz: Warum ist es so schwierig, die Hamas zu schlagen?
Busse: Man hat gesehen, dass die Hamas in der Lage war, getötete Kämpfer durch neue zu ersetzen. Was letzten Endes nur möglich war, weil es keinerlei politische Perspektive gibt, die der Hamas den Zulauf entziehen könnte. Keine Aussicht auf Waffenstillstand, keine Aussicht auf Frieden. Und aktuell das Vorenthalten humanitärer Hilfe, um Druck auf die palästinensische Bevölkerung auszuüben – was völkerrechtlich als rechtswidrige Kollektivstrafe gelten kann. Das alles spielt der Hamas in die Hände.
taz: Jetzt scheint es aber eine neue Perspektive zu geben: Trumps Vorstoß über eine Vertreibung der Bewohner*innen Gazas.
Busse: Der israelische Premierminister betont immer wieder, dass er Trumps Vorschlag für eine gute Idee hält. Da muss man aber betonen, dass es ein massiver Bruch des Völkerrechts wäre. Es kann auch sein, dass der Versuch unternommen wird, mithilfe dieser Bande um Abu Shabab einen Beitrag zu leisten zur Umsiedlung der palästinensischen Zivilbevölkerung in den südlichsten Teil des Gazastreifens. Diese Gruppe hatte neulich über Facebook die Bevölkerung dazu aufgerufen: „Kommt dorthin, dort seid ihr sicher.“ Klar ist, dass die israelische Regierung vermeiden will, dass die Palästinensische Autonomiebehörde im Gazastreifen die Kontrolle übernimmt.
taz: Wieso will die israelische Regierung nicht, dass die Palästinensische Autonomiebehörde die Kontrolle in Gaza nach einem Ende des Krieges übernimmt?
Busse: Der Grund liegt darin, dass die aktuelle israelische Regierung einen unabhängigen palästinensischen Staat ablehnt und Maßnahmen, die die Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde stärken könnten, unbedingt unterbinden will.
taz: Welche Folgen könnte dann eine Fortsetzung des Kriegs ohne Ende in Sicht haben?
Busse: Einerseits eine weiter steigende Zahl von zivilen Getöteten, andererseits, wenn die Hilfe weiter vorenthalten wird, werden wir früher oder später akute Hungersnot mit zahlreichen Hungertoten erleben. Und das ist dann etwas, dass Israel völkerstrafrechtlich zugerechnet wird. Es könnte dazu führen, dass Israel insbesondere im Globalen Süden, aber auch darüber hinaus, weiter an Ansehen verliert. Politisch mangelt es seit Kriegsbeginn an einer klaren Zielsetzung. Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner hoffen auf die Wiederbesiedlung des Gazastreifens. Zudem stehen die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der Geiseln im Widerspruch zueinander. Der Großteil der Geiseln kam durch Verhandlungen frei, aber Netanjahu hat zugestanden, dass deren Befreiung für ihn keine Priorität hat. Die Bedrohung Israels durch die militärischen Fähigkeiten der Hamas ist kaum noch vorhanden, aber da es seitens Netanjahu keinen Plan für die Nachkriegszeit gibt, wird der Krieg fortgesetzt.
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