Folgen der Inflation in Ostdeutschland: Es reicht einfach nicht
Die hohen Preise bereiten Millionen Menschen Existenzprobleme. Besonders hart trifft es Ostdeutschland, wo Löhne und Renten noch immer niedriger sind.
Schon bevor alltägliche Dinge so teuer geworden sind, war es für Backhaus schwer, mit dem Geld bis zum Monatsende hinzukommen. „Aber es ging noch so gerade“, sagt die 40 Jahre alte Leipzigerin, die ihren echten Nachnamen für sich behalten möchte. „Ich habe immer so gehaushaltet, dass wir uns auch mal etwas gönnen konnten, einen Besuch im Kino oder im Zoo.“ Das sei nun nicht mehr möglich.
Die Inflation trifft die kleine Familie hart. Backhaus kann nicht mehr einfach kochen, worauf sie und Nele Lust haben. Was es zum Mittagessen gibt, macht sie nun davon abhängig, welche Lebensmittel gerade im Angebot sind. Butter, oder wie Backhaus sagt, „das kleine Stück Gold“, hat sie längst durch Margarine ersetzt, Eier, Milch und Käse kauft sie nur noch in kleinen Mengen ein. „Ich esse dann weniger davon, damit Nele mehr hat, ihr soll es an nichts fehlen“, sagt die Mutter. Ihr ist es wichtig, dass ihre Tochter nicht ständig spürt, wie knapp das Geld ist.
So wie Familie Backhaus stellen die stark gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise Millionen von Menschen in Deutschland vor existenzielle Probleme. Hartz-IV-Empfänger:innen, Rentner:innen, Studierende, Auszubildende, Menschen mit geringem Einkommen – für sie alle ist es nun noch schwieriger, über die Runden zu kommen, als ohnehin schon. Dabei steht die Nebenkostennachzahlung für 2021, als Gas- und Heizöl auch schon teuer waren, noch aus.
Entlastungen reichen nicht
Als Reaktion auf die enormen Preiserhöhungen hat die Bundesregierung bisher drei Entlastungspakete verabschiedet. Das jüngste sieht unter anderem finanzielle Hilfen für Rentner:innen und Studierende vor – zwei Gruppen, die in den ersten beiden Paketen nicht berücksichtigt wurden. Die Kritik an der Ampelkoalition reißt trotzdem nicht ab. Verdi-Chef Frank Werneke bemängelte etwa, dass in dem Paket Zahlungen für Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen fehlten.
Ebendiese Menschen, die ein bisschen mehr Geld als Hartz-IV-Empfänger:innen haben, aber längst keine Besserverdiener:innen sind, leiden besonders stark unter den explodierenden Preisen. Das liegt daran, dass sie die Heizkosten inklusive Gasumlage alleine zahlen müssen – im Gegensatz zu Menschen, die Hartz-IV beziehen. Für sie übernimmt das Jobcenter die Heizkosten.
Eine weitere soziale Schieflage angesichts der Inflation offenbart sich beim Ost-West-Vergleich. Die hohe Teuerungsrate trifft Ostdeutsche besonders hart – denn auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung verdienen Erwerbstätige im Osten nach wie vor deutlich weniger als im Westen: Sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte in Westdeutschland erhielten 2019 ein mittleres Monatseinkommen von 3.526 Euro brutto, im Osten waren es 2.827 Euro – also 700 Euro weniger, wie die vorige schwarz-rote Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion mitgeteilt hat.
Außerdem verfügen Ostdeutsche über deutlich weniger Vermögen als Westdeutsche und auch die gesetzlichen Renten sind im Osten niedriger: Im Schnitt erhalten Ostdeutsche, die mindestens 40 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, 176 Euro pro Monat weniger als westdeutsche Rentner:innen mit den gleichen Voraussetzungen.
Lebenshaltungskosten fast auf dem selben Niveau
Beschwichtigen soll oft das Argument, die Lebenshaltungskosten in den neuen Bundesländern seien niedriger, dadurch sei der Unterschied bei der Kaufkraft am Ende gar nicht so groß. Doch die Preise haben sich laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) inzwischen „weitgehend angeglichen“. Und selbst wenn die geringen, noch existenten regionalen Preisunterschiede eingerechnet werden, liegt das Einkommen im Osten immer noch 12 Prozent unter dem im Westen, schreibt die Hans-Böckler-Stiftung in einer aktuellen Studie.
Iris Wolfram ärgert sich darüber, dass Arbeitnehmer:innen in den ostdeutschen Ländern immer noch weniger verdienen. Die 64-jährige Rentnerin hat ihr Leben lang im thüringischen Jena als Verkäuferin gearbeitet – immer auf Mindestlohnbasis. Nun bekommt sie 1.200 Euro Rente.
Um sich etwas dazuzuverdienen, arbeitet Wolfram aber noch 16 Stunden im Monat in einem Bekleidungsgeschäft. „Mir geht es finanziell deutlich besser, seit ich im Ruhestand bin“, erzählt Wolfram. „In den letzten Jahren vor der Rente hatte ich nach Abzug aller Fixkosten nur 200 Euro im Monat zum Leben.“ Über die Runden sei sie in dieser Zeit nur gekommen, weil sie einmal pro Woche bei der Tafel eingekauft und im Garten ihres Vaters Gemüse angebaut habe.
Belastungen durch die Heizkosten kommen erst noch
Wolfram, die sich selbst als sehr sparsam bezeichnet, hat sich für die Wintermonate vorgenommen, „noch mehr Energie“ als ohnehin schon zu sparen. So wolle sie sich zum Beispiel eine Jacke in der Wohnung anziehen, statt die Heizung hochzudrehen, kürzer duschen und das Licht nur dann einschalten, wenn es draußen dunkel ist. Bisher merke sie von den drastisch gestiegenen Energiepreisen aber noch nichts, sagt Wolfram. „Die Nebenkostenabrechnung kommt ja erst noch.“
Aus diesem Grund habe sich die Anzahl ihrer Klient:innen auch noch nicht erhöht, sagen Clemens Bech und Gudrun Dietz von der Schuldnerberatung der Caritas Leipzig. „Die Leute kommen erst dann zu uns, wenn wirklich gar nichts mehr geht, wenn sie sich schon Geld bei Freund:innen oder der Familie geliehen haben und es trotzdem nicht reicht“, erklärt Dietz. Die beiden rechnen daher erst Anfang des nächsten Jahres mit einem Zuwachs an Klient:innen. Was Dietz und Bech aber schon heute beobachten: Viele Schuldner:innen könnten keine Raten mehr zahlen, weil die Lebensmittel so teuer geworden sind.
Normalerweise raten sie jeder Person, die zu ihnen kommt, monatlich Kleinstbeträge zur Seite zu legen. „Das Problem ist: Die allermeisten können das wegen der hohen Inflation nicht, es bleibt am Ende des Monats einfach nichts übrig“, sagt Bech. Auch Energiesparen sei für arme Menschen schwierig, weil sie es sich nicht leisten könnten, ihren alten Backofen oder Kühlschrank gegen ein stromsparendes Modell auszutauschen.
Letzter Ausweg: die Tafeln
Doch was tun, wenn man spart, wo es nur geht, das Geld aber trotzdem nicht reicht? Dann bleibe oft nur noch eine Möglichkeit, sagt Gudrun Dietz: „Zur Tafel gehen.“ Und das machen in Deutschland so viele wie nie zuvor: Mehr als zwei Millionen Menschen müssen ihre Lebensmittel bei der Tafel kaufen.
Die Zahl der Kund:innen ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und den damit verbundenen Preissteigerungen stark gestiegen, wie aus einer aktuellen Umfrage des Dachverbands Tafel Deutschland hervorgeht: Demnach verzeichnet fast ein Drittel der Tafeln eine Verdopplung der Kundenzahl, 9 Prozent der Filialen melden sogar mehr als doppelt so viele Kund:innen wie vor dem Krieg. Weitere 61 Prozent haben einen Anstieg von bis zu 50 Prozent erfasst.
Fragt man bei einzelnen Tafeln im Osten nach, wie sie mit der erhöhten Nachfrage zurechtkommen, wird schnell klar: Die Lage ist ernst. In Weimar und in Magdeburg etwa können Kund:innen jetzt statt wie bisher zwei Mal wöchentlich nur noch ein Mal pro Woche bei der Tafel einkaufen. Gehe der Anstieg so weiter, müsse die Weimarer Tafel über einen Aufnahmestopp nachdenken, erklärte ein Sprecher.
Tafeln selbst sind von der Inflation betroffen
In Jena wiederum hat man eine Warteliste für neue Kund:innen eingeführt. Der dortige stellvertretende Tafel-Vorsitzende Manfred Müller nimmt eine wachsende Nachfrage vor allem von Rentner:innen, Geringverdiener:innen und Studierenden wahr. Außerdem bemerke er, dass sich der Lebensmittelbedarf der Kund:innen erhöht habe.
Doch nicht nur die Tafel-Kund:innen litten unter den drastisch gestiegenen Energiepreisen. Auch die Tafel selbst spüre die Teuerungen. Der Strom für die Kühlung, der Sprit für die vier Fahrzeuge – alles koste mehr, erklärt Müller. „Diese Entwicklung bringt unsere finanzielle Situation in eine gefährliche Schieflage.“
Er blicke mit Angst in die Zukunft, sagt der Jenaer Tafel-Vizechef. „Wir beobachten ein starkes Anwachsen der Bedürftigkeit und eine zunehmende Unsicherheit und Unzufriedenheit unter den Bedürftigen.“ Entsprechend enttäuscht ist er von der Bundesregierung. Die Erhöhung der Bezüge um rund 50 Euro, die Hartz-IV-Empfänger:innen ab Januar im Zuge des neuen Bürgergelds bekommen, sei zu gering, um die Inflation auszugleichen.
Müller befürchtet, dass die Entscheidung der Regierung, „die Grundsicherungsleistungen nicht an die wahren Bedürfnisse der Menschen anzupassen“, gefährliche Folgen haben werde. Diejenigen, die sich jetzt im Stich gelassen fühlen, würden bei den nächsten Wahlen „nicht nur im Osten Deutschlands überwiegend rechte Parteien wählen“, vermutet er.
Claudia Backhaus, die alleinerziehende Mutter aus Leipzig, sagt, ihr hätten die Hilfen aus dem zweiten Entlastungspaket – etwa der einmalige Kinderbonus von 100 Euro sowie die 200 Euro für Sozialhilfe-Empfänger:innen – „schon geholfen“. Einmalzahlungen reichten aber auf Dauer nicht aus. „Das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“, stellt Backhaus klar. „Solche Zuschüsse bräuchten Nele und ich jeden Monat, um gut leben zu können.“
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