piwik no script img

Flutkatastrophe in LibyenWahrheit und Wut nach der Flut

Nach der Flutkatastrophe demonstrieren Anwohner in Darna. Indes wird immer deutlicher, dass vor der Gefahr eines Dammbruchs gewarnt wurde.

Protest vor der Sahaba-Moschee in Darna am Montag Foto: Zohra Bensemra/reuters

Tunis taz | Während internationale Suchtrupps und Freiwillige der Hilfsorganisation Libyscher Halbmond in den Trümmern der Hafenstadt Darna weiter nach Überlebenden suchen, verwandelt sich die Apathie der Überlebenden in Wut. Am Montagnachmittag protestierten in der Stadt mehrere hundert Bürger gegen das in Ostlibyen tagende Parlament und dessen Vorsitzenden Aguila Saleh.

Die seit 2016 ohne Mandat tagenden Parlamentarier haben bisher weder einen Notfallplan vorgelegt noch öffentliche Solidarität mit den Opfern der Flutkatastrophe vom 11. September gezeigt. Saleh hatte vergangene Woche sogar kategorisch jede Möglichkeit menschlichen Versagens ausgeschlossen. Im selben Atemzug forderte der 79-Jährige die Zentralbank auf, den zukünftigen Wiederaufbaufond auf die Konten den Parlaments zu überweisen.

Seitdem geht ein Sturm der Entrüstung durch das Land. Denn die Indizien mehren sich, dass die 2012 bezahlte Wartung und Verstärkung der beiden Dämme oberhalb Darnas, die am Sonntag brachen, nie durchgeführt wurde. Zudem hatten die Behörden laut Aussagen von Menschen vor Ort zufolge offenbar Stunden vor der Flutwelle abgesetzte Warnungen von Anwohnern ignoriert.

Nachdem am Samstag so viel Regen wie normalerweise in einem Jahr gefallen war, verließen die Bewohner der Dörfer rund um den Stausee panikartig ihre Häuser. Sie teilten den Behörden in Darna mit, dass sie wegen der immensen Niederschlagsmenge mit einem bevorstehenden Kollaps der Dämme rechnen.

Doch wegen des tobenden Sturmtiefs und einer angeblich zuvor erlassenen Anweisung, die Häuser nicht zu verlassen, blieben die meisten Einwohner zu Hause. Sie rechneten mit einem erhöhten Meeresspiegel, aber nicht mit einer von den Bergen kommenden, 12 Meter hohen Flutwelle. Dabei belegt eine in den letzten Tagen aufgetauchte Studie der Anti-Korruptionsbehörde in Tripolis, dass die Gefahr, die vom Stausee „Wadi Darna“ ausging, schon länger bekannt war.

„Verräter müssen hängen“

In sozialen Medien ist mittlerweile eine Bewegung entstanden, die der Korruption, dem Diebstahl öffentlicher Gelder und dem Machtmissbrauch der Politiker ein Ende setzen will. Parolen wie „Das Volk will, dass das Parlament fällt“, „Aguila ist der Feind Gottes“ oder „Diebe und Verräter müssen hängen“ wurden von der Menge in Darna am Montag skandiert.

Darna am Dienstag: Vor einem Begräbnis in einem Massengrab werden die Leichen desinfiziert Foto: Esam Omran Al-Fetori/reuters

Ein Sprecher mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen verlas vor der Gemeindeverwaltung eine Erklärung, in der „eine rasche Untersuchung und rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen für die Katastrophe“ gefordert wurde. Die in Darna traditionell stark vertretene Zivilgesellschaft fordert zudem die Präsenz der Vereinten Nationen in der Stadt, um den Wiederaufbau und Entschädigungszahlungen für die Betroffenen zu überwachen.

Schon lange kursieren bisher unbewiesene Vorwürfe, dass der am Wochenende entlassene Bürgermeister Abdulmoneim al-Ghaithi Haushaltsgelder auf seine Privatkonten umgeleitet habe. Am Montagabend brannten die Protestler dann das Privathaus al-Gaithis nieder. Der in Ostlibyen regierende Premierminister Osama Hamad entließ am Dienstag dann auch den Stadtrat von Darna.

„Die Entlassungen und die von der Regierung in Tripolis angekündigte Untersuchung der Verantwortlichen wird zu keinem Resultat führen“, gibt die Aktivistin Lobna Almustari die Meinung vieler in der Stadt wieder. Viele der Demonstranten waren Angehörige von Flutopfern. Tausende Häuser waren am 11. September, teilweise mitsamt ihren Bewohnern, unter Schlamm begraben oder gänzlich ins Mittelmeer gespült worden.

Warnungen gab es viele

Experten hatten seit Jahren vor der strukturellen Integrität der Zwillingsdämme in Darna gewarnt, bestätigt mittlerweile auch die libysche Staatsanwaltschaft in Tripolis. Die Bedenken bestehen seit 1986, als die Dämme nach einem heftigen Sturm schwer beschädigt wurden. Aber auch schon zuvor, im Jahr 1959, waren mehrere Hundert Menschen bei einer Flutkatastrophe gestorben. Jugoslawische Ingenieure konstruierten in den späten 1970er Jahren die Staudämme oberhalb von Darna neu.

Der libysche Generalstaatsanwalt Al-Siddiq al-Sour erklärte am Montag, dass eine 1998 von der libyschen Regierung beauftragte Studie die Risse und Spalten in den Dammstrukturen aufzeigte. 2007 wurde die türkische Firma Arsel Construction Company mit der Instandhaltung der beiden Dämme und dem Bau eines dritten Dammes beauftragt.

Laut der Website des Unternehmens wurden die Arbeiten im November 2012 abgeschlossen, doch Satellitenfotos zufolge und laut Aktivisten in Darna wurde der geplante dritte Sicherheits-Damm nie gebaut. Nach der Flut vom vorvergangenen Sonntag ist die Webseite von Arsel nicht mehr abrufbar.

Ein Bericht der staatlichen technischen Prüfbehörde in Tripolis besagt, dass 2012 und 2013 rund zwei Millionen US-Dollar für die Instandhaltung der Zwillingsdämme überwiesen wurden. Der Bericht aus dem Jahr 2021 besagt, dass die beiden existierenden Dämme sogar nie gewartet wurden.

„Die landesweite Solidaritätswelle mit Darna könnte sich schon bald gegen die politische Elite wenden“, sagt einer Protestierenden in Darna der taz am Telefon. Wie ernst die Behörden die Wut nehmen, zeigt ein Ultimatum an nach Darna gereiste libysche und internationale Journalisten. Diese sollen die Stadt bis Dienstagmittag verlassen, berichtete der TV-Sender al-Hadath am Dienstag.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare