Flucht in der Ukraine: Alltag eines Krieges
Millionen Ukrainer sind zurzeit auf der Flucht. Journalistin Wiktoria Powerschuk musste zweimal ihre Heimat im Osten des Landes verlassen.
Der 24. Februar 2022 begann für mich als Journalistin, wie für alle Ukrainer*innen, nicht mit einem Kaffee. Stattdessen rief meine Tante an: „Wika, steht auf. Die Russen haben uns angegriffen, Kiew wird bombardiert!“
Der Krieg selbst hatte für mich aber bereits Jahre vorher begonnen. Genauer gesagt: am 12. April 2014 um 10 Uhr morgens angefangen, ebenfalls mit einem Anruf, diesmal von meiner Mutter: „Ich bin gerade gegenüber vom Gebäude des SBU (ukrainischer Geheimdienst, Anm. d. Red.). Hier laufen Leute in Tarnanzügen herum, ohne Abzeichen. Ich habe gefragt, wer sie seien, und einer sagte: Wir sind gekommen, um euch vom Rechten Sektor (rechtsextreme Organisation, Anm. d. Red.) zu befreien. Ich verstehe gar nichts mehr.“
Damals studierte ich im dritten Jahr an der Akademie für Maschinenbau in der Nachbarstadt Kramatorsk und fuhr unter der Woche mit dem Bus zu den dortigen Kursen. Ich wollte Softwareentwicklerin werden, war jedoch auch schon in der Mediengruppe der Hochschule aktiv. Ich haderte noch mit meiner Berufswahl. Doch der Krieg räumte alle Zweifel aus.
Die damalige Bürgermeisterin von Slowjansk Nelja Schtepa nannte die prorussischen Terroristen „unsere Jungs“ und gab die Stadt faktisch auf. Ein „Volksbürgermeister“ wurde ernannt. Die Terroristen verhielten sich fast so wie die russischen Truppen jetzt: Angriffe auf Wohnviertel, Plünderungen, Folter und Mord.
„Im Zentrum wird geschossen, was sollen wir tun?“
Die ersten anderthalb Wochen der Besetzung war es in Slowjansk jedoch relativ ruhig. Überall gab es Kontrollpunkte mit russischen Fahnen und Plakaten über die Gründung der sogenannten Donezker Volksrepublik (DNR). An den Kontrollpunkten standen Leute in grünen Tarnuniformen mit zwielichtigen Gestalten, denen Waffen ausgehändigt wurden. Einige Bewohner ließen sich freudig mit den Kämpfern fotografieren. Auch Abgeordnete arbeiteten mit den Separatisten zusammen, Einheimische halfen mit, das Referendum über die DNR zu organisieren. Ukrainische Flaggen verschwanden von den Straßen. Als das Wappen der Ukraine vom Gebäude des Stadtrates von Slowjansk abgenommen wurde, zog sich in mir alles zusammen.
Eine Zeit lang besuchte ich noch Kurse in Kramatorsk, bis zu jenem Tag, als meine Mutter aus Slowjansk anrief: „Im Zentrum wird geschossen, was sollen wir tun?“ Ich hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Ich muss jetzt zu ihr. Ob ich verletzt werden oder von einem Querschläger getroffen würde, war mir egal. Erstmals hatte ich wirklich Angst um das Leben eines geliebten Menschen. Ich nahm also gleich den nächsten Bus nach Slowjansk.
Auf den dortigen Straßen wurde es nun immer gefährlicher. Betrunkene Terroristen plünderten und nahmen Leute mit proukrainischen Meinungen fest. Dann kündigte die Ukraine den Beginn einer antiterroristischen Operation (ATO) an. Viele dachten, dass in ein paar Wochen alles vorbei sein würde. Niemand hatte geahnt, dass uns ein mehr als achtjähriger Krieg bevorstand.
Mit der Zeit veränderte die Stadt ihr Aussehen – zu den Kontrollpunkten kamen beschädigte Gebäude hinzu, die Versorgung mit Lebensmitteln kam zum Erliegen, staatliche Einrichtungen, Banken und Geldautomaten funktionierten nicht. Lustige Fotos mit den Besatzern machte niemand mehr, obwohl viele noch glaubten, dass die ukrainische Armee an allem schuld sei und ukrainische Soldaten Wohnviertel beschießen würden.
Schweres Militärgerät lässt die Wände erzittern
Während der Besatzung von Slowjansk dachte ich nicht daran, weiter journalistisch zu arbeiten. Am wichtigsten war es, das dritte Studienjahr zu beenden und die Prüfungen zu bestehen. Deshalb zog ich so lange in das Wohnheim der Akademie in Kramatorsk. In die Nachbarstadt Slowjansk zu fahren ging inzwischen nicht mehr. Die Verbindungsstraße war stark umkämpft. Für die Strecke brauchte man normalerweise nicht mehr als 20 Minuten, jetzt dauerte es zwei Stunden. Zwischen den Prüfungen versuchte ich die Nachrichten zu verfolgen. Als ich eines Tages das Gebäude der Akademie verließ, donnerten drei Kampfjets über mich hinweg. Ich dachte nur: So etwas habe ich bisher nur im Kino gesehen.
Nach meinen Prüfungen konnte ich nicht nach Slowjansk zurückkehren – zu gefährlich, sagten meine Eltern. Doch auch in Kramatorsk wurde es eng: Geldautomaten funktionierten nicht, Banken waren geschlossen. Auch das Stipendium wurde nicht ausgezahlt. Mir ging schnell das Geld aus, schließlich auch die Lebensmittel. Sich Geld zu leihen war auch keine Option, denn niemand wusste, wie es weitergehen würde. Schließlich half ein Freund meiner Mutter aus – er gab mir und meinem Bruder 400 Griwna (umgerechnet ungefähr 13 Euro).
Dann rief meine Mutter an: „Heute verlassen wir die Stadt. Wohin, keine Ahnung. Aber wir werden euch beide irgendwo abholen“, sagte sie. Wir kauften Reis, Haferflocken, Zucker und schwarzen Tee. Und warteten, gefühlt eine Ewigkeit. Dann ein Anruf: „Fahrt nach Swjatogorsk.“ Wir brauchten drei Stunden, ständige Explosionen begleiteten uns. Dort übernachteten meine Familie und ich in der Garage eines Bewohners – für 30 Griwna (umgerechnet ungefähr 1 Euro) pro Person. Schließlich landeten wir in einem Dorf namens Tschurowo. Wir lebten mitten im Wald, auf dem Gelände einer Ferienanlage. Es war kalt und es regnete fast jeden Tag.
Eines Nachts kam der Direktor und sagte: „Alle müssen sich im Keller verstecken, fragt nicht, warum.“ Bis vier Uhr morgens saßen wir in diesem Keller. Im Halbschlaf hörte ich das Donnergrollen von schwerem Militärgerät, das die Wände erzittern ließ. Am nächsten Morgen trafen wir eine Entscheidung: Kiew.
Hoffnung nach der Befreihung von Slowjansk
In Kiew wurden wir in einem Sanatorium untergebracht. Ich nahm einen Job als Gärtnerin an. Das gefiel mir: frische Luft abseits der Stadt, malerische Natur, ein Minimum an Unterhaltung mit Menschen, deren immer gleiche Fragen ich damals am allerwenigsten hören wollte. Am späten Nachmittag kehrte ich in meine provisorische Unterkunft zurück – müde, aber das lenkte mich ab von der Sorge um meine Heimatstadt und dem endlosen Scrollen durch Nachrichtenseiten. So ging das den ganzen Sommer 2014. Die Befreiung von Slowjansk am 5. Juli 2014 war für mich eine unerwartet gute Nachricht. Hoffnung keimte auf, dass alle prorussischen Kämpfer aus unserem Land vertrieben werden würden.
Als ich im August 2014 nach Slowjansk zurückkehrte, begann ich als Journalistin zu arbeiten. Damals wusste ich nicht, dass die Ereignisse bei uns nur ein Vorspiel dessen waren, was die ganze Ukraine im Jahr 2022 erwartete. Mit der Invasion am 24. Februar hörte für mich die Kategorie Zeit auf zu existieren. Um 6 Uhr morgens, nach dem besagten Anruf meiner Tante, kontaktierte ich meine Kollegen, und wir beschlossen, von zu Hause aus weiterzuarbeiten.
Alles verschmolz von nun an zu einem einzigen zähen Tag mit kurzen Schlaf- und Essenspausen. Ich wachte frühmorgens auf und begann sofort, Artikel und Nachrichten zu schreiben. Manchmal verließ ich erst spät nachts den Computer. Ich schlief meist nur vier Stunden, doch auch im Schlaf quälten mich Albträume mit Bildern des Krieges. Nachdem ich morgens die neuesten Meldungen zum Krieg gelesen hatte, konnte ich nichts essen. Allein der Geruch und Anblick machten mich krank.
Während ich noch in Slowjansk war, hatte ich daher neben der Arbeit noch zwei weitere Aufgaben: mir einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht vor dem Sieg an Erschöpfung zu sterben.
Die zweite Flucht vor der russischen Invasion
Immer häufiger gab es nun Luftalarm. Auch die Angst wurde größer. Mit meiner Mutter und einigen Nachbarn richtete ich den Keller her. Wir brachten Wachstücher, Pappen, Matratzen, Kissen, Decken, Wasser, Verbandskästen und Snacks dorthin.
Schon als die Explosionen von Weitem zu hören waren, ging ich nicht mehr auf die Straße. 20 Tage verließ ich die Wohnung nicht. Meine Kollegen und ich schrieben ununterbrochen Meldungen und sammelten nützliche Informationen und Kontakte für die Anwohner. In Slowjansk trafen die ersten Evakuierungszüge ein, doch viele wollten nicht einsteigen – hier sei es doch noch sicher, sagten sie.
Auch ich selbst wollte nirgendwo hinfahren. Nach mehreren heftigen Explosionen in Kramatorsk und Bombenangriffen auf die Infrastruktur änderte sich das. Den Ausschlag für die Entscheidung, zu gehen, gab letztendlich der Anruf einer entfernten Bekannten um 11 Uhr abends. Meine Mutter hatte den Kontakt zu ihr abgebrochen, da diese Frau sehnsüchtig darauf wartete, dass „die Russen Kramatorsk endgültig befreien“. Wo ich sei und ob ich immer noch als Journalistin arbeiten würde, wollte sie wissen. Innerhalb einer Stunde packte ich meine Koffer. Dann tüftelten wir in der Redaktion einen Evakuierungsplan aus.
Tags darauf verließen ich und meine Kollegen mit drei Autos Slowjansk. Nach zwei Tagen erreichten wir nachts die westukrainische Stadt Czernowitz. Mein Körper zitterte von den Strapazen der langen Fahrt und vor Angst.
Pläne für die Zeit „nach dem Sieg“
Am nächsten Morgen raffte ich mich auf, machte mich frisch und schrieb wieder Meldungen und Artikel. Was hätte ich sonst tun sollen? Die Struktur meines Lebens war zum zweiten Mal zusammengebrochen, und ich musste sie erneut aufbauen.
Seit ich in Czernowitz eine Wohnung gefunden habe, verläuft mein Leben allmählich wieder in vertrauten Bahnen. In meinen Mittagspausen esse ich in einem Café, am Wochenende mache ich Ausflüge, gehe spazieren oder in die Philharmonie. Ich koche mir etwas Leckeres, zeichne, lese ein Buch oder sehe mir einen Film an. All diese kleinen Dinge bedeuten für mich eine Rückkehr ins Leben. Manchmal habe ich deswegen Schuldgefühle. Doch dann sage ich mir: Warum etwas im Leben aufschieben, wo doch niemand weiß, wie das Morgen aussehen wird? Jetzt ist heute, koste alles aus!
Natürlich mache ich Pläne für die Zeit „nach dem Sieg“: in verschiedene Länder reisen, auf Musikfestivals gehen, mir ein Tattoo stechen lassen, meine Freunde sehen, nachts an der Schwarzmeer-Küste sitzen. Aber das alles wird es erst geben, wenn wir gewonnen haben. Bis dahin habe ich mein „Heute“…
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin