Flucht aus der Ukraine: Vier Personen auf zwei Sitzen

Der Zug von Warschau nach Berlin ist voll. Es zeigt sich, dass der Exodus aus der Ukraine eine Bewegung von Müttern, Kindern und Haustieren ist.

Blick in geöffnete Zugtüren, hinter denen Frauen im Gang stehen.

Zug voller Flüchtlinge aus der Ukraine bei einem Stopp in Frankfurt/Oder Foto: Soeren Stache/dpa

WARSCHAU/BERLIN taz | „Give Peace a Chance“ ist das letzte, das wir von Warszawa Centralna sehen. Der Satz flimmert in Rosa in der Leuchtwerbung eines italienischen Kleiderdesigners in der Mitte von Bahnsteig drei. Wir drängeln uns in Wagen Nummer 269 des EC nach Berlin. Der Zug ist voll. Auf zwei Sitzplätze kommen vier Personen.

Fast alle Mitreisenden haben eine mehrtägige Odyssee in abgedunkelten Zügen durch die Ukraine hinter sich. Gefolgt von stundenlangem Schlangestehen vor polnischen Schaltern, an denen es Gratis-Fahrkarten gab. Gefolgt von einer Nacht auf dem schwarzen Fliesenboden von Centralna, wo allenfalls Yogamatten und Decken vor der Kälte schützten.

Die Erwachsenen haben geschwollene Augen. Die Kinder klammern sich an Eltern und Großeltern. Aus tragbaren Käfigen, die auf der Gepäckablage stehen, kommt Miauen und Jaulen.

Der Exodus aus der Ukraine ist eine Bewegung von Müttern. Das unterscheidet ihn von anderen Fluchten, die von jungen Männern dominiert werden. Anders ist auch, dass diese Reise zu großen Teilen im Zug stattfindet. Und dass außer den Frauen und Kindern auch jede Menge Haustiere dabei sind.

Flüchtlingslaptop für die Kundenabrechnung in Dnipro

Kurz vor Abreise des Zugs habe ich im Obergeschoss von Centralna die zwölfjährige Nastia getroffen. „Meine Mutter hat mich und Kleopatra“, sagte das Mädchen. Dabei hätschelt sie ihre Siamkatze und ihre 44-jährige Mutter Ilona hält den Rollkoffer fest umklammert.

Außer zwei Paar Hosen und T-Shirts für beide enthält der Koffer einen Laptop für die Tochter, damit sie weiter am Schulunterricht teilnehmen, und einen Laptop für die Mutter, damit sie aus der Ferne die Lohnabrechnung für ihre Kunden in Dnipro machen kann. Die Mutter findet vor Erschöpfung kaum Worte. Sie ist sicher, dass die Russen in „zwei bis drei Wochen weg und der Krieg vorbei“ sein werden.

Während ich am Rand der Schlafstelle von Mutter und Tochter knie und Notizen mache, fällt mir auf, dass kaum jemand um mich herum einen Mund-Nasenschutz trägt. „Wir sind auch nicht geimpft“, sagt Ilona: „Wir wollen das nicht“.

In dem Großraumwagen bin ich eine von maximal vier Personen, die eine Maske trägt. Zugleich eine der wenigen mit einer Platzreservierung. Der Mann, dessen Platz ich reserviert habe, sieht jünger aus als ich. Die Frau, die ihre Ellbogen einsetzt, um sich auf meinen Sitz zu schieben, während ich mich bei ihm entschuldige, ist ebenfalls jünger. Zum Glück haben beide keine Kinder auf dem Schoß.

Erstaunliche Ruhe in dem dicht gedrängten Waggon

Die Reise soll sechs Stunden dauern. Noch wissen wir nicht, dass wir sehr viel länger unterwegs sein und erst kurz vor Mitternacht im Berliner Hauptbahnhof einfahren werden. In dem dicht gedrängten Waggon ist es erstaunlich ruhig. Die Reisenden mit Sitzplätzen dösen. Viele haben Kinder auf dem Schoß.

Flüsternd tauschen sich zwei Frauen im Gang darüber aus, wie sie am 24. Februar zum ersten Mal das Wort „Krieg“ aus dem Mund ihrer Kinder hörten. Seither hat eine der beiden deutsch zählen gelernt. Sie schafft es bis 39. Die andere kann schon „Dankeschön“ sagen. Zu ihren Füßen schläft zusammengekauert ein kleiner Junge im Gang.

Schaffner kommen auf der langen Fahrt nur einmal in den Wagen. Fahrkarten wollen sie nicht sehen. Stattdessen bieten sie zusätzliche Sitzplätze am Ende des Zuges an. Zahlreiche Frauen mit Kindern, Haustieren und Rollkoffern folgen ihnen.

Doch schon in Konin, beim nächsten Halt des Zuges, füllt sich der Gang erneut mit Flüchtlingen. Bei jedem Halt kommen auch Körbe mit Wasserflaschen und belegten Broten in unsere Wagen. Sie werden über unseren Köpfen weitergereicht.

Deutsche Grenzbeamte interessiert nur der US-Pass

An der deutsch-polnischen Grenze kommen zwei deutsche Polizisten in den Wagen. Sie wollen die Pässe sehen. Auf die ukrainischen, die ihnen entgegengehalten werden, werfen sie nur kurze Blicke. Der einzige Pass, den sie sorgfältig studieren, gehört dem US-Amerikaner, der neben mir sitzt. Er war kurz zuvor von Berlin nach Warschau gereist und hatte dabei keinen Ausreisestempel bekommen. Dass fast niemand in dem Wagen eine Maske trägt, ignorieren die Polizisten.

Kurz vor der Einfahrt in den Berliner Hauptbahnhof ertönt im Zug eine Lautsprecherdurchsage, von der die meisten Vertriebenen nur träumen können: „Liebe Flüchtlinge aus der Ukraine, seien Sie herzlich willkommen“.

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