Fantasy und Realpolitik: Mit den Augen von Tolkiens Gandalf
Es gibt Gründe, warum deutsche Autoren heimische Mythen scheuen. Dabei eignet sich das Fantasy-Genre für die kritische Betrachtung von Realpolitik.
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D er US-amerikanische Autor und Literaturwissenschaftler Michael Weingrad ging einst der Frage nach, warum es kein jüdisches Fantasy-Genre gibt. Die Wahrheit ist: Es gibt eine jüdische Fantasy, man könnte sogar die Bibel dazuzählen. Und es gibt auch in der israelischen modernen Literatur das Genre Fantasy. Die israelischen Fantasy-Autoren beschäftigt vor allem die jüdische Vergangenheit, Geschichte und Mythos sowie die Verbindung mit der israelischen Gegenwart, mit Politik und Kultur.
Es ist eine reflektierende, kritische, oft satirische Fantasy. Im Gegensatz zu den beiden neuen Fernsehserien, die seit Kurzem auf Amazon Prime beziehungsweise auf HBO zu sehen sind, bleibt das Genre Fantasy für das israelische Publikum, wenn es auf Hebräisch ist, eher eine Randerscheinung.
„Die Ringe der Macht“ – Auftakt der Tolkien-Serie, und: „Aufstieg und Fall des Hauses Targaryen“ – die Fortsetzung von „Game of Thrones“ – haben unglaubliche Geldsummen geschluckt, und die große Aufmerksamkeit, auf die sie stoßen, zeigt, welchen zentralen Platz diese Art von Serien im kulturellen Leben einnimmt.
Nun könnte man das vor allem mit dem wachsenden Eskapismus und dem Bedürfnis nach vereinfachten, „mythischen“ Formeln erklären, die die bewusste Auseinandersetzung mit der Realität ersetzt. Der Realismus des 19. Jahrhunderts und die Literatur der Moderne erfüllten eine ähnliche Funktion. Dem entgegen könnte man behaupten, dass das Projekt von Georg R.R. Martin, Autor von „Game of Thrones“, unter dem Deckmantel der Fantasy ein düsteres Bild von Machiavellismus und Realpolitik zeichnet.
Trügerische Magie und Skepsis
Es ist eine Mischung aus trügerischer Magie, Nüchternheit, Skepsis, Religionsverachtung und einer säuerlichen und pessimistischen Beobachtung der Realität. Die Frage ist: Warum ist der weitaus größte Teil des Fantasy-Genres der letzten 200 Jahre im angelsächsischen Raum entstanden? Wo ist die europäische Fantasy-Literatur und was ist mit der deutschen? Die Antwort liegt auf der Hand.
Die Deutschen setzen sich nur ungern mit mythischen Stoffen ihrer eigenen Kultur auseinander: Künstler wie Richard Wagner schufen eine brisante Verbindung zwischen dem nordisch-deutschen Mythos und der Romantik und der deutschen Kunst. Die SS und andere nationalsozialistische Organisationen griffen diese Stoffe auf, manipulierten sie, um einen neu-alten germanischen Mythos zu schaffen, der ideologischen Interessen, aber auch einer neuheidnischen Faszination diente.
Nach 1945 entstand aus verständlichen Gründen ein enormer Widerwillen gegen diese Verbindung. Tolkien konnte es sich erlauben, Traditionen über Trolle wiederzubeleben, und J. K. Rowling konnte sich mit Kobolden amüsieren. Für deutsche Autoren hingegen blieb die deutsche mythische, vorchristliche Vergangenheit tabu. Auch ein Werk wie „Der Butt“ von Günter Grass wendet sich kaschubischen Mythen zu und nicht dem deutschen Mythos.
Die von Martin vorgegebene Richtung, die raffinierte Mischung aus mythischen und magischen Stoffen und einem düsteren und nüchternen Blick auf die Realität, könnte den Deutschen als eine Art Kaninchenbau dienen, durch den sie zurückkehren und aus dem sie die Nibelungen, die Wotans und die Walküren beobachten. Durch diese Art von kritischen Fantasy-Stoffen kann eine Verbindung geschaffen werden zu den Traditionen der Vergangenheit, ohne ihnen zu verfallen.
Versuche, eine solche reflexive Fantasy zu schaffen, wurden auch in der israelischen Literatur unternommen, teils mit größerem, teils mit geringerem Erfolg. Aber schon die bloße Existenz solcher Versuche ist von kultureller Bedeutung.
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