Günter Grass wird 80: Über ihm nur der Allmächtige
Günter Grass hat seine Rolle als Nationalschriftsteller verinnerlicht. In seinem Leben und Werk steckt mehr von der Großerzählung der Bundesrepublik, als vielen lieb ist.
Der eben verstorbene Walter Kempowski musste im April 1983 bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Bad Godesberg auftreten. "Als ich in das Versammlungslokal trat, hatte ich in der Menschenansammlung mit Hemmungen zu kämpfen", notierte er in sein Tagebuch. Doch die Fantasie half: "Wie öfter in solchen Fällen stellte ich mir vor, ich sei Günter Grass, und da gings."
Immer wieder er. So war es die vergangenen 50 Jahre, so ist es bis heute geblieben. Damit ist nicht nur seine Omnipräsenz in der medialen Öffentlichkeit gemeint. Vielmehr tauchen allmählich die privaten Papiere der westdeutschen Literaturgeschichte auf, all die Memoiren, Briefwechsel, Tagebücher diverser Protagonisten. Sie beweisen noch einmal, welche mächtige Rolle Günter Grass im kulturellen Raum hinter den Kulissen gespielt hat. Nur zwei Gestalten gab es hierzulande nach 1945, die ähnlich raumgreifend und zugleich raumschaffend waren: der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und der Philosoph Jürgen Habermas. Der Schriftsteller Grass ist Freund und Förderer, Agitator und Aktivist, ein unablässiger Kommunikator, ein großzügiger und dominanter Herrscher, der seinen Wohlstand mehrt und gerne teilt - mithin der ideale Leitwolf für das Rudel der Kulturproduzenten, die seine Regungen voller Neid und Bewunderung registrieren. Viele haben sich von seiner Vitalität in den Bann ziehen lassen, ob in Zuneigung oder Verachtung. Grass wirkt überall, bis hinein in die Träume seiner Kollegen. Der früh verstorbene Schriftsteller Nicolas Born dichtete ihm zum 50. Geburtstag süffisant-liebevolle Verse: "Kannst Du die Erde retten? / Nein, ich glaube, Du kannst die Erde nicht retten. / / Einmal habe ich aufgeatmet als es einmal nichts war / Was Du öffentlich sagtest." Es entbehrt nicht der Ironie, dass Grass auch für einen noch im Angesicht des Todes unversöhnten Gegner wie Kempowski ab und an ein Kraftquell war.
In der Öffentlichkeit ist der Literaturnobelpreisträger zwischen Klischee und Karikatur längst zur sonderbaren Ikone geworden, hinter der sein Werk völlig verschwindet: Pfeife und Schnauzbart, Pilze und Fischsuppe gehören dazu, ein potenter Patriarch mit sechs leiblichen Kindern und 16 Enkeln, ein wilder Tänzer und kochwütiger Cordhosenträger, ein sozialdemokratischer Machertyp und intellektueller Krawallo, der die Nation ermahnt und auf seinen häufigen Reisen arabischen oder sonstigen Potentaten auch bei 40 Grad Hitze die Vorzüge der Meinungsfreiheit predigt. Die Briefmarke zum 100. Geburtstag 2027 kann schon jetzt in Auftrag gegeben werden. Erst einmal jedoch feiert Günter Grass heute seinen 80. Geburtstag, begleitet von Ständchen auf allen Kanälen. Den Anfang im internationalen Gratulationsreigen machte seine Heimatstadt Danzig mit Vorabfestlichkeiten. Auf der Buchmesse präsentierte Grass eine luxuriöse Werkausgabe. Sein privates Fest auf einem holsteinischen Gasthof wird zum großen Familientreffen. Am 20. Oktober folgt Göttingen mit einer Feier, weil hier Grass Steidl Verlag seinen Sitz hat. Eine Woche später dann erteilt Bundespräsident Horst Köhler in St. Marien zu Lübeck dem Jubilar höchstamtlich seinen Segen.
Als Symbol verweist Lübeck zugleich auf die Problemzonen des Großschriftstellers. Hier befindet sich als edel gestaltete Kultstätte das Günter-Grass-Haus: eine in der Literaturgeschichte beispiellose Inszenierung des Nachruhms zu Lebzeiten. In Ausstellungen wurde hier bereits das zeichnerische Werk der "Doppelbegabungen" Goethe und Grass verglichen. Noch fragwürdiger ist die Chuzpe, mit der sich Grass in eine Tradition von außen hineinboxt, damit sie das eigene Werk immunisiert. Denn Lübeck ist seit den "Buddenbrooks" literarisch geheiligtes Thomas-Mann-Terrain. "Thomas Mann, Willy Brandt, Günter Grass" soll der Lübecker Dreiklang künftig tönen. Dass das Danzig der "Blechtrommel" als Heimat von Grass ebenfalls an der Ostsee liegt und er in der Nähe Lübecks wohnt, kann solche Hybris nicht entschuldigen.
Diese scheinbaren Äußerlichkeiten wären belanglos, wenn dahinter nicht ein geistiges Programm stünde: das des repräsentativen Nationalschriftstellers. Nachdem er sich mit der 1959 erschienenen "Blechtrommel" als Schriftsteller in beeindruckender Manier selbst erschaffen hatte, mutierte Grass seit den Sechzigerjahren allmählich zum kritischen Intellektuellen. So wichtig sein kraftvolles Engagement bei der heftig umkämpften Entwicklung einer bundesdeutschen Öffentlichkeit war: Für Grass wurde es zum produktiven Dilemma. Imperiale Überdehnung herrschte im Reich des Künstlers. Nur konsequent war es, dass er Willy Brandt Anfang der Siebzigerjahre um ein politisches Amt bat - vergeblich. Der unbedingte Wille zur mehr als bloß künstlerischen Bedeutung blieb dennoch. Wo ich bin, ist Deutschland, hatte Thomas Mann einst verkündet. Aus der Sicht von Grass musste einer dessen Staffelstab übernehmen. Der Job des naturgemäß umstrittenen, aber erst durch diese Konflikte gesalbten Repräsentanten musste gemacht werden - um der Demokratie willen. Und wer hätte das sein sollen, wenn nicht er? Nur war dieses fragwürdige Rollenmodell zumindest in der heterogen zerklüfteten Postmoderne lange überholt, falls es sich nicht ohnehin immer schon um eine klapprige Konstruktion handelte.
Viel Kompensation gehört zu dieser kein Mikro und keine Kamera auslassenden Repräsentationsrolle. Und die Flucht dorthin wurde zum künstlerischen Fluch. Denn gerade im Alterswerk von Grass existiert seit den Neunzigerjahren nur noch ein Riesenthema in Variationen, von "Ein weites Feld" über "Mein Jahrhundert" (was für ein Titel!), "Im Krebsgang" bis hin zu "Beim Häuten der Zwiebel": Deutschland und seine dunkle Geschichte. Andere Autoren waren ebenfalls besessen von den Dämonen der Vergangenheit, Uwe Johnson oder Kempowski beispielsweise. Doch nur Grass hat diese innerlich durchaus glaubhafte künstlerische Mission als nationalen Auftrag missverstanden.
Zaghaft war Grass in seiner auf das Nachleben schielenden Repräsentantenrolle nie. Jahrgangsgenosse Martin Walser, wahrlich kein Leisetreter, klagte schon 1966 im Tagebuch: "G. Grass, eingehüllt in die unaufhebbare Immunität seines Erfolgs, in den jetzt auch von ihm selbst gestreichelten Hermelin seines Ruhms, macht sich lustig über Schriftsteller, die unsicher sind. Selbstbewusst muß man sein." Auch der Papst ist vor Grass nicht sicher. In "Beim Häuten der Zwiebel" kokettiert der Schriftsteller damit, dass er in der Kriegsgefangenschaft auf den jungen Ratzinger getroffen sein könnte. Goethe, Thomas Mann, Benedikt: Über mir ist nur der Allmächtige.
Bei seinem Umgang mit dem unselig verspäteten SS-Bekenntnis präsentierte sich Grass noch einmal als deutscher Repräsentant mit "Makel" und "Kainsmal" und zelebrierte daher stellvertretend sein Leiden an und zugleich für Deutschland. "TV: Günter Grass als Wohltäter inmitten zu fördernder Jünger. Auf seinen Schultern liegt die Last der deutschen Literatur, wie er zu K. gesagt hat. So ein bisschen wie Hitler im Bunker der Reichskanzlei sieht er jetzt aus", notierte Kempowski bereits 1983 böse vor dem Fernsehschirm. Was immer man über Grass Zwiebelei sagen kann: Mit dem Bild vom 17-jährigen Günter, der 1945 dem Tod entronnen ängstlich im Wald "Hänschen klein" singt und dabei die SS-Uniform auszieht, hat der Alte noch einmal eine metaphorische Urszene der Bundesrepublik geschaffen, die ihn überdauern wird.
Der 1996 verstorbene Joseph Brodsky, emigrierter russischer Dichter und Literaturnobelpreiskollege von Grass, hat einmal erklärt, weshalb die russische Prosa des 20. Jahrhunderts den russischen Literaturgiganten des 19. Jahrhunderts, den Tolstois, Turgenjews und Dostojewskis, unterlegen geblieben sei. Ursache sei die "anthropologische Tragödie" gewesen, die Erfahrung des Terrors: "Der Ernst der Angelegenheit schaltet einfach die Lust auf stilistische Bemühungen aus." Mit Massenvernichtungen im Kopf sei man "nicht besonders erpicht darauf, dem Bewusstseinsstrom freien Lauf zu lassen, und das mit Recht". Oft ist der Niedergang der Gattung Roman ausgerufen worden. Hier klingt es plausibel. Brodskys Diagnose lässt sich auf Grass (trotz der "Blechtrommel") und die Literatur der Bundesrepublik anwenden, nachdem zuvor Fontane, Kafka, Musil und Thomas Mann zwischen 1880 und 1945 erzählerische Gipfel erklommen hatten. Nach Auschwitz jedoch wurden die Höhen von einst nicht mehr erreicht.
Ohne Dialektik kann man das Phänomen Günter Grass nicht verstehen. Denn dass hierzulande nach alledem überhaupt eine Sprache wiedergefunden wurde, bleibt ja ein Wunder, das wir ganz wesentlich der lauten Stimme von Günter Grass verdanken, inklusive ihrer falschen Töne und unschönen Gesänge. Örtlich betäubt, aber mit zäher Willenskraft: Land und Autor passten schon ganz gut zueinander, zum Leidwesen von Stilaristokraten jeglicher Couleur. Nicht von ungefähr haben Grass, Walser und Enzensberger immer wieder Loblieder auf den Kleinbürger angestimmt. An sich selbst als bekennenden Kleinbürgern demonstrierten sie erfolgreich die Umerziehungsarbeit nach der jung miterlebten Katastrophe, der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zur Lehre.
Wer das zivilisatorische Projekt der westdeutschen Schriftsteller mit ihren ästhetischen Fähigkeiten und Beschränktheiten deuten will, sollte Günter Grass als Fleisch vom Fleisch der Bundesrepublik sezieren. Vielleicht musste Literatur nach Auschwitz so aussehen. Und vielleicht wird mancher erschrocken feststellen, wie viel heute noch von diesem Achtzigjährigen in den deutschen Knochen steckt. Frei nach Walter Kempowskis Fantasie ist er manchmal wohl doch unser Repräsentant: Wir sind Günter Grass - keine Genies und mit deutlichen Grenzen, mit guten Gaben und kräftigen Gesten, mit viel Glück und einigem Gelungenen, mit erkämpftem Glanz ohne Großartigkeit.
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