Experten über bundesweiten Mietendeckel: „Neu justiert, was es schon gab“
Ein bundesweiter Mietendeckel ist möglich, sagen der Soziologe Andrej Holm und Anwalt Benjamin Raabe. Sie haben für die Linke ein Konzept entwickelt.
taz: Herr Holm, Herr Raabe, wann sind Sie das letzte Mal umgezogen und wie wohnen Sie?
Benjamin Raabe: Ich wohne seit 20 Jahren in Steglitz.
Andrej Holm: Ich bin 2008 das letzte Mal umgezogen.
Also, bevor es so richtig umkämpft wurde auf dem Berliner Wohnungsmarkt.
Holm: Ja, und in eine Gegend, die damals noch als übersehener Stadtteil galt. Ich wohne in Moabit. Jetzt sind wir dort die mit den goldenen Altmietverträgen.
Neu-Berliner*innen haben hingegen verschwindend geringe Chancen, eine angemessene Wohnung zu finden. Mit Müh und Not lässt sich vielleicht ein WG-Zimmer finden.
Raabe: Als Student findet man schon etwas über WG-Gesucht oder so, aber dann zahlst du auch mindestens 450 Euro.
Andrej Holm, 51, ist Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Gentrifizierung und Wohnungspolitik. 2016/2017 war er kurz Staatssekretär in der Senatsverwaltung Berlin.
Benjamin Raabe, 57, ist Fachanwalt für Miet- und Wohneigentumsrecht in einer Kanzlei in Berlin. Er ist aktiv im Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein.
Holm: Das hängt mit den hohen Angebotsmieten zusammen. Es gibt eine deutlich rückgängige Fluktuation. Vor 15 Jahren lag die Umzugsrate bei zehn bis zwölf Prozent pro Jahr. Jetzt ist sie eher bei fünf Prozent.
Was heißt das konkret?
Holm: Bei uns steht das Problem bald an: Unsere Kinder ziehen aus und fangen an zu studieren. Normalerweise würden wir uns unter diesen Bedingungen eine kleinere Wohnung suchen. Wenn aber aufgrund der Neuvermietungspreise eine neue und kleinere Wohnung teurer ist als unsere jetzige große Wohnung, gibt es für uns keinen Anreiz, umzuziehen. Das hat zur Folge, dass wir Wohnraum blockieren, in dem ansonsten eine Studenten-WG unterkommen könnte. Freunde der Marktwirtschaft sagen ja immer: Der Markt ist ein ideales Verteilungssystem. Das große Auseinanderklaffen der Bestands- und Angebotsmieten sorgt aber derzeit dafür, dass selbst die Verteilungseffekte in Städten wie Berlin scheitern. Da bleibt eigentlich wenig Überzeugendes, was der Markt zu bieten hat. Und das hängt auch damit zusammen, ob Neuvermietungsmieten reguliert sind oder nicht.
Sie fordern in angespannten Wohnungsmärkten genau das: eine Regulierung. Sie haben für die Linke ein Konzept für einen bundesweiten Mietendeckel erarbeitet, der in Städten mit Wohnungsnot sogar Bestandsmieten senken soll und Angebotsmieten anhand des städtischen Durchschnittseinkommens deckelt. In Berlin hat der mittlerweile vom Verfassungsgericht gekippte Deckel neben sinkenden Mieten allerdings auch dafür gesorgt, dass ein Drittel weniger Wohnungen angeboten wurden. Umzüge würden also noch schwieriger, oder?
Holm: Es hieß immer: Da verschwinden Wohnungen vom Markt. Was sich aber tatsächlich deutlich reduziert hat, waren Angebote auf Online-Plattformen. Und es sind vor allem hochpreisige Angebote weggefallen. Das heißt aber nicht, dass diese Wohnungen nicht auf anderen Wegen vermietet wurden. Mittlerweile hat selbst das Institut für Wirtschaft in Köln festgestellt, dass Vermieter häufig auf andere Verteilungswege umstellen, weil Angebotsportale bei sehr großer Nachfrage zu hohen Aufwand bedeuten. Gerade diejenigen, die sich an Preise gehalten haben, haben die Wohnungen vielleicht eher über personenbezogene Netzwerke oder die Nachbarschaft vergeben. Zudem spiegeln die Angebotszahlen nur einen Ausschnitt des Wohnungsmarktes wider. Daraus sind keine allgemeingültigen Schlussfolgerungen abzuleiten.
Sie haben den Wohnungsmarkt in 42 Städten analysiert und die Wirkung des rechtlich gescheiterten Berliner Mietendeckels ergründet. Die Immo-Lobby und die Union behaupten, dass der Deckel nicht funktioniert hat. Sie nannten das Instrument einen „politischen Erfolg“ trotz seines Scheiterns nach einem Jahr vor dem Bundesverfassungsgericht. Warum?
Holm: Der Mietendeckel in Berlin hatte eine extrem kurze Laufzeit, weil er sofort beklagt wurde, zudem hatten wir eine Pandemie. Aus dieser kurzen Zeitspanne zu schließen, dass der Deckel nicht funktioniert, finde ich gewagt. In der kurzen Zeit aber stagnierte zumindest der Anstieg der Neuvermietungspreise. Und seitdem der Deckel aufgehoben ist, steigen die Preise wieder. Uns ging es in der Analyse darum, die Anwendung dieser Regelung zu simulieren. Und wir konnten deutlich in allen Bereichen zeigen, dass ein bundesweiter Mietendeckel einen positiven Effekt auf die soziale Grundversorgung mit Wohnraum hätte.
Kritiker*innen sagen, dass die Falschen vom Deckel profitiert hätten: Ärztinnen oder Professoren mit schicker und großer Altbau-Wohnung am Ku'damm hätten die Miete senken können.
Holm: Dieser Professor ist eine Universalfigur, die immer wieder in wohnungspolitischen Diskursen bemüht wird. Manchmal steht er für die Fehlbelegung im sozialen Wohnungsbau: Als Student eingezogen, wohnt der Professor noch immer in der geförderten Wohnung. Jetzt wohnt er in einer großen Altbauwohnung und freut sich über den Mietendeckel. Wenn wir uns aber in der Realität die Wohnsituation von Professorinnen und Professoren anschauen, stellen wir vermutlich fest: Die allermeisten der Haushalte mit sehr hohen Einkommen leben im selbstgenutzten Eigentum. Das ist eine ziemliche Gespensterdebatte, die da aufgeführt ist und definitiv kein Massenphänomen. Erstaunlich auch, dass gerade von denen, die sonst keine Hemmungen haben, die Besserverdienenden zu entlasten, hier eine Neid-Debatte eröffnet wird.
Es ist allerdings weiter umstritten, ob ein Deckel vorm Bundesverfassungsgericht Bestand hätte: Das Berliner Gesetz wurde aus formalen Gründen verworfen, weil der Bund für das Preisrecht zuständig ist. Inhaltlich hat sich Karlsruhe nicht zum Instrument geäußert. Warum sind Sie positiv gestimmt, dass der Linken ein Bundesdeckel nicht ebenso um die Ohren fliegen würde?
Raabe: Die Kompetenzfrage stellt sich auf Bundesebene nicht.
Anders sieht es aber bei der Frage nach Eigentumsrechten aus …
Raabe: Wir haben das mit Blick auf Artikel 14 Grundgesetz genau geprüft. Das ist insofern ein besonderer Artikel, als dass er sagt: Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Die Ausgestaltung ist also offen. Das ist auch gut so: Ich muss bei einem Atomkraftwerk wesentlich mehr regeln, als wenn mir ein Wald gehört, den ich nutzen will. Auch bei Wohnungen ist es so, dass es ein stärkeres Gemeinwohlinteresse gibt als bei meinem Garten zum Beispiel. Klar ist aber auch: Ich darf das Eigentum nicht aushöhlen. Eingriffe müssen verhältnismäßig sein; dies wäre dann nicht mehr der Fall, wenn Eigentümer*innen dauerhaft Verluste machen würden. Dennoch gibt es kaum Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die zu Lasten einer Mieter schützenden Norm ergangen wären: das Vergleichsmietensystem, die Absenkung der Kappungsgrenzen, Zweckentfremdung und Mietpreisbremse haben alle vorm Verfassungsgericht gehalten.
Holm: Und im Unterschied zum Berliner Mietendeckel haben wir zudem Instrumente ausgegraben und neu justiert, die es in der Vergangenheit schon gab. Das würde es bei einer verfassungsrechtlichen Prüfung nochmal erschweren, eine Regelung zurückzuweisen. Wir müssten keinen Angstschweiß auf der Stirn haben, dass unser Vorschlag nicht verfassungsgemäß wäre.
Aber würden nicht wie bei der Mietpreisbremse von der Union regierte Länder ebenfalls die Umsetzung blockieren, wenn ein Bundesdeckel kommt? Wie soll die konkrete Umsetzung vor Ort funktionieren?
Raabe: In einer Verordnung. Diese müsste in Kraft gesetzt werden, wenn die Länder zum Erlass verpflichtet werden, sobald die bundesrechtlich geregelten Voraussetzungen für die Wohnungsnotlagengebiete oder die angespannten Gebiete vorliegen. Die könnte dann auch ein individuell einklagbares Recht beinhalten. Aber es ginge auch mit einer Kann-Regelung. Außerdem wollen wir im Bundesgesetz die Ausnahmen bei der Mietpreisbremse streichen und Paragraf 5 Wirtschaftsstrafgesetz zur Begrenzung überhöhter Mieten wieder einführen. In dem Bereich käme man bei überhöhten Mieten weg vom Vermieter-Mieter-Dilemma. Mieter könnten sich über das Amt überhöhte Mieten zurückerstatten lassen. Die zuständige Behörde könnte Bußgelder verhängen. Natürlich kann ich auch diese Ansprüche zivilrechtlich durchsetzen.
SPD und Grüne wollen die Mietpreisbremse schärfen und regional Mietenstopps ermöglichen – also Deckelung ohne Absenkung, das ginge schneller als ein neues Instrument, gegen das erneut geklagt würde. Warum ist aber aus Ihrer Sicht ein bundesweiter und einheitlicher Mietendeckel inklusive Absenkungen der Bestandsmieten erforderlich?
Holm: Weil die bisher genutzten Instrumente ganz offensichtlich nicht ausreichen, um in den großen Städten im Bestands- und Angebotsmietbereich nachhaltig einen dämpfenden Effekt zu erzielen. Wir haben das in unserer Analyse für 42 Städte untersucht: Die Mieten steigen unabhängig davon, ob in Städten viel gebaut wurde oder nicht oder ob die Mietpreisbremse angewendet wird oder nicht. Es gibt sogar das Paradox, dass in Städten mit Mietpreisbremse die Mietpreisdynamik noch stärker war als in Städten ohne. Betrachtet man unterm Strich die sozialen Effekte und fragt, ob die Instrumente bisher wirksam waren, muss man deutlich sagen: nein. Aber letztlich unterscheiden sich die Vorschläge nicht so groß. Eine Öffnungsklausel für Städte mit angespannten Märkten zielt in eine ähnliche Richtung.
Holm: Was sich sehr deutlich vom Einkommen entkoppelt hat, sind die Angebotsmieten. Das ist in allen Analysen unstrittig. In schnell wachsenden Städten wie Berlin ist das nochmal auffälliger als in anderen. Bei den Bestandsmieten ist es in der Summe aller Großstädte so, dass die in etwa mit dem durchschnittlichen Einkommen gestiegen sind. Die mittlere Mietbelastungsquote hat sich zwischen 2006 bis 2018 kaum verändert und liegt bei etwa 30 Prozent.
Das klingt doch gar nicht allzu schlimm.
Holm: Aber doch! Trotz der Einkommenszuwächse in den letzten Jahren überschreiten immer noch fast die Hälfte der Großstadthaushalte die Grenzen der Leistbarkeit und geben mehr als 30 Pozent ihres Einkommen für die Miete aus. Die Mietbelastung ist auf unverändert auf einem sehr hohen Niveau. Fast jeder vierte Haushalte gibt inzwischen sogar mehr als 40 Prozent des Einkommens für die Miete aus. Haushalte mit geringen Einkommen haben Versorgungsnöte und bleiben auf der Strecke.
Ist die Durchschnitts-Kaufkraft also gar nicht entscheidend für die Wohnraumversorgung?
Holm: Die mittlere Kaufkraft sagt nichts über die soziale Lage der Wohnversorgung aus, weil das Medianeinkommen natürlich nicht abbildet, ob sich Einkommensverhältnisse polarisieren und soziale Ungleichheit zunimmt. Selbst wenn man Hartz-IV-Bezieher und Wohngeldberechtigte aus der Statistik raus nimmt, bleiben noch Millionen Haushalte ohne Anspruch auf Transferleistungen übrig, die extrem hohe Mietbelastungsquoten haben. Über zwei Millionen Haushalte haben nach Abzug der Miete ein Resteinkommen unterhalb des Existenzminimums.
Wie bewerten Sie das politisch?
Holm: Haushalte mit geringen Einkommen kommen durch die hohen Mietbelastungen in einen existenziellen Prioritätskonflikt: Soll ich Strom, Essen oder Miete bezahlen? Das ist eine unhaltbare Situation. Die Bundesrepublik ist das reichste Land in Europa. Es ist doch unvorstellbar, dass es hier aus der Wohnsituation entstehende Armut gibt. Aber zum Gesamtbild gehört ja auch eine Binsenweisheit, die in der Debatte häufig zu kurz kommt: Soziale Wohnversorgung kann nicht mit einem Instrument sicher gestellt werden, da gibt es keinen Königsweg. Soziale Wohnungspolitik setzt ein wohnungspolitisches Gesamtkonzept voraus – ein bundesweiter Mietendeckel ist nur ein Element davon. Auch mit einem Mietendeckel braucht es Förderprogramme, kommunalen Wohnungsbau oder auch die Einführung der Neuen Wohnungsgemeinnützigkeit.
Manche kritisieren trotz der mit Zahlen belegten Situation dickfellig Alarmismus beim Thema – etwa den Begriff Wohnungsnot, weil er Assoziationen zu Mietskasernen zur Industrialisierung oder ausgebombten Städten nach dem Zweiten Weltkrieg weckt. Finden Sie den Begriff Wohnungsnot angemessen?
Holm: Gibt es Armut in Deutschland, weil niemand mehr verhungert? Armut und Wohnungsnotlagen muss man relational zu den als üblich geltenden Standards betrachten. Wir haben Wohnungsnotsituationen überall dort, wo Mieten überdurchschnittlich stark gestiegen sind und die Mietbelastungsquoten für immer mehr Haushalte die Grenze der Leistbarkeit überschreiten. Wir definieren es als Notlage, weil große Teile der Bevölkerung von einer Versorgung mit leistbaren, angemessen und bedarfsgerechten Wohnungen ausgeschlossen sind. In Berlin waren von allen Online-Angeboten nur vier bis fünf Prozent innerhalb der Bemessungsgrenzen für Hartz-IV-Empfängerinnen. Im Angebot verwandelt sich Berlin in eine Hartz-IV-freie Zone. Man sollte die Situation nicht vergleichen mit hygienischen Katastrophalbedingungen, die es im vorletzten Jahrhundert gab, sondern die Frage stellen: Haben alle Menschen die Chance, ein Zuhause für sich zu finden und können sie dort sicher wohnen? Wenn nein, sollten wir in den Städten von Wohnungsnotlagen sprechen, in denen sich diese Probleme sehr deutlich häufen.
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