Ex-Grünen-MdB über Afghanistan-Abzug: „Man nennt das Niederlage“

Als der Bundestag 2001 den Einsatz in Afghanistan beschloss, stimmte Winfried Nachtwei für die Grünen zu. Nun zieht er Bilanz.

Soldaten steigen in ein Flugzeug

Die letzten Bundeswehrsoldaten steigen in Mazar-e Sharif in ein Transportflugzeug Foto: Tors­ten Kraatz/Bundeswehr

taz am wochenende: Herr Nachtwei, am Dienstagabend haben die letzten deutschen Soldaten Afghanistan verlassen. Was haben Sie empfunden, als Sie die Nachricht gehört haben?

Winfried Nachtwei: Die Nachricht kam nicht überraschend. Trotzdem war es ein emotionaler Tiefpunkt, weil vieles zusammenkommt. Die Bilanz des Einsatzes: Es hat nicht gereicht. Es hat fürchterlich viel nicht hingehauen. Das war die erste Reaktion, ich habe aber noch zwei andere Gefühle parat.

Welche denn?

Als zweites abgrundtiefe Scham. Die meisten afghanischen Ortskräfte wurden zurückgelassen. Wir von der Initiative zur Rettung dieser Menschen hatten seit Wochen darauf gedrängt, dass gefälligst dafür gesorgt werden muss, dass die auch schnell rauskommen. Jetzt besteht die große Gefahr, dass sie ihren Verfolgern von den Taliban ausgeliefert sind. Unsere Verbündeten am Boden werden sich selbst überlassen.

Und das dritte Gefühl?

75, saß von 1994 bis 2009 für die Grünen im Bundestag und war sicherheitspolitischer Sprecher. Er ist 20-mal nach Afghanistan gereist und schreibt auf nachtwei.de Analysen zur Lage im Land.

Zorn darüber, dass die Bundesregierung in ersten Stellungnahmen wieder die alte Schönrednerei fortsetzt.

Das klingt danach, dass Sie den Einsatz für gescheitert halten.

Wesentliche strategische Ziele wurden eindeutig verfehlt. Der Terror wurde nicht nachhaltig bekämpft. Al-Qaida wurde zwar zurückgedrängt und scheint zur Zeit nicht in der Lage zu so großen Anschlägen wie vor 20 Jahren. Aber 2019 entfielen 41 Prozent der weltweiten Terroropfer auf Afghanistan. Der UN-Auftrag, mit den afghanischen Sicherheitskräften für ein sicheres Umfeld zu sorgen, wurde auch krass verfehlt. Allein letztes Jahr sind 10.000 afghanische Polizisten und Soldaten gefallen. Und auch sonst ist verlässliche Staatlichkeit nur mangelhaft erreicht worden, man denke nur an die enorme Korruption in herrschenden Kreisen.

Dann kommt jetzt die große Frage: Warum hat es nicht geklappt?

Da kommt ein Bündel von Gründen zusammen. Erstens hatte die Staatengemeinschaft keine Strategie. Es gab keine klaren und überprüfbaren Aufträge. Zweitens gab es von Anfang an einen elementaren Dissens. Die USA unter Bush konzentrierten sich auf militärische Terror-Bekämpfung ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, während die Mehrzahl der anderen Verbündeten den Wiederaufbau unterstützen wollte. Drittens wurden die Herausforderungen gigantisch unterschätzt. Viertens kam mangelnde Landeskenntnis und mangelndes Konfliktverständnis hinzu. Dann, fünftens, die Frage der Partnerwahl. Verbündete waren zu oft die alten Warlords statt reformorientierte Kräfte. Sechstens, ganz wichtig: Dass über viele Jahre die Notwendigkeit einer politischen Lösung mit den Taliban nicht gesehen wurde. Da gab es Vorstöße, auch von deutscher Seite, aber die USA haben das vor dem Hintergrund der eigenen Hybris lange abgeblockt. Siebtens … ach, egal, reicht jetzt.

Fahren Sie ruhig fort.

Einen Fehler nenne ich noch: Die Militärlastigkeit, befördert durch langjährige zivile Schwäche. Die deutsche Di­plomatie und die Polizeiausbildung waren quantitativ zu schwach aufgestellt. Unterm Strich war es nicht so, dass die Frauen und Männer, die wir dorthin entsandt haben, Scheiße gebaut hätten. Die waren klasse. Der Knackpunkt war ein kollektives politisches Führungsversagen in sehr vielen Hauptstädten.

Sie sagen, dass der Westen die Herausforderungen in Afghanistan unterschätzt hat. Woher kam diese Naivität?

Es gab ein Dilemma. Man wollte vor allem aus Bündnisloyalität nach Afghanistan gehen, aber erst mal nur vorsichtig einen Zeh reinstecken. Es gab damals Berechnungen: Wenn man richtig reingehen würde, wie im Kosovo, wären viele hunderttausend Soldaten nötig. Das war aber von vornherein illusorisch und das hat dann eben auch die Wahrnehmungsbereitschaft gegenüber der Realität beeinflusst. Anfangs wurde das auch noch dadurch begünstigt, dass es wirklich aufwärts zu gehen schien. Wenn man auf einem Transportpanzer durch die Straßen fährt und die Leute winken, kann man sich vertun.

War der Einsatz auch für Sie persönlich ein Lernprozess? Oder haben Sie all die Fehler von Anfang an erkannt?

Zu wenig. Aber dann war es ein intensiver Lernprozess. Nach den ersten hoffnungsvollen Jahren kehrte der Krieg 2006 vor allem im Süden zurück. ISAF drohte, immer mehr zu einer Besatzungstruppe zu werden. Es gab Warnungen von Bundeswehrgenerälen. Jürgen Trittin und ich haben damals einen Brief an Außenminister Steinmeier und Kollegen geschrieben und eine kritische Bilanzierung gefordert: Wo steht das Engagement, wo muss umgesteuert werden? Solche Warnungen wurden über Jahre nicht wahrgenommen.

Gründlich evaluiert wurde der Einsatz bis heute nicht. Nach dem Abzug zeigt jetzt aber auch die Regierung vorsichtige Bereitschaft dazu. Wie müsste die Auswertung Ihrer Meinung nach aussehen?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es muss unbedingt eine unabhängige Evaluierung mit externen Fachleuten sein. So wie in Norwegen, die haben als erstes Nato-Land eine seriöse Evaluierung auf den Tisch gelegt.

Was glauben Sie: Warum steigt die Bereitschaft zur Evaluierung ausgerechnet jetzt?

Wegen des Drängens derjenigen, die entsandt wurden, die zum Teil Kameraden verloren und selbst geblutet haben. Die fragen sich: Wofür das alles? Wenn man feststellt, dass man die Ziele verfehlt hat – gemeinhin nennt man das eine Niederlage – will man wenigstens bestmöglich daraus lernen.

Bei allen verfehlten Zielen: Was ist heute gut in Afghanistan?

Die Gesellschaft hat sich in Teilen erheblich geändert. Das gilt vor allem für die Städte und für die jüngere Generation. Das hat auch einen Niederschlag gefunden in einer vitalen Zivilgesellschaft, die man nicht mehr reduzieren kann auf aus dem Ausland finanzierte NGOs. Nach harten Anschlägen gab es in den vergangenen Jahren Massendemonstrationen mit aberzehntausenden Teilnehmern – gegen den Terror, aber auch gegen das Versagen der Regierung. Die Medienvielfalt ist für die Region ebenfalls ungewöhnlich. Und Studien zeigen, dass Entwicklungsprojekte, die in der Bevölkerung gut verankert sind, auch ziemlich erfolgreich waren. Ich spreche bei solchen Projekten von Hoffnungsinseln, die es trotz alledem in Afghanistan noch gibt.

Aber wie viel Hoffnung bleibt für diese Projekte, wenn die Taliban jetzt in vielen Regionen zurückkehren?

Ich kenne ein Berufsbildungszen­trum, in dem auch etliche Frauen lernen und das seit Jahren in einer von Taliban kontrollierten Umgebung arbeitet. Dort hat man weder Probleme noch Befürchtungen. Offensichtlich hat man es da mit pragmatischen Taliban zu tun, die ein Ohr dafür haben, wie das Denken in der breiteren Bevölkerung ist. Wie das in anderen Landesteilen aussieht, weiß ich nicht. Aber solche Hoffnungsinseln müssen identifiziert und nach Kräften unterstützt werden.

Was kann die Bundesregierung sonst noch tun, um Afghanistan auch nach dem Abzug zu unterstützen?

Zentral ist die weitere Unterstützung des Verhandlungsprozesses zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Bei den Sicherheitskräften muss man sehen, ob es nicht vielleicht auch von außerhalb des Landes weiterhin Ausbildungsunterstützung und Beratung geben kann. Und: Die politische UN-Mission und die UN-Unterorganisationen im Land werden an Bedeutung zunehmen. Die Bundesrepublik ist schon zuverlässiger Geldgeber, sollte sich hier aber auch stärker mit Personal beteiligen.

Besteht aber nicht eher die Gefahr, dass für Afghanistan gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn? In den Bundestagswahlprogrammen der Parteien taucht Afghanistan jedenfalls kaum noch auf.

Das ist ein ganz entscheidender Punkt: Dranbleiben, ja nicht die Aufmerksamkeit abwenden, wie es nach solchen Kriseneinsätzen der übliche Trend ist. Dem zu widerstehen, ist wirklich elementar. Die Einstellung, Afghanistan ließe sich wie Ballast abwerfen, ist illusorisch und zynisch.

Gilt das auch für Sie persönlich? Bleiben Sie Afghanistan-Beobachter oder ist es nach zwanzig Jahren auch mal gut?

Ich bleibe weiter dran. Inzwischen sind so viele persönliche Verbindungen gewachsen. Zu Afghanen, zu Exil-Afghanen, zu Einsatzrückkehrern, zu Einsatzgeschädigten. Das treibt mich seit Jahren am meisten an, nicht nur die Kopfentscheidung, dass Afghanistan aus außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen wichtig ist. Die Verbundenheit zu diesem Land und seinen Menschen hört auch jetzt bei dieser Zäsur nicht auf, bei der ja die akute Gefahr besteht, dass es noch mal in schlimmere Verhältnisse abdriftet, nämlich in einen entfesselten Bürgerkrieg.

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