Evangelikale in Polen: Gott liebt dich, außer …
… du bist homosexuell oder nimmst einen Schwangerschaftsabbruch vor. Meint zumindest ein Star-Prediger auf Tour in Polen.
„Es kommt Großes auf Polen zu“, sagt ein polnischer Student und strahlt dabei. „Das Land hat Hunger, wieder Gott zu spüren.“ Es ist ein Abend am 13. April in Krakau, der zeigen wird, wie beliebt die evangelikale Strömung in Polen vor allem bei jungen Menschen gerade ist. „Bóg Cię Kocha“, Gott liebt dich, steht in großen Buchstaben rund um die Tauron-Arena, der größten Veranstaltungshalle der Stadt. Franklin Graham, Sohn des weltberühmten evangelikalen Predigers Billy Graham, setzt hier seine internationale „God loves you“-Tour fort und lädt zu einem kostenlosen Abend voller Erlösungsversprechen ein. Über 13.000 Besucher reisen an. Woher nur dieser Ansturm im Land von Johannes Paul II., dem immer noch sicheren Hafen des Katholizismus?
Es sind nicht alle Besucher in Freikirchen aktiv, manche sind Katholiken, die von „diesem amerikanischen Pastor“ gehört haben. Viele aber sympathisieren mit dem Evangelikalismus oder sind bereits freikirchlich getauft. ‚Evangelikal‘ ist dabei kein konfessionsspezifischer Begriff, betont Thorsten Dietz, Theologieprofessor in Marburg mit Forschungsschwerpunkt Evangelikalismus. „Klassisch gehören zum Evangelikalismus vier Merkmale von protestantischen Gemeinden: die Bekehrung, die starke Stellung der Bibel als unfehlbarer Grundlage, der Glaube an Christus als Erlöser und der aktivistische, missionarische Aspekt, der Andersdenkende bekehren und die Gesellschaft verändern möchte.“
Im Gespräch mit jungen Polen, die zur Halle pilgern, fällt immer wieder die Aussage, sie seien katholisch erzogen worden und hätten in dieser Kirche ab einem bestimmten Zeitpunkt weder tiefe Glaubenserfahrungen noch ein Zugehörigkeitsgefühl empfinden können. Sie seien konvertiert, hätten sich sogar freikirchlich taufen lassen. Die Eltern seien erfreut, dass ihre Kinder wieder so intensiv zum Glauben gefunden hätten, man glaube schließlich an denselben Gott.
Schulterschluss mit Katholiken
In Polen herrsche, ähnlich wie in Amerika, ein Kulturkampf zwischen links und rechts, der das Land zum attraktiven Wachstumsmarkt für die evangelikale Bewegung mache, sagt Dietz. Die Entscheidung für Polen als Veranstaltungsort hält er daher für „sehr strategisch“. Ein Schulterschluss zwischen Evangelikalen und Katholiken gegen den gemeinsamen Feind, die progressive liberale Gesellschaft inklusive Frauenrechte und Ehe für alle, sei hierfür ein extrem begünstigender Faktor. Der Evangelikalismus könne durch sein beweglicheres und offeneres Format viel schneller als die Volkskirchen diese Polarisierungsbewegungen für sich nutzen.
Für strategisch geschickte Evangelikale sei Polen laut Dietz ein großer Zukunftsmarkt. Und genau diesen Kulturkampf spielt Graham an diesem Abend aus, kaum dass er auf der Bühne steht. Vorher allerdings wird die Halle fast zwei Stunden mit christlicher Musik angeheizt, vorgetragen unter anderem von Taya Gaukrodger, ehemals eine sehr erfolgreiche Sängerin in der umstrittenen Hillsong-Church, und Michael W. Smith, einer der bekanntesten christlichen Sänger Amerikas (und 1992 von People unter die 50 schönsten Menschen weltweit gewählt). Ohrenbetäubend laut und mit Texten über Schuld und Erlösung ist schnell eine für den Evangelikalismus typische musikalische Ekstase hergestellt.
Zwischen den Acts laufen Werbevideos für die Hilfsorganisation Samaritan’s Purse, dessen Präsident und CEO Franklin Graham seit 1979 ist und die auch in Deutschland etwa die bekannte Spendenaktion „Weihnachten im Schuhkarton“ organisiert. Schwerpunkt der Videos ist das Porträtieren von Helfern der Samaritan’s Purse im Einsatz für die Ukraine, im tiefsten Winter an der Front Essen verteilend und kriegstraumatisierte Kinder tröstend. Nicht wenige Ukrainer befinden sich im Publikum. „Die Abwendung der ukrainisch-orthodoxen Kirche von der russisch-orthodoxen Kirche und die damit verbundene Verunsicherung vieler orthodoxer Gläubiger macht die Ukraine momentan für manche Evangelikale zu einem erstrangigen Missionsziel“, erklärt Dietz.
Emotional bereits wundgescheuert und heiser gesungen ersehnt die Menge den Auftritt des großen Stars, der nach fast zwei Stunden Vorlaufzeit auf die Bühne kommt. Seine etwa halbstündige Botschaft leitet Graham, Satz für Satz ins Polnische übersetzt, klug ein: Sein Vater, Billy Graham, den Dietz als „international so einflussreich wie zwei oder drei Päpste auf einmal“ bezeichnet, sei ein enger Freund von Johannes Paul II. gewesen. Die Menge jubelt.
Narrativ des Kulturkampfes
Nach dem Gleichnis Jesu von den zwei Söhnen, die Graham mit den geistreichen Worten „Die Geschichte findet auf einem ähnlichen Bauernhof statt, wie es sie auch hier in Polen gibt!“ kommentiert, kommt er zum klassischen Narrativ des Kulturkampfes: Er dankt Polen dafür, biblische Werte hochzuhalten in einer EU, die das Land dazu zwingen wolle, von ihnen abzurücken. Dann geht es sehr schnell um Sex: „Gott will, dass wir Sex haben“, versichert Graham. Darauf muss ein „aber“ folgen: „Natürlich aber nur zwischen Mann und Frau in einer Ehe. Zwei Männer oder zwei Frauen, das ist Sünde.“ Der bislang lauteste Applaus ertönt.
Das zweite große Thema des aktuellen Evangelikalismus folgt sofort: Schwangerschaftsabbrüche. „Mord“, ruft Graham. „Mit Sicherheit sind heute Abend Frauen hier, die abgetrieben haben. Ihr seid Mörderinnen!“ Diese starke politische Positionierung gegen die Anerkennung queerer Menschen und der antifeministische Kampf gegen die Gleichberechtigung von Frauen sei eine relativ neue Entwicklung des Evangelikalismus der letzten vierzig Jahre, ordnet Dietz ein.
In den 1950er bis 1970er Jahren sei der Evangelikalismus „in der Sache zwar klar, im Ton aber geschmeidiger“ aufgetreten. Die Rückeroberung einer alten Aggressivität im Tonfall und der offene Schulterschluss mit der politisch-christlich Rechten (Franklin Graham rief in der Vergangenheit immer wieder zum Gebet für Donald Trump auf) sei vor allem seit den 1980er Jahren wieder zu beobachten.
Der Halle wird ihre „sexuelle Schuld“ repetitiv vorgetragen. Böse sei jeder von ihnen ohnehin durch die Erbsünde. „Ein sehr negatives Menschenbild spielt im Evangelikalismus im Gegensatz zu den Volkskirchen immer noch eine zentrale Rolle“, so Dietz. Für die heraufbeschworenen Schuld- und Schamgefühle bietet Graham eine „once-in-a-lifetime-chance“ an: die Aufforderung, vor die Bühne zu kommen und mit ihm um Erlösung durch Jesus Christus zu beten. Danach hat die kollektive Euphorie ihren Höhepunkt erreicht: Gott habe den „delete-button“ gedrückt, verspricht der Prediger.
Nach diesem Vergebungsritus verlässt Graham die Bühne, niemand allerdings solle einfach nach Hause gehen. Versiert werden Name, Alter und Adresse aller Anwesenden notiert, außerdem der Grund fürs Kommen. „Seeking salvation“ lautet einer, „religious struggles“ ein anderer. Warum die Datenaufnahme? „Seine Organisation ist auch ein Medienimperium“, erklärt Dietz. Gezielt würden im Nachgang den Besuchern passgenaue Angebote gemacht: je nach Bedarf Antworten auf existenzielle Fragen, Hilfsangebote, Einladungen zu Gemeinschaftstreffen oder auch Empfehlung anderer evangelikaler Formate wie etwa der Erfolgsserie „The Chosen“.
Die Billy Graham Evangelistic Association sei eine der weltweit größten missionarischen Werke, die viel professioneller vorgehen als etwa die Volkskirchen, die, so Dietz, „oft immer noch einfach hoffen, dass Menschen um 10 Uhr am Sonntag den Gottesdienst besuchen“. Treibend für den Evangelikalismus sei im Gegensatz dazu die tiefe Überzeugung, dass es für Gläubige keinen wichtigeren Auftrag im Leben gebe als die Bekehrung Ungläubiger, die noch in Sünde leben.
Nach der Veranstaltung strahlen die Gesichter. Nur eine Person ist zu sehen, die während der ganzen Veranstaltung völlig unbeeindruckt geblieben ist. In der letzten Reihe schnarcht eine alte Frau vor sich hin, die sich mit Einkaufswägelchen in die Halle verirrt und in der Kühle des Gebäudes von der Hitze draußen ausgeruht hat. Jeden kann Graham also doch nicht in seinen Bann ziehen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs