Essay zu Integration und Zuwanderung: Dieses Deutschland gehört mir
Die Deutschiranerin Yasaman Soltani hörte oft, sie solle dahin zurückgehen, wo sie herkomme. Sie ging wirklich, kehrte zurück – und hat viel gelernt.
F rau Soltani, wenn es Ihnen hier nicht gefällt, dann gehen Sie doch wieder dorthin zurück, wo Sie hergekommen sind.“
Als ich vor acht Jahren einen Leserartikel für Zeit Online schrieb und darin ausführte, dass die Integration von Ausländern nicht nur durch diese zu erreichen sei, sondern auch eine Beteiligung der deutschen Bevölkerung erfordere, las ich zahllose Kommentare, die mir ein verbales Rückflugticket ausstellten. Damals, 2012, war das Wort „Hasskommentar“ noch neu, und ich kannte den Umgang damit nicht.
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Ich las einen nach dem anderen und wurde trauriger und trauriger, bis ich endlich verstand, dass es sich nicht um konstruktive Kritik an meinem Artikel handelte. Meine Sätze hatten etwas angerührt. 50.000 Aufrufe. 522 Kommentare. Über Tage meistgelesener Artikel. Ich versuchte, die Kontrolle über die Reaktionen zu gewinnen, erstellte eine Liste, in die ich alle positiven und negativen Kommentare eintrug. Doch ihre Worte schwirrten mir im Kopf umher und taten weh. Die Negativen hatten einfach mehr Gewicht.
Kommentar Nummer 66 lautete: „Wer die angebotene Wurst nicht will, verlässt bitte den Laden und lässt sich woanders bedienen.“ Aber in welchen anderen Laden sollte ich denn gehen? War dieses Land nicht mein Laden? „Warum hassen sie uns?“, hatten Asylbewerber in Hoyerswerda damals auf ein Laken geschrieben.
Heute frage ich mich das nicht mehr. Das „Warum“ interessiert mich schlicht nicht mehr. Früher, als Jugendliche, habe ich diskutiert, mich gewehrt. An Wahlständen der CDU stemmten wir uns gegen Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft. Wir wollten unsere Herkunft nicht aufgeben, und wir wollten Deutsche sein.
Bei meinem Schülerpraktikum in einer Werbeagentur regte man sich beim Mittagessen gern über die „Ausländer“ auf, und ich, in meiner frischen Bereitschaft, mich aufzulehnen, hielt dagegen. „Auch ich bin Ausländerin“, verkündete ich. „Nein, du bist anders. Du bist total gut integriert.“ Total gut integriert? Wer waren sie, dass sie mir in meinem vermeintlich eigenen Land, diese Auszeichnung gaben? Durfte ich es andersherum genauso? Durfte ich zu ihnen auch „Du sprichst aber gut Deutsch“ sagen?
Kommentar Nummer 22: „Liebe Zuwanderer, nutzt das Angebot, anstatt zu meckern. Auf dem silbernen Tablett werdet ihr die Integration nämlich kaum hinterhergetragen bekommen. Mein Nachbar aus Jugoslavien (sic) ist bestens integriert. Und jugoslavisch (sic) spricht er nicht mehr – er hat sein Geburtsland hinter sich gelassen. Er hat keine doppelte Staatsangehörigkeit! Er hat sich eben ganz und gar integriert und ist von einem Einheimischen nicht mehr zu unterscheiden.“
Einmal abgesehen davon, dass es 2012 das Land Jugoslawien gar nicht mehr gab und es die Sprache Jugoslawisch nie gegeben hat, fragte ich mich, ob der Leser recht hatte. War das das Rezept, um hier akzeptiert zu werden? Seine Muttersprache nicht mehr sprechen? Sein Vaterland hinter sich lassen?
Mein Vaterland ist der Iran. Dort bin ich 1983 geboren. Wir verließen meine Heimat, als ich sechs Jahre alt war. Meine Eltern waren damals Anfang dreißig, mein Bruder war gerade mal drei. Es war keine gute Zeit, um im Iran zu leben. Der Iran-Irak-Krieg war seit einem Jahr zu Ende, das Land war farblos und karg. Aber 1989 war auch keine gute Zeit, um in Deutschland anzukommen.
Hoyerswerda, 1991.
Rostock-Lichtenhagen, 1992.
Solingen, 1993.
Als ich erwachsen war, erzählte mir mein Vater, dass er nach unserer Ankunft aus Deutschland fliehen wollte. Dabei waren wir doch gerade erst geflohen. Wir waren Flüchtlinge. Und er erzählte mir auch, dass er sich damals einen Vollbart wachsen ließ. Ein Gemisch aus Wut und Trotz. Vielleicht auch Stolz. Er wollte sich als Ausländer nicht verstecken.
Wir lebten in Frankfurt am Main. Ich erinnere mich an wenig aus dieser Zeit. Ich aß hier meine erste Banane, das weiß ich noch. Und ich erinnere mich an einen Schultag, an dem meine Mutter mich zu spät abholte. Ich saß weinend im Büro der Schulleiterin, die mir Fragen auf Deutsch stellte, die ich zwar verstand, doch nicht auf Deutsch beantworten konnte. Vielleicht war es auch mein Schluchzen, das mich vom Antworten abhielt. Ich weiß es nicht mehr.
Ich weiß nur, dass ich nickte und den Kopf schüttelte, um ihre Fragen zu beantworten. Nur sieht das persische Nicken und Kopfschütteln anders aus als das Deutsche. Im Iran hebt man sein Kinn, um zu sagen: „Nein.“ Die umgekehrte Bewegung, also, das Kinn zu senken, bedeutet „Ja.“ Und so hielt die Schulleiterin sowohl mein Ja als auch mein Nein für ein amputiertes Ja.
Ich erinnere mich auch daran, dass wir für unseren Asylantrag Stuhlproben abgeben mussten. Auch wir Kinder mussten uns im Bad auf den Boden hocken und auf ein Stück Papier kacken, damit wir es eintüten und verschicken konnten.
Ich erinnere mich, dass ich nicht konnte und wie meine Mutter, die die Angst vor den deutschen Behörden noch nicht verinnerlicht hatte, kurzerhand das Produkt meines Bruders halbierte und eine der Hälften in meinem Namen abschickte. Mit sechs Jahren wusste ich nicht, was Erniedrigung bedeutet, doch diese Szene ist mir in meinem erwachsenen Gehirn als erniedrigend in Erinnerung geblieben.
„Die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte werden abgelehnt“, hieß es einige Monate später in einem Schreiben vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – wie die Behörde damals noch hieß –, das an mich und meinen Bruder gerichtet war. Er war drei und ich sechs Jahre alt. Hatten wir umsonst gekackt?
Unser Anwalt ging in Berufung, und unser Leben in Deutschland nahm seinen Anfang. Wir lernten Deutsch, mein Bruder und ich sprachen nach einem Jahr kein Persisch mehr zu Hause, unsere Mutter nannten wir „Mutti“. Meine Eltern fingen an zu arbeiten, und ich erinnere mich an manche Geschichten, die sie von der Arbeit erzählten, davon, wie ihre Kollegen ihnen begegneten.
Dass viele freundlich waren, ist meiner Meinung nach nicht erwähnenswert, das sollte selbstverständlich sein, meine Eltern waren es ja auch. Neben der Freundlichkeit war da noch etwas anderes. Ein Gefühl, das ihnen als Ausländer vermittelte, dass sie im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen immer ein bisschen dümmer waren, weil ihr Deutsch nicht muttersprachlich war.
Ich erinnere mich an eine wütende Hilflosigkeit und daran, wie ich mir vorstellte, meine Mutter auf der Arbeit zu besuchen und ihre Kollegen in einwandfreiem Deutsch zurechtzuweisen. Ich tat es nie. Die Wut blieb.
Wütend auf Merkel und Mustafa
Mein Bruder und ich gingen zur Schule, aufs Gymnasium, es folgten Studium, Promotion, Approbation, Postdoc. Zusammen legten wir einen beispiellosen Lebenslauf hin, in den sich Erfahrungen streuten, die uns immer wieder daran erinnerten, dass wir nicht „wirklich“ von hier kamen. Die Polizei hielt Jugendliche, die nicht deutsch aussahen, unzählige Male auf der Straße an.
Ältere deutsche Frauen setzten sich in der U-Bahn weg, wenn neben ihnen jemand mit dunklerer Haut, dunkleren Haaren oder dunklem Bart Platz nahm. Eltern schämten sich, dass die Tochter einen ausländischen Freund mit nach Hause brachte, Professoren vergaben fünf Promotionsstellen an fünf deutsche, also hier geborene Studenten.
An den Migranten gerichtet, hieß es: „Sie können doch so gut Englisch, da ist England genau das Richtige.“ Als ich mich für ein Promotionsstipendium bewerben wollte, sagte mein Professor: „Stipendium? Dafür reichen deine Noten doch nicht.“ Ich hatte einen Einserschnitt im Diplom. Und als ich es trotzdem tat und es erhielt, sagte eine Freundin: „Ja, die Stiftung braucht endlich mal ein Paar Migranten. Sieht sonst echt nicht gut aus.“
Dann wurde ich Psychotherapeutin. Die teure Ausbildung, die unbezahlte Arbeit in der Psychiatrie finanzierte ich selbst. Es gab sonst kaum Migranten, die sich diesen teuren Job leisten konnten. Für uns hatten die Großeltern nicht gespart, die waren gar nicht hier.
Zu dieser Zeit, 2015, „brach“ die „Flüchtlingswelle“ über Deutschland herein. Und ich behandelte als Erste in unserer Klinik einen geflüchteten Patienten. „Beantragen Sie da erst mal weniger Stunden. Wir wissen ja nicht, ob der die Therapie nur für seinen Asylantrag will“, schlug ein Kollege damals vor. Ich hörte nicht auf ihn und beantragte so viele Stunden, wie er brauchte, damit es ihm wieder gut ging.
Langsam veränderte sich das Stadtbild. In Frankfurt sprachen plötzlich viele Menschen meine Sprache auf den Straßen. Mir gefiel das. Doch viele Bürger waren wütend. Wütend auf Merkel, auf Mohammed, auf Mustafa. Waren sie auch wütend auf mich?
„Du bist ja nicht wie die anderen Ausländer. Die Iraner sind so fleißig und an Bildung interessiert“, sagte die Mutter einer Freundin. Wir waren die „guten Migranten“. Ich war also nicht wie die anderen Ausländer. Aber auch nicht wie die Deutschen. Wer war ich dann? Deutsche, Frau mit Migrationshintergrund, Migrantin, Ausländerin, Flüchtling, Kanakin.
Ein ordentliches Kastensystem. „Migrationshintergrund“ klingt für mich wie „Behindertenausweis“ mit unklarer Prozentzahl. Bis 1949 wird per Definition zurückverfolgt, ob die eigenen Eltern zugewandert sind oder nicht. Das will man hier nämlich genau wissen.
„Aber Yasa, wir brauchen doch auch Putzfrauen in dieser Gesellschaft“, antwortete ein Kollege mir, als ich mich für die Schulbildung einer jungen syrischen Klientin einsetzte, und ich verstand, dass die Kanakenkaste notwendig war. Ich hatte dem syrischen Mädchen gesagt, was mir meine Eltern damals gesagt hatten: „Du musst dich so lange bilden, bis du ganz oben in der Gesellschaft einsteigst. Von unten aufsteigen wird dir als Ausländerin schwer gelingen.“
Und ich hatte mich gebildet. Immer fleißig gelernt, für mich, für meine Eltern, immer mit einer 1 vorneweg. Mehr Bildung ging kaum. Ich hatte auf meine Eltern gehört und war oben eingestiegen.
Und dann saß ich eines Morgens als Leiterin meiner Abteilung in einer Sitzung, und eine Kollegin fragte in die Runde: „Wer kann das Manuskript Korrektur lesen? Am besten macht das ein ‚native speaker‘.“ In unserer Runde gab es zwei Deutsche, die sich meldeten. Auch ich hob meine Hand. „Frau Soltani, aber Sie sind doch keine ‚native speakerin‘ “, sagte sie, und ich senkte langsam die Hand.
Weiter in der Kommentarspalte. Nun hieß es höflich: „Vielleicht sollten Sie, werte Frau Soltani, auch einen Augenblick darüber nachdenken, wie es Ihnen heute ergehen würde, wären Ihre Eltern im Iran geblieben, anstatt mit Ihnen nach Deutschland zu gehen“, hatte ein anderer Leser geschrieben.
Ja, ich habe tatsächlich oft darüber nachgedacht, wie es uns heute ergehen würde, hätten wir den Iran nie verlassen. Was habe ich jetzt, was ich nicht gehabt hätte? Was habe ich für immer verloren, was ich dort gehabt hätte? Niemand kann mir eine Antwort auf diese Fragen geben. Und dann hatte derselbe Leser noch hinzugefügt: „Neben Ihren Eltern sollten Sie Deutschland dankbar sein, anstatt zu beckmessern.“
Meinen Eltern war ich dankbar. Doch musste ich Deutschland dankbar sein? Ich konnte keinem Land dankbar sein. Vielleicht meinte der Leser, ich solle Frau Merkel oder Herrn Kohl, der damals Bundeskanzler war, dankbar sein. Doch ich spüre keine Dankbarkeit Deutschland gegenüber. Meine Familie leistet ihren Beitrag, arbeitet, zahlt Steuern. Ich zahle Steuern und behandle die kranken Menschen dieser Gesellschaft. Darunter einen Patienten, der früher in der rechten Szene unterwegs war.
„Ist interessant, dass Sie jetzt eine ausländische Therapeutin haben“, sagte ich, als er mir davon erzählte. „Ja, ist interessant“, sagte er, und es wurde eine gute Therapie. Ich finde, Deutschland kann mir und allen hart arbeitenden Kanaken verdammt noch mal dankbar sein. Es müsste einen Kanaken-Dankbarkeits-Tag geben! Ohne uns würde diese Gesellschaft nicht funktionieren.
Kommentar Nummer 87: „Die junge Dame konnte hier kostenfrei zur Schule gehen und anschließend studieren, und sie wird aufgrund des Studiums eine bessere Chance auf ein gutes Leben haben als all diejenigen, die ihr dies mit ihren Steuergeldern ermöglichten.“ Waren wir nicht dazu bestimmt, aufzuholen oder gar zu überholen?
Ich wollte in einem Land leben, in dem meine Anwesenheit nicht nur toleriert wurde, nicht nur selbstverständlich war, sondern auch wertgeschätzt wurde. Aber „beckmessern“ durfte ich ja nicht, und wenn man es doch tat, hieß es: „Gehen Sie doch dorthin, wo Sie hergekommen sind, wenn es Ihnen hier nicht gefällt.“
Vielleicht hatten sie ja recht. Vielleicht sollte ich genau das tun. Es war ein gleichzeitiges Abgeschoben- und Angezogenwerden. Das ständig vermittelte Gefühl, nicht „ursprünglich“ von hier zu sein, und die Sehnsucht, wirklich dazuzugehören, waren die Motoren, die eine Entscheidung vorantrieben: Deutschland verlassen und in den Iran zurückkehren.
„Was ist bloß in dich gefahren? Du willst Deutschland verlassen und in den Iran ziehen?“, sagten meine Freunde. Sie hatten recht. Ich hatte doch alles, was man in Deutschland zum Leben brauchte. Ich war Psychotherapeutin. Ich verdiente genug Geld, ging zum Yoga, hatte meine Freunde und meine Freuden. Ich genoss meine Pseudofreiheit im Zeitalter des Konsums, schaute Netflix, kaufte bei Amazon, ging auf Junggesellenabschiede, schmiss Babyshowers für meine Freundinnen, machte Urlaub, war gestresst, klagte ständig über zu viel Arbeit, dachte über Versicherungen für dies und jenes nach und wiederholte diesen Loop Jahr für Jahr. Es war ein gehetzt betäubtes Leben in Frieden und Sicherheit.
Analphabetin im eigenen Land
Und so lief auch der Arbeitsalltag hier einfach vor sich hin. „Ich habe eine kleine, süße Inderin mit depressiven Symptomen gesehen“, sagte eine Kollegin, als sie eine neue Patientin vorstellte. „Ich finde es nicht besonders respektvoll, so über Patienten zu reden. Ich stelle meine deutschen Patienten auch nicht als ‚kleine, süße Deutsche‘ vor“, sagte ich. Und die anderen? Schwiegen. Und ich? Fühlte mich leer, hatte mich ins Aus gespielt. Aus der Ausgrenzung in die Ausgrenzung.
„Gibt es eigentlich schwarze Wundpflaster für Schwarze? Müsste es doch“, fragte ich eines Mittags in die Runde meiner Kollegen. Wir googelten und fanden heraus, dass das bereits in den 60er Jahren in den USA thematisiert worden war. „Man kann sich aber auch über jede Kleinigkeit aufregen“, murmelte eine Kollegin. „Wenn dein Volk über zweihundert Jahre versklavt wurde, und du noch heute täglich Rassismus erfährst, dann ist es keine Kleinigkeit, wenn dein Hautton nicht als Hautton anerkannt wird“, antwortete ich. Und wieder hatte ich mich aus dem Kreis begeben, hatte etwas angesprochen, das zu Mittag schwer verdaulich war. Und die anderen? Schwiegen.
Wir Kanaken spürten Rassismus, er war da, passierte uns, unseren Eltern, Geschwistern und Freunden, und doch sprach man uns diese Erfahrung ab. „In Deutschland haben alle die gleichen Chancen!“, sagte eine deutsche Freundin, als ich erklärte, dass mein Name bei Bewerbungen wohl weniger Chancen hätte als ihrer. Ihr schien es schwerzufallen, sich einzugestehen, dass wir unter ungleichen Bedingungen gleich weit gekommen waren.
„Wahrgenommene Diskriminierung? Was soll das denn sein? Da kann ja jeder kommen und sagen, er fühlt sich diskriminiert“, sagte ein Kollege, als ich vorschlug, für meine Doktorarbeit zu erfragen, in welchem Ausmaß Migranten Diskriminierung wahrnahmen. Ich arbeitete vor einigen Jahren an einem renommierten Forschungsinstitut, das zahlreiche Migrantenforschungsprojekte durchführte. Dafür gab es nämlich viele Forschungsgelder.
Die Direktorin sagte: „Ich war in Afrika, und wir waren auf dem Anwesen eines Kollegen. Es war so süß, dort hingen die kleinen schwarzen Kinder wie Äffchen in den Bäumen.“ Aber da konnte ja jeder kommen und sich diskriminiert fühlen.
Ich zumindest hatte mich ja assimiliert, wie man es von mir verlangt hatte. Sie nannten es zwar „integriert“, doch was sie meinten, war „assimiliert“. Ich als Kanakin musste ihnen den Unterschied erklären.
In diesem Prozess der Assimilierung war ich mir selbst fremd geworden. Ich fühlte mich fremd in mir und mit mir. Ich hatte die Ausgrenzung verinnerlicht, mich dabei verloren und mochte mich nicht. Ich suchte nach diesem Gefühl der Zugehörigkeit. Wahrhaftiger, körperlicher Zugehörigkeit, die durch den Magen ging. Ich wollte mich durch die Erde, die mich geboren hatte, ernähren lassen. Ich dachte, ich würde mich im Iran wiederfinden.
Auf früheren Reisen in den Iran lief ich durch die Straßen Teherans und schaute in Gesichter, die mir bekannt, evolutionär vertraut waren. Die Stadt war voller Onkel und Tanten, die ich nicht kannte. Die Bärte der Männer sahen aus wie der Bart meines Vaters auf den Fotos von früher. Die Ringe an ihren Fingern waren die Ringe, die meine Großeltern trugen. Auch ich wollte einen solchen Ring haben. Ich wollte ihn an meinem Ringfinger tragen. Ich wollte den Iran heiraten und mich, bis dass der Tod uns schied, an ihn binden.
Kommentar Nummer 70: „Übrigens ist meine ganz persönliche Erfahrung mit Menschen aus dem Iran leider genau die, die hier in dem Artikel präsentiert wird. Vermeidet man 1001 Möglichkeiten, sie zu beleidigen, finden sie die 1002. Möglichkeit. Mir kommt es manchmal fast so vor, als würden sie nur darauf warten, beleidigt zu werden. Ursache ist meiner Meinung nach ein völlig überkommenes Ehrgefühl.“
Diese unerhörten Sätze ein Leben lang ungehört lassen und weitergehen? Es lebten doch so viele meiner Kanakenfreunde in Deutschland und genossen ihren Wohlstand. Ich konnte es nicht. „Ich bin Postmigration“, sagte ich zu meinen Freunden und meinte damit, dass ich es leid war, expliziten und impliziten Rassismus abzuklären. Mich zu erklären. Andere aufzuklären. Sollten sie doch ihr Land für sich haben.
Und so kündigte ich meinen Job, ließ mein Leben in Deutschland hinter mir, schwamm gegen den „Flüchtlingsstrom“ flussaufwärts und kam dort an, wo keiner hinwollte, von wo so viele wegwollten und wo manche mich hinwünschten. Freunde schenkten mir zum Abschied nicht ein, sondern gleich drei Kopftücher, und ich machte mich auf den Weg.
Ich hörte die Stimme meiner Mutter: „Jetzt? Nach deiner Approbation? Jetzt willst du alles stehen und liegen lassen, um in den Iran zu gehen? Sei doch vernünftig.“ In den Iran zu gehen, war alles andere als vernünftig. Das war keine rationale Entscheidung, ergab keinen Sinn. „Aber du musst doch ein Kopftuch tragen“, sagten meine Freunde. „Es ist gefährlich dort, wir machen uns doch nur Sorgen um dich“, sagten sie auch. Und: „Das hältst du nie im Leben aus. Dir ist deine Freiheit viel zu wichtig.“
Sie fragten: „Du willst nach Irak? Ist da nicht Krieg?“ Es half nichts. Vernunft, gute gemeinte Ratschläge und Warnungen ließen mich nicht zweifeln. Dorthin, wo ich hergekommen war, dachte ich nur. Im Sommer 2019 kam ich in Teheran an und stand mit beiden Beinen auf dem Boden, die Fäuste in die Seiten gestemmt in dieser Stadt. Ich schlug mein Zelt auf und spürte nach. Ich suchte und wusste nicht, wonach.
Im Iran konnte ich kaum lesen und schreiben, ich hatte hier nie die Schule besucht. Analphabetin im eigenen Land, dachte ich und bahnte mir Buchstabe um Buchstabe den Weg zu einem Wort, das ich dann oftmals nicht kannte. „Bitte füllen Sie dieses Formular aus“, sagte ein Bankangestellter, als ich dort ein Konto eröffnen wollte.
Ich nahm das Formular entgegen, starrte auf die Wörter und griff nach dem Stift, der neben mir lag. „Name“, las ich mir langsam selbst vor. Zumindest meinen Namen musste ich doch schreiben können. Verloren starrte ich auf die restlichen leeren Felder, die ich nicht zu füllen vermochte. Mir war heiß, die Klimaanlage half wenig. Noch weniger half der wartende Blick des Bankangestellten.
Wie eine Erstklässlerin in Teheran
Ein lange vergessenes Gefühl holte mich ein. Eine Sprachlosigkeit, die ich in Deutschland zum ersten Mal erfahren hatte. Ich saß am ersten Schultag einer Mitschülerin gegenüber, bemerkte, dass wir die gleichen Hefte hatten, wollte sie darauf hinweisen und eine Verbindung herstellen, suchte nach ihrem Blick, lächelte, schaute auf mein Heft, dann auf ihres und wollte etwas sagen. Und konnte nicht.
Die Worte blieben mir im Hals stecken, denn es waren die falschen. Der Augenblick überraschte mich selbst. Sprachlosigkeit hatte ich in meinem kurzen Leben bis dahin noch nicht bewusst erlebt. Und heute in der Bank? Ich gab mich geschlagen. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sei ich von hier. „Entschuldigen Sie bitte, es ist für mich etwas schwierig, dieses Formular auszufüllen. Könnten Sie mir dabei behilflich sein?“
Und so begleitete er mich durch das Dickicht des Formulars. Stolz wie eine Erstklässlerin kam ich am anderen Ende heraus, machte ein Foto und schickte es meinem Vater. „Mein erstes ausgefülltes Formular“, schrieb ich darunter. Das Leben in Teheran war gar nicht so anders als in Frankfurt und gleichzeitig völlig anders. Ich hatte eine Wohnung im Norden der Stadt, die ich mir nach und nach einrichtete und in der ich tagsüber schrieb.
Ich ging auch hier zum Yoga, meldete mich mit einem Freund bei einem Essay-Workshop an und besuchte einen Philosophiekurs, in dem wir Texte von Goethe lasen. Freitags ging ich mit Freunden zu Galerie-Eröffnungen, sah mir Theaterstücke an und lud zu Filmabenden bei mir zu Hause ein. „Du siehst selbst total deutsch aus. Das muss wohl daran liegen, dass du dort so lange gelebt hast“, sagte eine Freundin. Ich nickte höflich.
Hier war ich etwas Besonderes, die Freundin aus Europa, obwohl ich mit aller Kraft versuchte, mich anzupassen und meinen deutschen Akzent loszuwerden. Nicht als anders auffallen und doch anders sein. Das Fremdsein haftete weiter an mir. Und trotzdem fühlte ich mich zu Hause bei den Menschen hier. Ihr Lautsein, ihre Emotionen, das viele Essen, hier fühlte ich mich lebendig.
In Deutschland war es, als würde man mit angezogener Handbremse durchs Leben fahren. Dort drehte ich meine Lautstärke herunter. Zimmerlautstärke eben. Gesetzliche Mittagsruhe. „Psst! Das ist Ruhestörung!“ Ich sehnte mich danach, diese Ruhe zu stören. Ich wollte laut sein, ungestüm, unordentlich, ungeplant. Teheran war all das. Und mehr. Eben ganz anders als Deutschland.
Halle und Hanau
Kurze Zeit nach meiner Ankunft stand wieder ein Krieg kurz bevor, doch Donald Trump brach den Angriff zehn Minuten vorher ab. Hier lebte man mit diesem und anderen Damoklesschwertern. Wie? Ich weiß es nicht. Die Armut war direkt vor der Haustür, die Menschen waren hilflos und wütend. Und ich – ich war hierhergekommen, um mich selbst zu finden? Ich schämte mich.
Der Blick vieler Menschen schien zu sagen: „Die hat keine Ahnung. Diese verwöhnten Europäer, die dort im Überfluss leben, wissen nicht, was wirkliche Probleme sind.“ Und sie hatten recht. Das dicke Fell, das sich die Menschen hier hatten zulegen müssen, fehlte mir. Nach einem halben Jahr machte mir alles zu schaffen. Die Luftverschmutzung, die mir in meiner Wohnung den Atem nahm, das Chlor im Wasser, das unter der Dusche in meinen Augen brannte, das blöde Kopftuch, das meine Haare platt drückte.
Ich gehörte nicht mehr zu diesem Land, schon lange nicht mehr. Doch ich wollte bleiben, mir beweisen, dass es ging. Wie konnte ich nach sechs Monaten aufgeben und einfach an das Leben in Deutschland anknüpfen? Es war kein Entweder-oder, es war zu einem Weder-noch geworden.
Ein weiteres Jahr wollte ich in Teheran leben, kam nach Deutschland, wollte vier Wochen bleiben, kurz durchatmen und wieder zurückfliegen. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse, der Iran stand erneut kurz vor einem Krieg, sie schossen das Passagierflugzeug über Teheran ab, es folgten Proteste. Und Deutschland?
In meiner Abwesenheit: der Anschlag in Halle, der Mord an Lübcke. Nach meiner Rückkehr: die Wahl in Thüringen, der rassistische Anschlag in Hanau. Gehen, bleiben, gehen, bleiben, bis Corona mir den Rückweg versperrte, mir die Entscheidung abnahm und mir viel Zeit zum Nachdenken gab. Ich verstand, dass ich nicht mit leeren Händen aus dem Iran zurückgekehrt war. Ich hatte etwas mitgebracht. Es war eine Heimat, die ich mir erschlossen hatte und die ich nun in mir trug.
Und die deutsche Heimat? Der Mord an George Floyd hatte etwas bewegt, auf der ganzen Welt und auch hier. Im behäbigen Deutschland wurden Wellen spürbar. Mit zehntausend anderen Kanaken und Deutschen stand ich auf dem Römerberg in Frankfurt und rief: „Black Lives Matter!“
Dieses Deutschland gehört mir! Ich war dort, wo ich hergekommen bin.
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