Essay Grüne, SPD und die Wahl: Am Ende gewinnt die Kanzlerin
Im Herbst spricht vieles für eine Große Koalition. Warum weder Rot-Grün noch Rot-Rot-Grün eine politische Mehrheit hat.
Die Produktionshalle im Süden Ostdeutschlands war fast menschenleer. Nur ganz hinten verpackten ein paar Dutzend Helferinnen die fertigen Solarmodule in Kartons. „Die“, so sagte der Firmensprecher, „arbeiten nur wegen der Förderung der Fabrik durch die EU hier.“ Fünf Jahre lang müsste das Solarunternehmen dafür eine gewisse Anzahl Jobs schaffen, danach würde den Arbeiterinnen gekündigt.
Das war 2001, zu Beginn des deutschen Solarbooms. Schon damals ließ sich ahnen, dass es mit dem Versprechen auf eine sozialökologische Erneuerung, das Rot-Grün 1998 ins Amt getragen hatte, schwierig werden würde. Die Solarindustrie kam nicht nur mit wenigen Arbeitsplätzen aus, sie war zudem vom Zeitgeist der Nullerjahre getragen: mit Firmenzentralen im Westen und Produktionsstätten, die im Osten aufgebaut wurden, weil es dort billigere Arbeitskräfte gab und Subventionen lockten. Der Leiharbeiteranteil war hoch, Betriebsräte wurden oft behindert. Die Firmengründer hatten dagegen oft nach wenigen Jahren für den Rest des Lebens ausgesorgt.
Niemand verkörperte das so wie Frank Asbeck, der exzentrische Chef des jetzt insolvent gewordenen letzten Flaggschiffs der Solarindustrie, der Bonner Solarworld. Asbeck fuhr noch demonstrativ Maserati, als seine Leiharbeiter gehen mussten.
Gedacht war die deutsche Solarwirtschaft als Exportindustrie zur Eroberung von Auslandsmärkten. Aber als China noch höhere Subventionen aufbot, um die Konkurrenz zu schlagen, wurde sie zum Bauernopfer. Harte Zölle für chinesische Solarprodukte hätten im Gegenzug chinesische Strafmaßnahmen für die deutsche Autoindustrie provoziert. So war ihr Aus unvermeidbar.
Veränderungen brauchen eine Erzählung
Wirklich aufgearbeitet haben das die Grünen (und auch die SPD) nicht, obwohl sie noch im Wahlprogramm 2009 „eine Million Arbeitsplätze“ durch einen „Green New Deal“ forderten. Es war eine sehr grobe Rechnung, weil die Grünen 150.000 neue Jobs im Gesundheitssystem ebenso dazurechneten wie 185.000 neue Stellen im Bildungsbereich. Schon das hätte stutzig machen können: Für einen Green New Deal gibt es schlicht zu wenig Arbeitsplätze im ökologischen Bereich. In Deutschland arbeiten mehr Menschen in der Autoindustrie, hippe Leitindustrie ist die Digitalbranche. Wenn die Autoindustrie auf das E-Auto umstellt, wird das weitere Arbeitsplätze kosten.
Vor allem viele ökologisch orientierte Grüne und Linke halten das für ein vernachlässigbares Problem – Hauptsache, die Energiewende läuft. Aber die Idee einer sozialökologischen Erneuerung, eines Green New Deal ging trotzdem von einer richtigen Grundannahme aus: Veränderungen brauchen Mehrheiten – und eine Erzählung.
In den 70er Jahren hatte die sozialliberale Koalition eine Mehrheit aus Arbeitern und Angestellten hinter sich. Die SPD stand für gesellschaftliche Modernisierung, individuellen Aufstieg, gute Arbeitsbedingungen und Löhne. Wer bei VW oder RWE arbeitete, konnte sich mit den Sozialdemokraten ebenso identifizieren wie Lehrer oder höhere Angestellte.
Es war das, was man in Anlehnung an den etwas in Vergessenheit geratenen Marxisten Antonio Gramsci einen „historischen Block“ nennen kann – ein Mitte-unten-Bündnis mit gesellschaftlicher Hegemonie. Die Idee eines Green New Deal versuchte dies 20 Jahre später unter anderen technologischen Bedingungen zu wiederholen und scheiterte. Stattdessen kam die Agenda 2010.
Fehlende politische Mehrheit
Heute haben Rot-Grün und Rot-Rot-Grün keine politische Mehrheit. Manche glauben, dass dies mit anderen Kandidaten, einem zielgenaueren Programm und deutlicheren Bekenntnissen zu einem gemeinsamen Bündnis anders wäre. Wichtig sei auch, die Hartz-IV-Empfänger vom Nichtwählen wieder zum Linkswählen zu bekehren. Doch das offenbart ein statisches Verhältnis von Politik: Was 2005 oder 2013 gegangen wäre, muss auch 2017 gehen.
Aber zwölf Jahre, in denen sich die einen auf der Verlierer- und die anderen auf der Gewinnerseite befunden haben, haben auf beiden Seiten Radikalisierung bewirkt. Die einen sind mit kurzfristigen Gerechtigkeitskampagnen nicht zu mobilisieren. Im schlechtesten Fall wählen sie Rechtspopulisten, die Schutz vor weiterer Zuwanderung und damit vor weiterer Konkurrenz um Niedriglohnjobs, günstigen Wohnraum und Sozialleistungen versprechen.
Die Gewinner haben dagegen immer neue Minderheiten entdeckt, denen Gleichheit gewährt werden muss, während ihnen zugleich das Verständnis für die Arbeiter- und Unterschicht abhanden gekommen ist.
In NRW ist Rot-Grün auch daran gescheitert. Die Inklusionspolitik, also das gemeinsame Unterrichten von Kindern ohne und mit Behinderung, war ein Herzensanliegen der Grünen. Sie wurde als verbindlich für alle Schulen beschlossen, ohne diese ausreichend mit Lehrern auszustatten. Das Ergebnis: überforderte Lehrer, gestresste Schüler, genervte Eltern. Selbst rot-grüne Stammwähler nahmen die grüne Bildungsministerin als ideologisch motivierte Überzeugungstäterin wahr.
Streitpunkt Flüchtlingspolitik
Noch weitaus mehr betrifft die Radikalisierung der linken Mitte die Flüchtlingspolitik. In weiten Teilen der Bewegungslinken hat die Forderung nach „offenen Grenzen“ die nach einem Asylrecht für politisch Verfolgte und einem Bleiberecht für Bürgerkriegsflüchtlinge abgelöst. Auch die Linkspartei hatte die Offene-Grenzen-Forderung in ihrem Wahlprogramm 2013, 2017 ist sie noch in einer verklausulierten Form erhalten. Die Grünen haben die De-facto-Politik der offenen Grenzen im Herbst 2015 bejubelt, die SPD schwankte.
Die üblichen Abwägungen galten nicht mehr – also die Frage, wie viele der Geflüchteten aus einem damals sicheren Drittstaat wie der Türkei kamen, wie viele man davon trotzdem im Rahmen internationaler Solidarität aufnehmen sollte und wie man dies mit den Interessen der Wähler etwa an bezahlbarem Wohnraum und Jobs auch im unteren Lohnsegment in Einklang bringen könnte. Erst die Kölner Silvesternacht brachte eine Wende – dann aber mit einem kulturalistischen Tonfall, weil die Rechte das Thema erobert hatte.
Deutschland ist aufgrund des Flüchtlingsherbsts 2015 und der Sonderkonjunktur im Zuge der Euro-Krise zwar in einer besonderen Situation. Aber in vielen Ländern stellt sich der gleiche Konflikt: Wie soll die linke Mitte darauf antworten, dass große Teile der Arbeiterschaft als Folge der Abkehr der Sozialdemokratie vom Keynesianismus zu Wählern populistischer Parteien geworden sind? Welchen „historischen Block“ soll sie bilden?
Hillary Clinton und Emmanuel Macron haben es mit einem Wahlbündnis der modernen Mittelschichten und der Minderheiten gegen die Globalisierungsverlierer versucht – einem Konzept des „progressiven Neoliberalismus“, wie es die US-Politologin Nancy Fraser nennt. In Österreich setzt die SPÖ unter Christian Kern dagegen auf ein klassisches Mitte-unten-Bündnis.
Vieles spricht für die Große Koalition
In Deutschland ist die Lage komplizierter. Erstens kann die linke Mitte nicht wie in den 90er Jahren eine neue Technologie als Hoffnungsträger präsentieren, welche die Verteilungskonflikte von selbst lösen wird. Zweitens sind die liberalen Mittelschichten nicht gezwungen, SPD oder Grüne zu wählen, solange die Merkel-CDU ihre liberale Grundausrichtung beibehält. Wer Angst hat, dass sein Geld den Hartzlern zukommt, wenn Martin Schulz mit einer Gerechtigkeitskampagne droht, wählt lieber CDU. Ein Mitte-unten-Bündnis wird damit schwierig, der „progressive Neoliberalismus“ ist mit Schwarz-Grün besser zu machen.
Drittens hat gerade die liberale Ausrichtung der CDU die Grünen und Linken in einen Überbietungswettkampf mit der Union geführt, um sich noch programmatisch unterscheiden zu können. Die Politik der „offenen Grenzen“ kostet heute die linken Parteien die Mehrheit für ein Mitte-unten-Bündnis.
Die SPD hat dabei vielleicht die schwierigste Ausgangslage, weil sie die heterogenste Wählerschaft hat – von gutverdienenden Beamten bis zu den sogenannten kleinen Leuten. Die potenziellen Fliehkräfte in alle politischen Richtungen sind groß, ganz gleich, für welche Politik sich Martin Schulz entscheidet. Deshalb liegt scheinbar das Programm nahe, das die SPD vorlegt: Es entlastet viele etwas und verschiebt teure Fragen wie die Rente.
Im Herbst spricht daher vieles für eine neue Große Koalition. Und wenig dafür, dass sich die linken Parteien entweder für ein Mitte-unten-Bündnis oder eines des progressiven Neoliberalismus entscheiden. Deutschland ändert im Kleinen: mit Steuererleichterungen, Abschiebungen, Homoehe oder Quotenregeln. Merkels Politikstil färbt auf die Opposition ab. Am Ende gewinnt die Kanzlerin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“