piwik no script img

Eskalation in der OstukraineAngst vor Entgrenzung

Nach der Anerkennung der „Volksrepubliken“ durch Moskau mahnt der ukrainische Präsident zur Ruhe. Die Frage ist: Geht es um weitere Gebiete?

Ukrainische Grenzschützer an der Grenze zum Separatistengebiet in der Ostukraine am 21. Februar Foto: Evgeniy Maloletka/ap

Kiew taz | Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat am späten Montagabend nach Bekanntwerden der Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk durch Russland in einer Rede an das Volk zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Unabhängig von der Moskauer Entscheidung, so Selenski, sei festzuhalten, dass die Grenzen der Ukraine so blieben, wie sie international anerkannt seien. Die jüngsten Handlungen Russlands seien eine Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine.

Nun werde sich die Ukraine an verschiedene Organisationen wenden, darunter den UN-Sicherheitsrat, die OSZE, die Unterzeichner des Budapester Memorandums sowie die Mitglieder des Normandie-Formats. „Wir lassen uns nicht provozieren. Unsere Grenzen sind sicher, wir haben unsere Landesverteidigung.“, so Selenski.

Die Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten L/DPR durch Moskau „kann“ den Rückzug Moskaus aus dem Minsker Abkommen bedeuten, so Selenski weiter. Gleichwohl setze die Ukraine weiterhin auf Diplomatie. Man sei im Gespräch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Präsident Joe Biden, dem britischen Premier Boris Johnson und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. „Wir bleiben ruhig und zuversichtlich, bewahren einen kühlen Kopf, haben keine Angst vor irgendetwas, wir schulden niemandem etwas, aber wir werden niemandem etwas schenken“, beendete er seine Rede.

Am meisten beunruhigt die Ukraine die Frage, in welchen Grenzen sich die Gebilde der „Volksrepubliken“ sehen. Das Portal strana.best zitiert den russischen Innenminister Wladimir Kolokolzew, die „Volksrepubliken“ sollten in ihren „historischen Grenzen“ anerkannt werden. Und das bedeute, dass man auch Städte wie Mariupol, Kramatorsk und Slowjansk, die von der Ukraine kontrolliert werden, beanspruche. Und Wiktor Solotow, Kommandeur der russischen Nationalgarde, habe, so strana.best, gar von der Notwendigkeit gesprochen, „weiter zu gehen“.

Absolut nichtig

Für den ukrainischen Diplomaten Roman Bessmertnyj ist die Anerkennung der „Volksrepubliken“ „absolut nichtig“. Mit diesem Schritt und der Annexion der Krim, so Bessmertnyj gegenüber nv.ua, breche Putin internationales Recht, zimmere sich sein eigenes Recht zusammen. Mit diesem Schritt, so der Chefredakteur des Portals Zensor.net, Jurij Butusow, gebe Putin endlich zu, dass sich russische Truppen im Donbass befänden. Russland sei der Aggressor und müsse sich für diese Aggression verantworten.

Letztendlich sei die Anerkennung der „Volksrepubliken“, so der bekannte Blogger Evgeny Istrebin, ein Eingeständnis Putins, dass er verloren habe und nur noch sein Gesicht wahren wolle. Viele seien nun wütend über den Umstand, dass russische Truppen im Donbass seien., „Doch die sind da schon acht Jahre, nur unter einer anderen Flagge“, so Istrebin auf Facebook.

Für die Ukraine habe die Entwicklung auch ihre positiven Seiten. Nun müsse man die Gebiete von Luhansk und Donezk nicht mehr zu Moskauer Bedingungen integrieren. Gleichzeitig hofft Istrebin auf ein Abflauen der Kämpfe an der Front. Denn nun könne man für jeden Beschuss direkt die russische Armee verantwortlich machen. Insgesamt müsse man sich auf einen langen und eingefrorenen Konflikt einstellen. Er glaube nicht, dass Putin noch einmal seinen Einsatz erhöhen werde.

Unterdessen war im Vorfeld der russischen Entscheidung das Ausmaß von Evakuierungen von Teilen der Zivilbevölkerung des von den „Volksrepubliken“ kontrollierten Gebietes nach Russland bekannt geworden. Am Sonntagabend berichtete die ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Lyudmyla Denysova gegenüber nv.ua von „Zwangsevakuierungen“ in das russische Rostow. Frauen mit Kindern und ältere Menschen hätten fast zwei Tage lang ohne Essen und Schlaf in ungeheizten Bussen ausharren müssen, die russischen Behörden würden den Ankommenden keine Unterkunft, keine warmen Mahlzeiten und auch keine medizinische Versorgung anbieten.

Denysova forderte die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa auf, sich für angemessene Aufenthaltsbedingungen dieser ukrainischen Bürger in der Russischen Föderation einzusetzen und ihnen kostenlose Rechtsberatung sowie humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

20 Kommentare

 / 
  • "Die Frage ist: Geht es um weitere Gebiete?2

    Natürlich geht es um weitere Gebiete. Hat er doch gesagt! Russland ist nicht zum Einkaufen in die Ukraine einmaschiert.

    Der völkische Stuss von Putin möge doch bitte ernst genommen werden!

    Es geht zuvorderst um die vollständigen Regionen Donezk und Luhansk, nicht nur um das jeweilige 1/3 von den Separatisten besetzte Gebiet und es geht langfristig um die ganze Ukraine, das die russischen Faschisten als Kernland der Rus ansehen.

  • Da hat man wohl die Ruhe weg. Was bleibt ihnen auch anderes übrig, gegen Russland.

  • „Nun werde sich die Ukraine an verschiedene Organisationen wenden, darunter den UN-Sicherheitsrat, die OSZE, die Unterzeichner des Budapester Memorandums sowie die Mitglieder des Normandie-Formats“



    Es gibt wenig Hoffnung, dass diese Organisationen der Ukraine weiterhelfen können. R. wird gegen jede Resolution des Sicherheitsrates, die ihm nicht passt, Veto einlegen.



    Im Budapester Memorandum sicherte R. gegen Rückgabe der in U. gelagerten Atomwaffen U. die Garantie der staatlichen Souveränität zu. Aber da Putin neuerdings „erkannt“ hat, dass die Staatlichkeit der U. ein „Irrtum“ war, entfällt aus seiner Sicht dieser Punkt.



    Die Reaktionen der übrigen Organisationen wird Putin nicht weiter interessieren.

  • Die Ukraine blockiert seit Jahren das Minsker Abkommen. Jetzt ist endlich vorbei damit.

    • @Kappert Joachim:

      Komisch das ein Großteil der Bewohner der "Volksrepubliken" schon vor Jahren freiwillig in die Ukraine geflohen ist – nicht nach Russland! Dort leben nur noch alte und die die es sich nicht leisten können zu fliehen! Die Wirtschaft liegt dort komplett am Boden und ohne Putins bezahlte Söldner dort würde der Laden dort wohl komplett auseinanderbrechen. Und die Menschen die dort noch leben werden in Russland auch nur als Russen zweiter Wahl angesehen die im besten Fall Mittel zum Zweck sind! Über die Menschenrechte im allgemeinen und den Zustand der Demokratie in den Volksrepubliken – die defacto schon seit 2014 von Russland verwaltet werden – mal ganz zu schweigen. Von Russland selbst braucht man überhaupt nicht erst anzufangen!

    • @Kappert Joachim:

      Was genau ist jetzt besser?

  • Vermutlich wir es bei der Besetzung der durch Russland nunmehr "anerkannten" Separatistengebiete bleiben.



    Eine Einnahme der ganzen Ukraine wäre mit zu großen Opfern verbunden.



    Hier eine interessante Analyse.



    edition.cnn.com/20...schmidt/index.html

    • @Günter:

      Sie verwechseln Analyse mit Wünschen.

      Sieht eher so aus, als wollte Putin die Ukraine dazu bringen, den berühmten ersten Schuss abzufeuern. Dazu passen die Wortmeldungen zur Größe der "anerkannten" Republiken.

      Zusätzlich wird der ukrainische Präsident unter Druck geraten. Auch dort gibt es Hardliner, die Handlungen fordern werden. Ein Putsch in Kiew wäre der Jackpot für Putin.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Sie haben freilich Recht, wo Sie über den berühmten ersten Schuss sprechen. Aber denken wir über die strategischen Ängste Russlands vor der Ausdehnung der NATO nach. Die NATO wäre ohne die USA bedeutungslos. Die NATO ist aber auch der Garant dafür, dass ein aufgeblasenes Deutschland nicht wieder Unheil über Europa bringen kann. Die höchste aller Fragen ist daher diese: Warum fühlt Russland sich ausgerechnet von den USA, dem Land mit dem Russland nur gemeinsam die Nazis aus Europa herauswerfen konnte bedrohen? Das verstehe ich am allerwenigsten.



        Am Ende ist alles ein dämlicher Wettbewerb zwischen Russland und den USA über Dominanz. Das Problem ist, dass Russland mit der Freiheit nicht umgehen kann. Die Freiheit etwa, dass Staaten ihre Bündnispartner selber aussuchen können. Dabei gibt es ein Beispiel, wo sich ein Land Russland als Bündnispartner selber und freiwillig ausgesucht hat. Armenien. In dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan hat Russland sehr wohl eine friedensstiftenden Einfluss.



        Russland ist hier der Garant, dass so was wie 1915 nie wieder passieren wird.

        • @Günter:

          "Die NATO ist aber auch der Garant dafür, dass ein aufgeblasenes Deutschland nicht wieder Unheil über Europa bringen kann."

          Das ist schlicht Nonsens.

          "Warum fühlt Russland sich ausgerechnet von den USA..."

          Weil die USA für sich das Recht beanspruchen, sich massiv in die Innenpolitik von Staaten einzumischen. Bis hin zum Krieg.

          Was Putin jetzt macht, hat er sich praktisch von den USA abgeschaut. Wie sagte doch Bush Junior? "Wir halten uns nur an Völkerrecht, wenn es uns nützt." Die Idee ist in Moskau und vermutlich auch in anderen Hauptstädten gut angekommen.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        so wird es kommen.