Konflikt in der Ostukraine: Ein Gefecht aus Vorwürfen

Die Ukraine und die Separatisten werfen sich gegenseitig Eskalation vor. Vor allem über den Beschuss eines Kindergartens wird gestritten.

Soldat beugt sich über Krater in Boden

Einschlägige Beweise: Ein ukrainischer Soldat in der Region Lugansk an einem Bombenkrater Foto: Oleksandr Ratushniak/ap

KIEW taz | Zunächst klingen die Meldungen aus der ukrainischen Stadt Mariupol beruhigend: „Alle Unternehmen in Mariupol arbeiten wie immer, die Versorgung ist in vollem Umfang gewährleistet. Die Wasserversorgung wurde an einen Reservekanal angeschlossen. Die Lage in Mariupol ist stabil, auch im umliegenden Gebiet ist die Situation unter Kontrolle“, berichtet das in Mariupol erscheinende Portal pr.ua unter Berufung auf die Stadtverwaltung. „Heute Morgen wurden bewohnte Gebiete in der Region Donezk beschossen. Ihre Salven waren in unserer Stadt zu hören. Mariupol bleibt ruhig, das öffentliche Leben geht seinen Gang.“ So beschwichtigend sich dieser Artikel auch anhört, zwischen den Zeilen ist eine gewisse Unruhe erkennbar.

Tatsächlich ist die Lage in der Donbass-Region, und Mariupol liegt nur ein gutes Dutzend Kilometer von der „Kontaktlinie“ entfernt, so angespannt wie lange nicht mehr. Beide Seiten bezichtigen die jeweils andere der Verletzung des Waffenstillstandes. Die ukrainische Seite habe in der Nacht ihre Gebiete beschossen, berichten die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk. Zwanzigmal, so die „Volksrepublik“ Lugansk. Dabei hätten die ukrainischen Streitkräfte rund 280 Granaten, Minen und Granaten abgefeuert.

Demgegenüber berichtet die ukrainische Seite, der Feind habe den Waffenstillstand verletzt. Dabei hätte er auch elfmal Waffen eingesetzt, die durch die Vereinbarungen von Minsk verboten seien. Beim Beschuss der Ortschaft Nowotroizkoje hätten die Angreifer verbotene 122-mm-Artillerie und 120-mm-Mörser eingesetzt. Auch sechs weitere Ortschaften seien von den „Volksrepubliken“ beschossen worden. Am Samstag ist ein ukrainischer Soldat tödlich verletzt worden.

Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Das friedliche Ufer“ sind in den ersten 20 Tagen des Februars zehn Militärs ums Leben gekommen, vier Regierungssoldaten und sechs Aufständische. Am 17. Februar 2022 war die Lage im Donbass drastisch eskaliert. Nach Angaben des Hauptquartiers der Vereinten Ukrainischen Streitkräfte wurden an diesem Tag 30 bewohnte Gebiete in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten beschossen, darunter auch ein Kindergarten im ukrainisch kontrollierten Staniza Luganska und eine Schule. 101 Mal, so das ukrainische Militär, habe der Gegner in diesen Tagen den Waffenstillstand verletzt.

Zerstörungen der zivilen Infrastruktur

Unterdessen wurde Kritik an der Arbeit der Beobachtermission der OSZE laut. Diese hatte in ihrem Bericht über ihre Untersuchungen der Schäden in dem beschossenen Kindergarten berichtet, ein ukrainischer Offizieller habe sie gehindert, das Gebäude zu betreten. Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk warf der Organiation im ukrainischen Fernsehsender Dom vor, sie habe falsche Informationen über den Beschuss des Kindergartens verbreitet. Insbesondere kritisierte sie die Äußerung, das ukrainische Militär habe der OSZE den Zutritt zu der Einrichtung verweigert. Sie selbst sei mit Journalisten beim Kindergarten gewesen, so Wereschtschuk, und da sei niemand am Zutritt des Gebäudes gehindert worden.

Insgesamt gilt jedoch auch festzustellen, dass die jüngste Eskalation längst nicht die Ausmaße erreicht hat, die man in den ersten Jahren des Krieges in der Ostukraine sah. Tatsächlich hat die Intensität der Gewalt in den letzten drei Jahren deutlich abgenommen. Am 21. Januar 2019 berichtete der ukrainische Dienst der Deutschen Welle unter Berufung auf die UN, dass zwischen 2014 und 2018 ungefähr 13.000 Menschen ums Leben gekommen seien. Mitte Februar 2022 berichtet die NGO „Das friedliche Ufer“ von 13.930 Toten.

Das hieße, in den Jahren 2019–2022 waren es knapp 1.000 Menschen. Im Januar 2022 waren 22 Menschen auf beiden Seiten, im Februar zehn Menschen ums Leben gekommen. So traurig diese Zahlen sind, sie zeigen auch: In den ersten Jahren des bewaffneten Konfliktes waren die Opferzahlen weitaus höher als in den vergangenen drei Jahren.

Angesichts der jüngsten Eskalation warnt das Rote Kreuz (IKRK) vor weiteren Zerstörungen der zivilen Infrastruktur. So seien in den vergangen zwei Tagen zwei große Pumpstationen in der Region Donezk, die mehr als eine Million Menschen auf beiden Seiten der Kontaktlinie mit Trinkwasser versorgen, sowie Krankenhäuser und andere wichtige Dienste durch die Kampfhandlungen nicht mehr in Betrieb. „Wir sind sehr besorgt über die Entwicklungen im Osten der Ukraine in den letzten Tagen. Die zivile Infrastruktur, die wichtige Dienstleistungen bereitstellt, und das zivile Personal, das diese Infrastruktur betreibt, wartet und repariert, sind durch das humanitäre Völkerrecht geschützt“, sagt Florence Gillette, die Leiterin der IKRK-Delegation in der Ukraine.

Terroranschläge befürchtet

Die Chefs der „Volksrepubliken“ haben am Samstag eine allgemeine Mobilisierung in den von ihnen kontrollierten Gebieten angekündigt. Einen Tag zuvor hatten die Separatisten die Evakuierung der Bevölkerung auf das Gebiet der russischen Region Rostow angekündigt. Das Portal gordonua.com erinnerte an einen vergleichbaren Vorgang: 2008 habe Russland vor seinem Einmarsch nach Südossetien, eine Region, die sich von Georgien abspalten wollte, ebenfalls die Zivilbevölkerung evakuiert.

Nun fürchtet man in der Region Terroranschläge. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Valeriy Zaluschnij, erklärte, russische Spezialeinheiten würden in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten des Donbass Terroranschläge vorbereiten, um dann unter dem Vorwand einer „Friedenssicherung“ in die Ukraine einzumarschieren. Dagegen berichtet die den Separatisten nahestehende Internetseite nahnews.org, die ukrainische Seite plane Terroranschläge.

Nun sind die Kämpfe auch auf der russischen Seite angekommen, wenn stimmt, was die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti schreibt. So sei ein russisches Dorf unweit der Stadt Rostow von der Ukraine aus beschossen worden, berichtet das russische Portal lenta.ru. Demgegenüber bezeichnet das Pressezentrum der ukrainischen Militärführung Berichte über ukrainische Granaten, die in der russischen Region Rostow eingeschlagen seien, als „Fake der russischen Propaganda“.

Durchgespielt wird die Überlegung eines Einmarsches in die Ukraine bereits. Der Generalsekretär des von Moskau dominierten Militärbündnisses OVKS, Stanislaw Sas, hat vorgeschlagen, die Truppen der Organisation in den Donbass zu entsenden. Dies sollte allerdings mit dem Einverständnis der Ukraine und der Zustimmung des UN-Sicherheitsrats geschehen, zitiert das ukrainische Portal strana.best den Generalsekretär unter Bezugnahme auf Reuters.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.