Ermittlungen im Mordfall Lübcke: Unter Gewaltbereiten
Beging der mutmaßliche Lübcke-Mörder die Tat allein? Eine Zeugenaussage mehrt Zweifel. Er bewegte sich lange in der Neonazi-Szene.
Schon nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni sagte nach taz-Informationen ein Nachbar der Polizei, er habe vom Tatort zwei Autos mit hoher Geschwindigkeit wegfahren sehen. Laut Süddeutscher Zeitung soll der Mann eines der Fahrzeuge als VW Caddy erkannt haben – genau solch ein Auto soll der Verdächtige Stephan E. fahren. Das zweite Auto konnte der Nachbar nicht genauer beschreiben.
Wenn diese Aussage stimmt: Wer saß dann in dem zweiten Wagen? Damit mehren sich die Zweifel daran, dass Stephan E. tatsächlich als Einzeltäter handelte. Denn der 45-Jährige bewegte sich lange Jahre aktiv in der rechtsextremen Szene – auch in Kreisen, die offen zur Militanz neigten. Die Frage der Ermittler ist nun: Hielten hier Kontakte weiter an?
Mit einem Kopfschuss aus nächster Distanz soll E. Lübcke vor dessen Haus in Wolfhagen-Istha bei Kassel getötet haben. Eine DNA-Spur am Hemd Lübckes führte die Ermittler zu dem Täter.
Auch „Schläfer“ müssen in Betracht gezogen werden
Die Bundesanwaltschaft vermutet ein rechtsextremistisches Tatmotiv. Sie erklärte zuletzt auch, nach Mittätern zu ermitteln – bisher aber ohne Anhaltspunkte. Und Verfassungsschutz und Polizei beteuern, seit 2009 sei E. nicht mehr auffällig gewesen. Aber Bundesverfassungsschutzchef Thomas Haldenwang betonte zuletzt mit Blick auf den Fall Stephan E., man müsse auch unter Rechtsextremen „Schläfer“ in Betracht ziehen. Stephan E. jedenfalls bewies früh, dass er zu schwerster Gewalt, auch zu Terror bereit ist. Schon 1992 stach er in Wiesbaden auf einen Migranten mit einem Messer ein; der Mann überlebte nur knapp. Ein Jahr später legte E. auch eine Rohrbombe in ein Auto vor eine hessische Asylunterkunft und zündete den Wagen an. Ein Bewohner konnte den Brand rechtzeitig löschen.
Beide Taten verübte Stephan E. allein, den Sicherheitsbehörden galt er damals als „extrem gewaltbereit“. Aber: In den Folgejahren hatte er Kontakt zu genau den Rechtsextremen, die den militanten Gruppen von Combat18 und Oidoxie Streetfighting Crew zuzurechnen sind.
Combat18 gründete sich 1992 in Großbritannien. Anfang der 2000er Jahre fiel die Truppe auch in Deutschland auf, als militanter Ableger des „Blood&Honour“-Netzwerks, dessen Mitglieder etwa dem untergetauchten NSU-Trio halfen. Combat18 hantierte mit Waffen, bedrohte politische Gegner und schwadronierte über Terror und einen „Rassenkrieg“. Dann verschwand die konspirative Gruppe – um Ende 2017 wieder für Aufsehen zu sorgen, als ein Dutzend Mitglieder bei einem Schießtraining in Tschechien erwischt wurde.
Einer der damals Festgestellten: der Kasseler Stanley R. Seit den Neunzigern ist er in der Szene aktiv, auch er gilt als gewaltbereit. Das hessische LKA attestierte ihm bei seinem Auftreten ein „Höchstmaß an Konspirativität“ und verdächtigte R. 2014, gar der Deutschlandchef von Combat18 zu sein.
„militante Netzwerke gewaltbereiter Neonazis“
Von Stephan E. nun gibt es Fotos, die ihn Anfang der 2000er Jahre in Kassel auf rechtsextremen Veranstaltungen mit ebenjenem Stanley R. zeigen. Aus Kreisen des früheren hessischen NSU-Ausschusses heißt es, auch mit anderen Combat18-Akteuren habe E. Umgang gepflegt. Ließ er sich von deren militanter Strategie nachhaltig beeinflussen? Besorgte er, wenn er tatsächlich der Täter war, aus diesen Kreisen womöglich seine Tatwaffe? Waren Vertreter gar in Istha vor Ort, sofern die Aussage des Lübcke-Nachbars stimmt?
Die Vertreter von Combat18 waren in Hessen jedenfalls nicht die Einzigen, die zur Militanz neigten. Aktiv war dort auch die sogenannte Oidoxie Streetfighting Crew. Auch hier sammelten sich gewalttätige Neonazis, auch hier war Stanley R. dabei. Der sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, dass 2006 auf seiner Geburtstagsfeier die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt anwesend waren. Ermittler konnten den Verdacht indes nicht erhärten.
Aber: Wenig später verübte der NSU tatsächlich in Kassel seinen neunten Mord, am 6. April 2006 an dem Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat.
Stephan E. war damals noch in der Neonazi-Szene aktiv dabei. Kirsten Neumann von der Mobilen Beratung Kassel berichtet, wie er 2007 mit anderen Rechtsextremen eine ihrer Veranstaltungen störte, es kam zu Handgreiflichkeiten. Auch sie spricht von seit Jahren existierenden „militanten Netzwerken gewaltbereiter Neonazis“ in Hessen.
Der hessische Verfassungsschutz unter Druck
Und: Die Kasseler Szene, vor allem Combat18 und die Oidoxie Streetfighting Crew, pflegten auch enge Kontakte zu Dortmunder Neonazis – wo der NSU 2006 ebenfalls mordete. Auffällig auch hier: Just in Dortmund fiel Stephan E. 2009 das letzte Mal polizeilich auf. Mit gut 300 weiteren Neonazis griff er dort eine DGB-Kundgebung an, mit Steinen und Knüppeln.
Die Verbindungen von Stephan E. zu gewaltbereiten Neonazis waren offenbar sehr eng. Die Frage ist nur: Hielt diese Verbindung auch in den vergangenen Jahren an? Und was wussten die Sicherheitsbehörden davon? Der hessische Verfassungsschutz gerät nun unter Druck. Nach taz-Informationen hatte er frühere Akten zu Stephan E. bereits aussortiert – angeblich wegen der datenschutzrechtlichen Löschfrist von fünf Jahren. Die Linke sieht darin einen Skandal. Denn seit 2012, seit dem Auffliegen des NSU, gibt es ein Löschmoratorium für Behördenakten über die rechte Szene. „Sollten hier illegal Akten vernichtet worden sein, wäre das ein Skandal unerträglichen Ausmaßes“, sagte der hessische Linken-Geschäftsführer Hermann Schaus.
Ein Sprecher des Geheimdienstes widersprach: Die Akten seien wegen der Löschfristen nur unter Verschluss und für die Arbeit gesperrt. Sie lägen aber weiter vor – und könnten vom Datenschutzbeauftragten eingesehen werden. Die Linke beantragte am Mittwoch indes zugleich, alle früheren Akten des hessischen NSU-Ausschusses, die Stephan E. und sein Umfeld beträfen, dem Parlament erneut vorzulegen.
„Gefahr von rechten Strukturen unterschätzt“
Unter Druck geraten die Sicherheitsbehörden nun aber auch wegen ihres Umgangs mit Combat18. Denn das Netzwerk wurde von ihnen zuletzt weitgehend unangetastet gelassen. Die Gruppe sei von den Behörden „gefährlich unterschätzt“ worden, kritisierte die Linke-Innenexpertin Martina Renner. Die Verbindungen von Stephan E. in das Netzwerk müssten nun „sorgfältig geprüft“ werden.
Auch der Grüne Konstantin von Notz konstatiert, dass „die Gefahr, die von rechten Einzeltätern und Strukturen ausgeht, viel zu lange massiv unterschätzt wurde“. Auch was den Umgang mit Combat18 angeht, „stellen sich zahlreiche Fragen zur Rolle der Sicherheitsbehörden“.
Diese werde man nun an die Bundesregierung richten. Für kommenden Mittwoch ist bereits eine Sondersitzung des Innenausschuss im Bundestag zum Mordfall Walter Lübcke anberaumt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen