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Entschleunigende Kunst in BerlinDie Stille im Auge der Zeit

Über Zeit und Vergänglichkeit reflektiert die Ausstellung „The Long Now“ bis Ende August. Wer will, kann auch achtsam auf eine Tasse Tee vorbeischauen.

Zeitmangel geht ganz schön auf den Zeiger. „o.T.“ von Vera Lossau Foto: Ulf Schleth

Der heutige Umgang mit Zeit wurzelt im Beginn der Industrialisierung. Rasend schnelle technische ­Innovationszyklen lassen uns glauben, nichts sei unmöglich. Nur leider hängt die soziale Entwicklung der Technologie hinterher. Mangel an Nachhaltigkeit, Denken in kurzen Zeitspannen, beschränkt auf den Tellerrand der Wohlstandsgesellschaft, werden zu einem immer größeren Problem. Das Bedürfnis, über Zeit nachzudenken, wächst. Der me Collectors Room Berlin will dabei helfen und zeigt unter dem Titel „The Long Now – Reflexionen von Zeit und Vergänglichkeit“ Positionen von zwanzig Künstlern zum Thema Zeit.

Bereits im Treppenhaus stößt man auf die „Time Machine“ von Thomas Bartsch, eine Mischung aus Stech- und Parkuhr, die einen Beleg über die Zeit ausdruckt, die man an ihr verbracht hat. Der Beleg ist das eigentliche Kunstwerk, und man kann ihn mit nach Hause nehmen, in Erinnerung an diese zwei Sekunden Lebenszeit.

Der größte Teil der Ausstellung wurde in die Lounge des me Collectors Room gequetscht. Das mutet erst seltsam an, aber für diejenigen, die sich in der Kunst verlieren, wächst der Raum, zusammen mit der Zeit, die man in ihm verbringt.

In der Fotoserie „1h“ von Hans-Christian Schink sind auf schwarz-weißen Langzeitfotografien monolithische Balken zu sehen, die den zeitlichen Verlauf der Sonne nachzeichnen. Während man sich langsam durch den Raum bewegt, hört man immer wieder das Wort „Jetzt“, das in verschiedenen Lautstärken und Tonlagen aus der gleichnamigen Installation von Lukas Grundmann herüberdringt. Mehrere Exponate beziehen Uhren ein, wie die „Watch“ von Maurits Boettger, die stehen bleibt, wenn man sie ansieht, aber, sobald man wegblickt, wieder auf die normale Zeit springt.

Dominanz über die Zeit

Boettger spricht bei der Vorstellung seiner Arbeit davon, wie der Mensch sich durch seine ­Erfindungen versklavt und dass es ihm auch darum gehe, Do­minanz über die Zeit zurückzugewinnen. Davon handelt auf andere Weise auch das „Kronos-Projekt“ von Roland Boden, eine fiktionale Recherchearbeit, die eine irrwitzige Geschichte erzählt und viel Spaß macht.

„Wir sind uns der Zeit unsicher geworden“, sagt Reinhard Buskies, Kurator der Ausstellung. Buskies erzählt von der Atomisierung der Zeit, von den Futuristen, die sich für Zeit eher in Form von Geschwindigkeit interessiert haben; davon, dass die Zeit erst dann beginnt, wenn sie stehen bleibt, und davon, dass sich Zeit nur schwer fassen und begreifen lässt. Manche seiner Worte wirken – wie im Übrigen auch ein paar der Werke – etwas beliebig gewählt. Man muss sich den Zusammenhang selbst suchen.

Doch dank Buskies’ Ausstellung, ihrer Künstler und Kunstwerke lässt sich Zeit schon ganz gut begreifen. Und natürlich fängt Zeit nicht erst wirklich an, wenn sie stehen bleibt, sondern, wenn der Mensch stehen bleibt.

Die Ausstellung

The Long Now – Reflexionen von Zeit und Vergänglichkeit: me Collectors Room, Auguststraße 68, 10117 Berlin, bis 15. Oktober, Mittwoch bis Montag 12-18 Uhr, 8 Euro, erm. 4 Euro, Mittwochs 9 & 18 Uhr mit Meditation 9 Euro (inkl. 1 Tasse Tee)

Das Platzproblem der Ausstellung wurde gut gelöst, indem ein Teil in die Wunderkammer Olbricht integriert wurde, das Kuriositätenkabinett des me Collector Rooms, das selbst viel mit Zeit und Vergänglichkeit zu tun hat.

Die Ausstellung wirkt nicht zufällig etwas geschrumpft. Die Werke sind Teil einer größeren Ausstellung, die bis zum Juni im Kunstverein Bochum und im Museum Goch lief. Sie umfasste Werke von 29 Künstler*innen. Darunter auch eine Uhr, die die voraussichtliche Lebenszeit des Künstlers Nasan Tur herunterzählt, und eine Arbeit der Kölner Künstlerin Verena Friedrich, die denselben Namen wie die Ausstellung trägt: „The Long Now“ – eine Seifenblase, die sehr, sehr lange an einem Fleck stehen bleibt, ohne zu zerplatzen. Diese Arbeiten sind glücklicherweise im lohnenden Katalog vertreten.

Wer die Zeit hat oder wem es schwerfällt, Ruhe zu finden, kann jeden Mittwoch um 9 oder um 18 Uhr im Rahmen der Ausstellung eine Meditations-und-Achtsamkeits-Sitzung besuchen. Wer noch mehr Zeit hat, sucht jetzt im Internet nach „The Long Now“ – unter diesem Titel ist noch einiges zum Thema Zeit und Entschleunigung zu finden, unter anderem die Projekte der The Long Now Foundation.

Weitere Denkanstöße zum Thema Zeit und Zeitmaschinen gibt der Autor in seinem Aufsatz “Die gelebte Zeitmaschine“.

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