Breitensport in deutschen Großstädten: Die Zukunft spielt auf dem Bero

Städteplaner müssen kreativer werden. Denn integrative Sportvereine wie Berolina Mitte in Berlin machen die verdichteten Zentren erst lebenswert.

Der Platz von Berolina-Mitte

Großer Platz für kleine Leute: der Platz von Berolina Mitte Foto: Sebastian Wells

BERLIN taz | Die elf Mädchen in den neongrün leuchtenden Leibchen über den blauen Trikots haben sich zu einem Kreis formiert. Sie legen die Arme umeinander, beugen sich zueinander vor und brüllen in hellem Sopran: „Blau Weiß Berolina olé!“. Schrill hallt der Schlachtruf zwischen den Häusermauern; der Kunstrasenplatz, auf dem nun das Ligaspiel der C-Juniorinnen angepfiffen wird, liegt wie eingekesselt zwischen den Bauten. Es ist Sonntagnachmittag, kalter Regen geht nieder, am Spielfeldrand stehen Eltern und Trainer, einige Rentner. Es gibt Bockwurst mit Senf. Glühwein und Kaffee. Oder auch eine Molle, ein Bier.

Wir sind in Berlin-Mitte. Genauer: in der Mitte von Mitte. Wäre Berlin eine Dartscheibe, wäre das hier das Bullseye. Es ist die inzwischen teuerste Gegend der ganzen Stadt, laut einem aktuellen Wohnmarktreport liegt die Kaltmiete bei Neuvermietungen hier durchschnittlich bei 13,70 Euro pro Quadratmeter. In der Nachbarschaft befindet sich der moderne, grausilber schimmernde Neubau des ME Collectors Room, einer von Kunstmäzen Thomas Olbricht ins Leben gerufenen Galerie. Kunsträume, Designermodeläden, Chai-Latte-Cafés, ein schrumpfender Restbestand 90er Subkultur: Dieses Bild prägt den Ortsteil heute.

Inmitten all dessen ist dieser Breitensportverein beheimatet: Berolina Mitte, kurz Bero. Ein Klub, der ein containergroßes Vereinsheim mit Wimpeln, Trikots, Fanschals, Pokalen und gerahmten Mannschaftsfotos hat, der über winzige Kabinen für Schiedsrichter und Platzwart sowie muffige 10-Quadratmeter-Umkleiden verfügt; ein Klub, bei dem sonntags der Grill angeschmissen wird und bei dem es Wurst und Bulette gibt.

900 Kinder, 38 Teams

60 mal 90 Meter misst der Kunstrasenplatz von Berolina Mitte in der Kleinen Hamburger Straße, drum herum gibt es gerade noch den Spielfeldrand, viel mehr nicht. Rund 900 Kinder und Erwachsene aus 38 Teams wollen hier Fußball spielen. Fast das ganze Jahr über, 7 Tage die Woche. 1.300 Mitglieder zählt der Verein, vor zehn Jahren waren es noch 450. An manchen Abenden trainieren vier Mannschaften auf einem Platz. Vor allem die Mädchen- und Frauenteams boomen. Sportlerinnen und Sportler aus etwa 30 unterschiedlichen Nationalitäten treffen bei Bero aufeinander.

Hier wächst etwas. Aber der Platz zum Wachsen fehlt.

Dass es in den Berliner Innenstadtbezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg an Sportstätten mangelt, ist seit Jahren bekannt. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport hat schon vor drei Jahren festgestellt, dass die Stadtteile weit unterdurchschnittlich mit „gedeckten und ungedeckten Kernsportanlagen“ (so heißen im Amtsdeutsch Sporthallen und -anlagen) versorgt sind. Seither ist Berlin gewachsen, ist Mitte gewachsen. Vor sechs Jahren lebten im Bezirk noch 333.000 Menschen, nun 368.000. Tendenz steigend. Bebaubare Flächen, sagen Politiker und Sportverbände unisono, gibt es nicht mehr.

Anderen Großstädten ergeht es genauso wie Berlin. In Hamburg hat man im gesamten Bezirk Mitte Schwierigkeiten mit Bewegungsräumen, besonders angespannt ist die Lage laut Hamburger Sportbund in Horn und Hamm – und in St. Pauli sei „Chaos“. Die Sportverbände schlagen Alarm: „Der Breitensport wird systematisch herausgedrängt aus der Innenstadt“, sagt Gerd Liesegang, Vizepräsident des Berliner Fußballverbands, „und für mich ist derzeit nicht erkennbar, dass man einen Weg findet, um dem entgegenzuwirken.“ Thomas Härtel, beim Berliner Landessportbund (LSB) für Infrastruktur zuständig, sagt: „Wir müssen verstehen, dass wachsende Stadt auch wachsender Bedarf an Sport und Bewegung bedeutet.“ Immerhin, in Berlin kündigt die neue rot-rot-grüne Regierungskoalition jetzt einen „Stadtentwicklungsplan Sport und Bewegung“ an – etwas, das der LSB fordert und das es bislang nicht gab.

Gerd Liesegang

„Der Breitensport wird systematisch herausgedrängt aus der Innenstadt“

Ist doch nur Freizeitvergnügen, mag so mancher denken. Ist doch nur Sport.

Ist doch nur Sport?

„Mit jedem Sportplatz, der fehlt, nimmt man dem Kiez Leben“, erklärt Gerd Liesegang, der zuletzt für sein Engagement in Sachen Inklusion mit dem Respektpreis des Bündnisses gegen Homophobie ausgezeichnet wurde. „Gerade in Zeiten, in denen die Gesellschaft gespalten ist, kann der Sport ein entscheidendes Bindeglied in den Stadtteilen sein. Und um die vielen Flüchtlinge zu integrieren, gibt es kaum etwas Besseres als Sport. Nichts ist einfacher, als ein paar Fußballregeln zu beachten; sie sind universal.“

Das Problem beginnt aber nicht erst mit Hallen, Plätzen und Anstoßzeiten. Es beginnt in den Köpfen. Das zumindest meint Bernard Kössler, der beim Hamburger Sportbund für infrastrukturelle Fragen verantwortlich ist. „Notwendig ist erst mal die Akzeptanz des sozialen und integrativen Effekts, den der Breitensport hat. Das ist meines Erachtens noch nicht gegeben.“

An der Kleinen Hamburger Straße in Berlin-Mitte flitzen die Bero-C-Mädchen nach dem Spiel schnell durch den kalten Dezemberregen in die Umkleidekabinen. 5:0 haben sie am Ende gewonnen, standesgemäß. Einige Eltern nehmen sie an der Seite in Empfang, manche klopfen ihnen auf die Schultern und geben ihnen ein „Jut jemacht“ mit auf den Weg.

Hannah Herbst, 14 Jahre alt, ist eine der Spielerinnen. „Abwehr und Mittelfeld“ spielt sie, „ein paar Titel“ würde sie gern holen, sagt sie nach dem Spiel im Vereinsheim. In den vergangenen Jahren hätten sie die Hallenmeisterschaften gewonnen, erzählt sie. Hannah ist groß für ihr Alter und schmal, hat blonde, lange Haare, trägt Doc Martens, ist alterstypisch etwas einsilbig. Ihr Vorbild? „Andrés Iniesta.“ Dreimal pro Woche trainiert sie, „bei Berolina verbringe ich einen großen Teil meiner Freizeit, ich habe viele Freunde hier. Es geht nicht nur um Erfolg, sondern auch um Spaß.“

Die Mädchen und Frauen sind die Vorzeigeabteilung des Klubs. Rund 200 weibliche Mitglieder hat Bero, damit hat man in wenigen Jahren eine der größten Frauenfußballsparten an der Spree aufgebaut. Die Mädchen sind den Jungs gleichgestellt, das ist in den wenigsten Vereinen so. Mit den B-Mädchen, den 15- bis 17-Jährigen, will man perspektivisch in die Bundesliga. Aber auch der Erfolg würde den Klub wieder vor Probleme stellen: Das Feld ist so klein, dass man die Verbandsnormen für die höchste Spielklasse nicht erfüllen würde. Man wäre also wieder mal auf Platzsuche.

Für Thomas Meyer, der zwischen wuchernden Wimpeln und Schals vor einem Kaffee in der Vereinskneipe sitzt, ist der Erfolg der Frauenteams schön, aber nachrangig. Meyer, von Beruf Jurist, ein offener, zugänglicher Typ, ist seit 2006 Präsident des Klubs. Er trägt einen dunkelblauen Kapuzenpullover, auf dem „Bero Mitte Präsi“ steht. Die Jugendarbeit und das Soziale stehen für den SPD-Mann im Vordergrund. „Was machen wir denn hier?“, fragt Meyer, „wir bereiten die Jungs und Mädchen spielerisch auf einige Facetten des Lebens vor. Gewinnen. Verlieren. Oder auch mal Abschied nehmen, wenn Trainer oder Spieler wechseln.“ Das hier ist Breitensport, sagt er. Hier geht’s um echte Menschen. Schickimicki sei vielleicht drum herum. Bei Bero gebe man derlei besser an der Garderobe ab.

Die positive Nachricht

„Hier kommen alle Schichten zusammen“, erzählt der 52-Jährige. Bero ist ein Anlaufpunkt, die Kinder von Schauspielstars oder den Zalando-Gründern kickten hier genauso wie das Flüchtlingskind und der Nachwuchs der alteingesessenen Ostfamilie. „Wir spüren hier auch die positiven Aspekte der Gentrifizierung“, sagt Meyer.

Auch politisch prallen Welten aufeinander. Ehemalige Republikaner-Wähler, AfD-Anhänger, hat er alles schon gehabt, sagt Meyer. „In meiner Partei“, sagt er, „hält man ja gern ganze Seminare darüber ab, wie man denn mit AfD-Anhängern zu sprechen habe. Ja, wie soll ich schon mit denen sprechen? Ich würde den Mund dazu empfehlen.“

Links und rechts, Ost und West, Deutsche und Migranten – kicken wollen sie eben alle. Die Zahl der Sporttreibenden nimmt insgesamt zu, eigentlich eine positive Nachricht. Immer mehr Frauen treiben Sport, die Sparte des Seniorinnen- und Seniorensports wächst inner- und außerhalb des Vereinssportbereichs. In Berlin sind insgesamt 620.000 Menschen in Sportvereinen aktiv, so viele wie nie. In Hamburg sind es, obgleich die Stadt halb so viele Einwohner hat, nur 35.000 weniger.

Links und rechts, Ost und West, Deutsche und Migranten – kicken wollen sie eben alle.

Aber nicht nur die Sportbegeisterung, auch die Probleme haben die beiden größten deutschen Städte gemein. Beide scheiterten mit der Olympia-2024-Bewerbung – die einen (Berlin) am Deutschen Olympischen Sportbund, die anderen (Hamburg) an der Zustimmung der Bevölkerung. Der Breitensport sieht sich seither erst recht benachteiligt: An der Elbe kochte der Streit um Sportflächen bei der Planung der HafenCity hoch. Wo zukünftig bis zu 15.000 Menschen wohnen sollen, soll es keine einzige große Sportanlage geben – Fußball auf Großfeld wird es, Stand jetzt, in der HafenCity nicht geben. Ein „Jugendfeld“ sei geplant, sagt Bernard Kössler vom Hamburger Sportbund.

Die Städteplaner werden kreativer werden müssen. In St. Pauli prüft man gerade, ob auf dem Bunker am Heiligengeistfeld ein Spielfeld gebaut werden kann. Am Max-Josef-Metzger-Platz in Berlin-Wedding soll eine 400-Meter-Bahn in Triangelform entstehen, um für die angrenzenden Schulen ein Leichtathletikangebot zu schaffen – für eine Stadionbahn mit üblichen Rundungen ist der Platz zu klein. Der bereits fertig gestellte Gleisdreieck-Park in der Hauptstadt ist das erste erfolgreiche Beispiel, wie man Bewegungskultur und Stadt zusammendenken kann – hier profitieren Freizeitsportarten wie Beachvolleyball, Tischtennis und Skaten am meisten.

Der Vereinssport wird verdrängt

Im Vereinssport, für all die Fuß-, Hand-, Basket- und Volleyballer, gibt es dagegen oft genug auch bürokratische Hindernisse. Die Sportanlagenlärmschutzverordnung ist eines davon. Sie regelt dezibelgenau, wie viel Lärm die Sportanlage je nach Nutzungszeit erzeugen darf. Sie bestimmt auch die Abstände zwischen neu entstehenden Sportflächen und Wohnhäusern. Oft genug bekamen Anwohner bei Klagen Recht. Ende November ist eine Novelle der Verordnung zugunsten der Sportler beschlossen worden; für frühere Ruhezeiten (in der Woche 20 bis 22 Uhr, sonntags 13 bis 15 Uhr) sollen dann die tagsüber üblichen Werte gelten. Der Abstand zwischen Spielfeld und Wohnfläche soll von 150 auf etwa 85 Meter verringert werden. Für bereits bestehende Anlagen gelten andere Vorgaben – andernfalls wären bei Berolina Mitte auch schon längst die Flutlichter aus.

Stimmt der Bundestag zu, wäre dies ein Fortschritt, ein kleiner. Aber ist die Virulenz des Problems damit in der Politik angekommen?

Wirft man einen Blick in den frisch unterzeichneten Koalitionsvertrag des rot-rot-grüne Senats in Berlin, so werden dort viele dieser Probleme genannt. Im Kapitel „Berlin – Stadt des Sports“ kann man etwa lesen, die sportliche Infrastruktur müsse mit der Stadt wachsen, neue Sport- und Bewegungsräume müssten erschlossen werden, eine bewegungsaktivierende Infrastruktur werde geschaffen, und die Vergabe der Sportanlagen werde transparent geregelt.

Auf die Lösungsansätze darf man gespannt sein. Denn bei all den warmen Worten sollte man sich bewusst darüber sein, dass man in einigen Bereichen bei null wird anfangen müssen. Bislang hat man es nicht mal geschafft, einen bezirksübergreifenden Belegungsplan für Sportstätten im Netz transparent zu machen – andere Großstädte wie Hamburg haben dies längst. Oft genug hat sich in Berlin gezeigt, dass es doch noch irgendwo ungenutzte Zeiten gibt – es stehen also Plätze leer, nur weil es organisatorisch hapert. Zudem kommen die Behörden nicht nach, die Vergabe der Spielzeiten ordentlich zu überprüfen. Beispiele nur, Details. Aber mit Auswirkungen.

In Berlin baut ein gelernter Schweißer den größten Hindu-Tempel Deutschlands – seit mehr als neun Jahren. Große Erwartungen treiben uns an. Sie finden sich in jedem Leben, besonders in der Weihnachtszeit. Die taz.am wochenende vom 24./25./26. Dezember widmet sich ihnen. Mit dabei: eine Kunstschätzerin, ein Pfarrer und ein Alleinunterhalter, die über den professionellen Umgang mit Erwartungen reden. Und: der magische Moment, bevor das Überraschungsei ausgepackt wird. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Und die Sportlerinnen und Sportler?

Sie ärgern sich seit Jahren, aber sie begehren nicht gemeinsam auf. Nur bei den Berliner Turnhallen, da platzte ihnen irgendwann der Kragen: Seit über einem Jahr sind Flüchtlinge in Berlin in Sporthallen unter prekären Bedingungen untergebracht, noch heute über 3.000 in 38 Hallen. Das traurige Paradox: Diejenigen, die überwiegend sehr viel zur Integration der Flüchtlinge beitragen – die Sportvereine –, haben den Schaden und müssen auf die Hallen verzichten. 620.000 Menschen im organisierten Sport und eine solch kleine Lobby, wundert sich auch Verbandsvize Gerd Liesegang. „Wir sind zu leise bei den Themen, die den Sport betreffen“, sagt er. Bei Berolina Mitte ist man einst auf die Straße gegangen, um für den Erhalt des Platzes zu kämpfen.

Vor sieben Jahren sollte das Grundstück Bauland werden, da zog der Bero-Tross demonstrierend vor das Rote Rathaus und zum Alexanderplatz. „Wir wollten hier nicht weg, und wir wollen hier nicht weg“, sagt Klubpräsident Meyer heute.

Der regennasse Kunstrasen draußen glänzt inzwischen im Flutlichtschein. Das nächste Spiel läuft, die ersten Bero-Frauen müssen gegen Lichtenberg ran. Am Ende wird es das nächste Torfestival, der Heimverein gewinnt mit 6:2.

Nein, sportlich gibt’s wirklich nichts zu meckern bei Berolina Mitte.

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