Ende der Milchquote: Große Höfe machen kleine platt
Nach 31 Jahren Milchquote dürfen Bauern ab April wieder so viel Milch produzieren, wie sie wollen. Viele kleine Betriebe fürchten um ihre Existenz.
LÖWENSTEDT/PAAREN taz | Gerd Albertsen schlüpft in einen Blaumann, in Gummistiefel und greift nach einer Mistgabel. Er will zum Kuhstall. Es ist später Nachmittag – Melkzeit auf dem Hof im nordfriesischen Dorf Löwenstedt, den Albertsen mit seiner Frau Kirsten Wosnitza führt. „Hopp!“ und „Aufstehen!“ ruft er den Kühen zu. Und tatsächlich trotten die schweren, schwarz-weiß gefleckten Tiere auf seinen Befehl hin Richtung Melkstand.
Albertsen kennt seine Kühe. Jedes einzelne der 120 Tiere trägt nicht nur die vorgeschriebene gelbe Ohrmarke mit Identifizierungsnummer, sondern auch einen Namen. „Das ist Darri, unsere Älteste“, sagt der Bauer. Anders als rund 60 Prozent der Milchkühe in Deutschland gehen Albertsens Tiere im Sommer auf die Weide. „Die Kuh ist für uns nicht nur Produktionsfaktor“, sagt Kirsten Wosnitza.
Auch Udo Folgart ist Landwirt. Aber einer, der häufiger den Kugelschreiber als die Mistgabel in der Hand hält. Der Geschäftsführer der Agro-Glien GmbH im brandenburgischen Paaren bei Berlin macht die Stallarbeit nicht selbst. Dafür hat er Angestellte. Seine 300 Milchkühe stehen in geräumigen Ställen, die an den Seiten Gatter haben, um Licht und Luft durchzulassen. Eine Weide sehen Folgarts Milchkühe nie. Zum einen, weil es mehr Arbeit ist, die Tiere von dort zum Melken zu holen. Zum anderen, weil sich im Stall besser kontrollieren lässt, was die Kühe fressen und wie viel Milch sie geben. Namen haben die Tiere übrigens auch nicht – wer könnte sich die bei 300 Kühen auch merken?
Trotz der Unterschiede zwischen den Kuhställen von Albertsen/Wosnitza und Folgart, beide Betreiber haben eines gemeinsam: Sie warten darauf, dass am 1. April die Europäische Union die „Milchquote“ auslaufen lässt. Dieses Reglement legte 31 Jahre fest, wie viel Milch die Landwirte erzeugen dürfen. Wer das Limit überschreiten wollte, musste sich von Konkurrenten, die weniger produzierten, „Quote kaufen“. Wer ohne Erlaubnis mehr produzierte, musste mit einer hohen Strafzahlung rechnen.
Die unternehmerische Freiheit der Bauern war damit eingeschränkt – so eine oft wiederholte Kritik. Von unternehmerischer Freiheit zu sprechen, ist allerdings relativ. Denn schon bevor die Kontingentierung in Kraft trat, kassierten die Landwirte jährlich zig Milliarden Euro Agrarsubventionen. Milchprodukte, die nicht verkauft wurden, kaufte die EU. So entstanden die berühmt-berüchtigten Milchseen und Butterberge. Diesem Irrsinn machte das Quotensystem ein Ende.
40 Kühe werden gleichzeitig gemolken
Die Milchquote wurde einer der wichtigsten Pfeiler der EU-Landwirtschaftspolitik. Aber ab 1. April dürfen die Bauern wieder so viel melken, wie sie wollen oder können. Wird unsere Milch dann noch billiger, als sie es jetzt bereits ist? Wird sie noch von Bauern kommen wie Albertsen und Wosnitza, die ihre Kühe auf der Weide halten? Oder nur noch von Großbetrieben wie Folgarts Agro-Glien GmbH?
Schon jetzt gibt es auch in Westdeutschland Farmen mit 1.000 und mehr Kühen. Zwischen 2003 und 2013 ist die Zahl der Bestände mit über 500 Tieren um ein Drittel gestiegen. Während in solchen Betrieben oft 40 Kühe gleichzeitig gemolken werden, sind es auf dem Hof von Albertsen und Wosnitza gerade mal 10. In ihrem Melkstand reihen sich die Tiere in zwei Gängen an den Längsseiten des kleinen Raumes. Dazwischen stehen in einer etwa einen Meter tiefen Grube die beiden Bauern, die Euter auf Augenhöhe.
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Wosnitza – Kurzhaarfrisur, einfaches schwarzes Brillengestell und norddeutscher Akzent – öffnet die Tore am Eingang des Melkstandes und lässt die Rinder hinein. Wosnitza stülpt ihnen über die vier Zitzen Melkbecher, kleine mit Gummi ausgekleidete Rohre, an denen zwei Schläuche hängen. An einem der Schläuche imitiert eine Vakuumpumpe in regelmäßigen Abständen das Säugen eines Kalbes, über den anderen fließt die weiße Milch in ein rundes Sammelstück und von dort über Rohre in einen gekühlten Edelstahltank, der im Vorraum steht.
Kackspritzer im Preiskampf
Man hört das Klackern des Pulsators, der das Vakuum auf- und abbaut. Es riecht nach Dung und Milch. Wenn Wosnitza Pech hat, kacken die Kühe gerade, wenn sie im Melkstand stehen. Die Exkremente platschen auf den Boden und sie bekommt Spritzer ab. Berufsrisiko.
„Wir haben Sorge, dass jetzt langfristig wieder zu viel Milch auf den Markt kommt, weil die Quote wegfällt“, sagt Wosnitza. Nur noch in absoluten Notfällen will die EU künftig zu viel produzierte Milch aufkaufen. Die Preise würden weiter sinken. Schon jetzt bekommen Wosnitza und Albertsen nur 28 Cent pro Kilogramm Milch – wesentlich weniger als die rund 40 Cent, die Milchviehbetriebe nach Untersuchungen aus dem vergangenen Jahr bräuchten, um ihre Kosten zu decken. Gerade kleinere Höfe würden den Preiskampf verlieren und für immer schließen, warnt Wosnitza. Schließlich produzieren große Betriebe oft billiger, da sie beispielsweise ihre Maschinen intensiver nutzen können.
Freunde der Quote waren aber auch Albertsen und Wosnitza nicht. Wosnitza ist in Schleswig-Holstein Landesvorsitzende des Bundesverbands Deutscher Milchviehhalter (BDM), bei dem rund 20.000 der 78.000 hiesigen Milchbauern Mitglied sind, die die Mängel der europaweiten Kontingentierung immer wieder leidvoll spüren mussten. Denn auch die Quote konnte den Verfall der Milchpreise nicht völlig stoppen. Entweder wurde sie in Brüssel zu hoch angesetzt, und das geschah oft.
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Oder sie wurde von Mitgliedsländern wie Italien unterlaufen, so dass trotz Quote immer mehr Milch auf den Markt kam. 2008 war der Milchpreis so im Keller, dass auch Wosnitza und Albertsen am Milchstreik teilnahmen und die Molkereien nicht belieferten. Als die Diskussion um die Zukunft der Milchquote in Gang kam, sah der BDM schnell ein, dass der Ausstieg politisch nicht aufzuhalten war. Der Verband will, dass die EU die Menge auch künftig reguliert – nur effektiver.
Verband und Ministerium auf einer Linie
Udo Folgart von der Agro-Glien GmbH dagegen kann ausschließlich Positives darin entdecken, dass die Quote ersatzlos wegfällt. Der 58-Jährige mit buschigen Augenbrauen, randloser Brille und einer olivgrünen Wachsjacke von Barbour übt viele Ämter aus, aber am bekanntesten ist er als der für Milch zuständige Vizepräsident des Deutschen Bauernverbands, der seinen Angaben zufolge 90 Prozent der Landwirte und 85 Prozent der Milchbauern organisiert. Das CSU-geführte Bundesagrarministerium liegt mit den Auffassungen des Verbandes meist auf einer Linie. Es ist das Ministerium, das in der EU-Agrarpolitik die einflussreichste Stimme hat.
Journalisten empfängt Folgart gern in seinem Geschäftsführerbüro in einem Flachbau, der nach DDR riecht und kaum größer als eine Garage für ein Auto ist. Auf dem Schreibtisch liegen zwei Taschenrechner. An der Wand hängt eine Urkunde für „30 Jahre Betriebszugehörigkeit“; Folgart war schon Chef der Agro-Glien GmbH, als sie noch eine der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften war, die bereits zu DDR-Zeiten industriell produzierten: hoch spezialisiert, mit viel Technik und standardisierten Massenprodukten.
„Die Quote“, setzt Folgart an, „hat nicht dazu beigetragen, den Preis zu stabilisieren, sodass er zumindest kostendeckend oder sogar gewinnbringend für die landwirtschaftlichen Unternehmen ist – und sie hat auch den Strukturwandel nicht aufgehalten.“ Er zeigt auf ein Blatt Papier mit einer Kurve, die nach unten zeigt: Seit 1984, als die Quote eingeführt wurde, hätten in West- und Ostdeutschland insgesamt 75 Prozent der Milchviehhalter aufgegeben. „Und die Zahl der Betriebe ist weiter rückläufig.“
Für ihn hat die Quote vor allem Kosten verursacht: Sein Betrieb musste für Zigtausende Euro anderen Höfen Quotenteile abkaufen, um noch mehr produzieren zu dürfen. Der Bauernverband schätzt, dass Milchviehbetriebe in den 31 Jahren Quote über vier Milliarden Euro für zusätzliche Lieferrechte oder Strafzahlungen ausgegeben haben.
Hoffnung auf den internationalen Markt
Jetzt will Folgart noch erweitern: von 300 auf 500 Kühe. Er sieht Chancen im Export, der bereits fast die Hälfte der deutschen Produktion beispielsweise in Form von Milchpulver aufnimmt. „Die Wachstumsmärkte sind – darauf müssen wir uns einstellen – Asien und Afrika vor allem.“ Besonders weil in diesen Regionen immer mehr Milch getrunken wird, werde die Nachfrage weltweit pro Jahr um 4 Prozent wachsen, während in der EU nur ein Plus von 0,5 Prozent erwartet werde. Folgart hofft auch, dass die geplanten EU-Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada die deutschen Milchausfuhren steigern würden.
Solche Sätze sind genau das, was vielen kleinen Milchviehhaltern Sorgen macht. Sie fürchten, dass das mit dem Export der deutschen Milch nicht klappen wird: dass China etwa mit seinen niedrigeren Arbeitskosten bald seinen Bedarf viel stärker selbst decken wird. Dass dann die Preise fallen und fast nur Großbetriebe überleben werden.
Wenige große bieten aber weniger Arbeitsplätze als viele kleine Betriebe. Die Konzentration führe auch zu weniger Vielfalt auf dem Acker, sagt Albertsen. „Dann entscheiden eben weniger Betriebsleiter, was angebaut wird.“ Und mit dem Sterben der vielen kleinen Höfe droht die bäuerliche Kultur verloren zu gehen, die seit Jahrhunderten das Leben auf dem Land prägt. Dörfer könnten veröden.
Wosnitza befürchtet auch, dass die EU mit ihren hochsubventionierten Milchprodukten Entwicklungsländern schaden und dort Hunger unter Kleinbauern verursachen könnte: „In manchen Staaten könnten wir Märkte zerstören oder verhindern, dass sie eine eigene Milchproduktion aufbauen“, sagt die Bäuerin.
Keine Angst vor Exporten
Der BDM fordert deshalb, dass die EU die Produktionsmenge weiter begrenzt – aber nur noch dann, wenn der Preis stark einbricht. Die Bauern könnten leicht beispielsweise 1 bis 2 Prozent weniger produzieren, wenn sie etwa weniger Kraftfutter gäben. Wer trotzdem zu viel liefert, müsste eine Strafabgabe zahlen. Da diese Bremse nur kurz gezogen werden soll, hat der BDM auch keine Angst, dass plötzliche Importe von außerhalb der EU ihre Wirkung zerstören.
Folgart lehnt solche Vorschläge ab. „Das System ist zu schwerfällig.“ Er will Freiheit für die Unternehmen. Und der Bauernverbands-Funktionär fände es auch „gar nicht schlecht“, wenn einige Betriebe die Milch aufgeben müssten. Denn ohne Quote würden die Landwirte aus der Produktion aussteigen, deren Böden und Klima eben nicht so geeignet seien. „Wenn Milch jetzt produziert wird, kommt sie vom besseren Wirt.“
Wachsen. Auch für Albertsen und Wosnitza wäre das eine Lösung, um zu überleben. „Aber das kann nicht jeder Betrieb“, meint die Bäuerin. Ihr Hof hätte da große Schwierigkeiten: „Wenn wir noch mehr Kühe hätten, müssten wir einen Mitarbeiter einstellen, der auch erst einmal bezahlt werden will. Außerdem bräuchten wir mehr Land, um mehr Futter anzubauen. Und die Pachtpreise sind zu hoch.“
Es wäre auch kaum noch möglich, die Kühe auf der Weide und nicht nur im Stall zu halten. Denn die Tiere müssen ja meist zweimal täglich zum Melkstand getrieben werden, was bei 100 Kühen und mehr schon lange dauern kann. Wosnitza und Albertsen schaffen das trotz ihrer 120 Kühe nur, weil ihnen Hütehunde helfen – eine ziemlich ungewöhnliche Lösung.
Im Schnitt 10.000 Liter pro Jahr
Die beiden Bauern wollen die Kühe, die sie schon haben, auch nicht dazu bringen, noch mehr Milch zu geben. Jedes Tier erzeugt schon jetzt im Schnitt 10.000 Liter pro Jahr. Müssten sie noch mehr leisten, steigt das Risiko von Krankheiten. Auch die Welttierschutzgesellschaft sieht die Gesundheit der Milchkühe wegen des Quotenendes in Gefahr.
Wenn die Preise fallen, können sie nur die Kosten senken, indem sie etwa darauf verzichten, den älteren ihrer Ställe noch tierfreundlicher zu gestalten. Oder sie reparieren einen kaputten Traktor noch einmal, statt einen neuen zu kaufen. Da sie keine Kinder haben, ist ihr Druck nicht ganz so groß wie bei anderen Bauern, den Hof schon jetzt überlebensfähig für die nächste Generation zu machen. „Das ist keine nachhaltige Strategie“, räumt Albertsen ein. Sie setzen darauf, dass sich in der EU doch noch irgendwann eine Mehrheit dafür findet, die Produktionsmenge zu deckeln.
Aber Bundesagrarminister Christian Schmidt hat solche Forderungen gerade wieder zurückgewiesen. Da bleibt Albertsen und Wosnitza vorerst nur eine resignative Hoffnung: dass ihr Hof wenigstens 15 weitere Jahre durchhält – bis sie in den Ruhestand gehen.
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