Emotionen und politische Realität: Raus aus dem postfaktischen Regieren!
„It´s complex, stupid!“ Diskurse entkoppeln sich von der Realität. Warum das unsere Demokratie gefährdet und wie Bürgerbeteiligung helfen kann.
W ir müssen über die postfaktische Gesellschaft sprechen. Wenn Sie nun denken: „Nicht schon wieder ein Artikel über Höcke, Trump und Co!“ – seien Sie versichert, dass ich die Schuld nicht bei einzelnen Personen suchen will. Gerade die aktuelle Migrationsdebatte zeigt wie ein Brennglas: Unsere gesamte Gesellschaft entkoppelt sich von einer komplexen Wirklichkeit und den Fakten. Wenn wir diese Entwicklung nicht stoppen, wird das unsere Freiheit und Sicherheit gefährden.
Ein Beispiel ist die Entwicklung der Kriminalität und ihr Zusammenhang mit Migration. Nach den furchtbaren Anschlägen von Solingen, Aschaffenburg, Magdeburg und München haben sich Politik und Medien weitgehend festgelegt: Deutschland ist nicht mehr sicher, es braucht harte Maßnahmen.
Fest steht: Deutschland ist in den letzten zehn Jahren gar nicht gefährlicher geworden. Laut Statistischem Bundesamt haben etwa bekannt gewordene Straftaten in Deutschland zwischen 2014 und 2023 abgenommen. Die Anzahl aufgeklärter Straftaten ist gleichbleibend (für 2024 und 2025 gibt es noch zu wenige oder keine aussagekräftigen Daten).
Schaut man sich nun die gerichtlich Verurteilten an, ist festzustellen, dass der Anteil ausländischer Verurteilter seit 2013 tatsächlich von 24,5 Prozent auf 38,9 Prozent im Jahr 2023 gestiegen ist. Anders als ihr prozentualer Anteil kreiste die absolute Zahl an Verurteilungen von Ausländern in den vergangenen Jahren jedoch um dieselben Werte. Und jetzt kommt sogar das ifo Institut bei einer Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik zum Schluss, dass allein „herkunftsunabhängige Faktoren“ für den überdurchschnittlichen Anteil der Ausländer in der Kriminalstatistik verantwortlich sind – vor allem ziehen Migrant:innen häufiger in Ballungsräume, wo das allgemeine Kriminalitätsrisiko höher ist.
Teilhabe am öffentlichen Diskurs
Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der Migrationsforschung. Kurzum: Die Datenlage erklärt nicht, warum das Thema Migration inzwischen von vielen als Grundübel betrachtet wird. Eine Politik, welche die Komplexität unser heutigen globalisierten Welt auf griffige Slogans, einfache Lösungen und gefühlte Wahrheiten reduziert, untergräbt jedoch die Demokratie.
Dieser Text ist Teil des Projekts taz Panterjugend: 26 junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, Nachwuchs-journalist:innen, -illustrator:innen und -fotograf:innen, kommen im Januar 2025 zu digitalen Seminaren zusammen und im Februar zu einer Projektwoche in die taz nach Berlin. Gemeinsam entwickeln sie zur Bundestagswahl Sonderseiten für die taz – ein Projekt der taz Panter Stiftung.
Schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste, dass man nur von einem (funktionierenden) Staat sprechen könne, wenn die Bürger im öffentlichen Raum an Diskussionen und Justiz teilhaben können.
Denn wenn wir stärker an der Politik teilhaben, dann beschäftigen wir uns auch konkreter mit den jeweiligen Sachverhalten. Somit richten wir unsere Meinungen stärker an der Realität aus. Und auch die Politik orientiert sich dann stärker an faktenbasierten Inputs aus der Gesellschaft. Deswegen sollte der Staat die Zivilgesellschaft stärken, vor allem auch finanziell.
Ein solcher Hebel wäre das Demokratiefördergesetz der Ampel-Regierung gewesen, das Initiativen aus der Zivilgesellschaft fördern sollte. Die nächste Bundesregierung muss dieses Gesetz endlich umsetzen.
Permanenter Bürgerrat
Zweitens braucht es Reformen unseres Staatsaufbaus, die Bürger in wichtige Entscheidungen mit einbeziehen. Der Politikwissenschaftler John P. McCormick schlägt in seinem Buch „Machiavellian Democracy“ für die USA einen permanenten Bürgerrat vor, der jedes Jahr ausschließlich unter „Normalbürgern“ neu ausgelost wird, das heißt unter Menschen, die wahlberechtigt und volljährig sind und nicht zu den Wohlhabendsten gehören. Der Bürgerrat soll zum Beispiel ein Gesetz pro Jahr blockieren, Volksabstimmungen ansetzen und auch begrenzt Repräsentanten des Staates des Amtes entheben können.
Drittens müssen mehr Menschen in zivilgesellschaftliche Prozesse eingebunden werden. Ehrenämter müssen sexy werden.
Am Wichtigsten ist aber der vierte Punkt: Jede/r Bürger:in dieses Staates sollte einmal kritisch in sich gehen. Kein Mensch ist frei von starken Gefühlen und Reflexen. Wir sollten daran arbeiten, diese Emotionen mit der komplexen Realität und den Fakten abzugleichen. Wenn wir lernen, stärker mit dem Gehirn statt mit dem Bauch zu denken, dann hilft das auch unserer Demokratie.
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