Einwanderung und Arbeitskräftemangel: Migrantisches Gold
Es geht nicht mehr nur um die sogenannten Qualifizierten. Deutschland braucht Arbeitskräfte in großer Zahl.
W inter 2022 in Deutschland. Auf dem Flughafen Frankfurt am Main müssen die Passagiere aus den USA eine Stunde auf dem Rollfeld warten: Es gibt keinen Bus, der sie abholt, denn es fehlen Fahrer. In Berlin fehlt Personal, um die Koffer zu verladen. S-Bahn und U-Bahn schrauben die Taktung ihres Schienenverkehrs herunter, weil ihnen die Mitarbeiter ausgehen. Eine Umfrage in bayrischen Kitas und Krippen ergibt: Der Personalmangel dort ist dramatisch und gefährdet das Kindeswohl. Auch in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen fehlt Personal.
Transport, Bildung, Pflege – zentrale Sektoren moderner Gesellschaften kollabieren, weil ihnen Man- und Womanpower fehlt. Deutschland braucht mindestens 400.000 Einwanderer:innen pro Jahr, um seine Infrastruktur am Laufen zu halten und seinen Wohlstand zu bewahren. Unvergessen bleiben zugleich die Polemik und die moralische Panik, als innerhalb eines Jahres plötzlich 800.000 Flüchtlinge zu uns kamen. 2015 war das. „Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns lieb und teuer ist“, musste die Kanzlerin beteuern. Ein Jahr später gingen die Zahlen wieder drastisch zurück.
Nur die Besten der Besten will man anziehen. Deutschland will wählen können, wer hierher darf – zum Beispiel per Punktesystem. Und: Keine „Kulturfremden“ bitte. Doch wir werden erleben, dass dieses Land bald um diese „Kulturfremden“ betteln muss, damit sie nicht in die USA, nach Kanada oder Australien gehen. Während wir hier noch darüber streiten, ob der deutsche Pass die Kirsche auf der Sahnehaube ist oder verramscht wird, wenn Einbürgerungen leichter werden, hat sich Kanada längst von der Vorstellung verabschiedet, nur um den „qualifizierten Facharbeiter“ zu werben. Gesucht werden dort „relevant skilled worker“: Busfahrer, Supermarktverkäufer:innen, Gepäckverlader, Pflegekräfte und Kinderbetreuer:innen.
Deutschland wird nicht mehr Deutschland bleiben, wenn wir nicht endlich eine moderne Migrationspolitik betreiben, die smart und vorausschauend plant und erkennt, worauf wir als große Volkswirtschaft zusteuern, statt sich von rassistischer Panik treiben zu lassen. Wir konkurrieren um migrantisches Gold, weltweit. Das sollten nun jedem klar sein, im Winter 2022 in Deutschland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen