Ein Jahr Meloni: Die disziplinierte Populistin
Vor einem Jahr kam die Rechtspopulistin Giorgia Meloni in Italien an die Macht. Viele im Land und in ganz Europa beunruhigte ihr Sieg. Zu Recht?
Gesiegt hatte da eine, die sich wenige Wochen später in ihrer Antrittsrede vor dem Abgeordnetenhaus als „Underdog“ bezeichnete, als diejenige, „die alle Prognosen über den Haufen geworfen hat“. Jetzt aber saß sie plötzlich an den Schalthebeln der Macht. Jahre aggressiv-nationalistischer Rhetorik zahlten sich nun aus. Geradezu ikonisch war ihr Auftritt auf einer Großkundgebung 2019 geworden, als sie ihr Publikum mit den Worten anbellte: „Ich bin Giorgia, ich bin eine Frau, ich bin eine Mutter, ich bin Italienerin, ich bin Christin“.
Rüde ging sie stets die Linke an, unter der „die Islamisierung Europas“ drohe, die nichts gegen „illegale Immigration“ tue, während es doch darum gehen müsse, „Mauern zu errichten, Seeblockaden zu verhängen“. Und ebenso rüde warf sie ihren politischen Gegnern vor, sie seien „in Europa auf den Knien, um den Franzosen und den Deutschen die Füße zu lecken“, während sie von einer „Regierung der Patrioten“ träumte, für die „Gott, Vaterland und Familie“ an erster Stelle standen.
Entsprechend beunruhigt waren nach Melonis Sieg viele in Italien und in ganz Europa. Drohte Italien jetzt die radikal rechte Wende, der Rollback bei Bürger- und sozialen Rechten, drohten der EU schwere Erschütterungen?
Die Verträge hält sie ein
Schnell jedoch wurde es ruhig um die neue Regierung in Rom. Auf dem Feld der internationalen Politik gab und gibt sich Meloni als zuverlässige NATO- und EU-Partnerin. Ihr Kurs ist dezidiert pro-ukrainisch, bei den Sanktionen gegen Russland ebenso wie bei den Waffenlieferungen an die Ukraine.
Und auch gegenüber der EU hatte Meloni schon im Wahlkampf des vergangenen Jahres das Kunststück fertig gebracht, sich als realistische Populistin zu präsentieren. Sie hatte ihre scharfe Kritik an der EU immer durch den Hinweis ergänzt, natürlich werde Italien unter ihrer Führung die europäischen Verträge einhalten.
Der Auftritt als disziplinierte Populistin verschafft Meloni jedoch ein kräftiges Problem, verengt er doch ihre haushaltspolitischen Spielräume. Einen wahren „Mühlstein“ hätten ihr die unfähigen linken Vorgängerregierungen bei den Finanzen hinterlassen, beklagte sie erst dieser Tage wieder. Sie verschweigt, dass sich Italiens seit Jahrzehnten dramatische Haushaltslage gerade unter den Berlusconi-Regierungen weiter verschlechtert hatte.
Ein Pfad der Sanierung wäre eine entschlossene Bekämpfung der Steuerhinterziehung der Selbstständigen, die nach Auskunft der Finanzbehörden nur ein Drittel ihrer Einkommen versteuern und so für staatliche Einnahmeausfälle von geschätzt 100 Milliarden Euro jährlich sorgen. Doch zu Melonis Programm gehört, diese Klientel – sie ist rechte Kernwählerschaft – weiter zu schonen. Es gehe nicht an, etwa „die Besitzer von Kaffeebars“ zu drangsalieren. Stattdessen legte Meloni eine Übergewinnsteuer für die Banken auf, die allerdings nur rund eine Milliarde Euro pro Jahr einspielen wird – zu wenig, um an der Haushaltssituation viel zu ändern.
Mehr Einsparpotential bot da schon die Sozialpolitik. Eines von Melonis zentralen Wahlversprechen war die Streichung der erst im Jahr 2019 eingeführten Grundsicherung. Sie alimentierte die Ärmsten der Armen, Arbeitslose ohne andere Unterstützung ebenso wie Arbeitsunfähige. Im rechtspopulistischen Weltbild Melonis dagegen lautete der Befund, Arbeitsscheue erhielten Stütze, um es sich – so ihre Worte – auf dem Sofa bequem zu machen und sich von den hart arbeitenden Menschen aushalten zu lassen.
Meloni hielt Wort. Seit August 2023 ist die Grundsicherung für alle jene abgeschafft, die „beschäftigbar“ sind – laut Gesetz alle zwischen 18 und 59 Jahren. Rund acht Milliarden Euro jährlich spart der Staat dank dieser Streichung.
Nur symbolisch Wort hielt Meloni auf dem Feld der Bürgerrechte. Egal ob Abtreibungen, Homoehe oder Genderdiskurse: All dieses Zeug ist der Christin zutiefst zuwider. Doch wieder gibt sie die realistische Populistin. Sie hütet sich davor, am Abtreibungsgesetz oder am Gesetz zu den eingetragenen Lebenspartnerschaften zu rühren, weil sie nur zu gut weiß, dass sie damit in Italien Mehrheiten gegen sich aufbringen würde. Doch ihre Regierung wies die Kommunen an, nicht mehr jene Kinder ins Standesamtsregister als Nachkommen zweier Väter aufzunehmen, die im Ausland per Leihmutterschaft zur Welt kamen. Mehr noch: Die Rechtskoalition brachte einen Gesetzentwurf ein, wonach Leihmutterschaft zum „Universalverbrechen“ erklärt werden soll, zu einem Verbrechen also, das auch dann in Italien verfolgt werden kann, wenn die „Tat“ völlig legal in Kanada oder der Ukraine stattfand.
Dieses Gesetz ist nur ein Beispiel weitgehend folgenloser rechter Identitätspolitik, in der es wenigstens in Italien weniger darum geht, Dinge wirklich zu ändern, als trotzig die Fahne des ultrakonservativen Nationalismus hochzuhalten. Auf diesem Feld profilierte sich ein führender Parteifreund Melonis zum Beispiel mit einem Gesetzesvorschlag, der zum Schutz der italienischen Sprache das Verbot von Anglizismen in staatlichen Dokumenten vorsieht – doch ausgerechnet die Regierung Melonis hatte zuvor das Wirtschaftsministerium in „Ministerium für Unternehmen und für Made in Italy“ umgetauft.
Zum Feld rechter Identitätspolitik gehört auch die Abwehr von Migrant*innen. Hier hat Meloni ebenfalls Wort gehalten, wenn auch einigermaßen erfolglos. Kaum war sie im Amt, setzte sie zwar nicht die „Seeblockade“, wohl aber einen Kurs der systematischen Drangsalierung der in der Seenotrettung tätigen NGOs durch. Pro Einsatz darf nur noch eine Rettungsaktion durchgeführt werden, dann müssen die Schiffe umgehend einen – oft im hohen Norden Italiens liegenden – Hafen ansteuern, wo sie immer wieder für 20 Tage an die Kette gelegt werden und es regelmäßig hohe Geldbußen für die NGOs gibt.
Gebracht hat es nichts, schlicht, weil auch hier die rechtspopulistische Propaganda von den angeblich die Migrant*innen erst anlockenden NGOs mit der Realität wenig zu tun hat. 130.000 Menschen sind im laufenden Jahr bisher übers Meer nach Italien gekommen, fast doppelt so viel wie im gleichen Vorjahreszeitraum.
Und Meloni? Sie will Europa mit der „gemeinsamen Verteidigung der Außengrenzen“ in die Pflicht nehmen, doch die von ihr erträumte europäische Seeblockade zeichnet sich nicht ab. Ansonsten setzt sie darauf, den Geflüchteten das Leben schwerer zu machen, mit auf 18 Monate verlängerter Abschiebehaft, dem Bau neuer Abschiebelager und der Beschleunigung der Abschiebung.
Meloni verweist daher auch nicht auf die nicht erfolgte große Wende, sondern auf kleine Erfolge wie die Zunahme der Beschäftigten um etwa 400.000 binnen eines Jahres oder die Tatsache, dass Italiens Wirtschaft immer noch ein bescheidenes Wachstum vorzuweisen hat, „höher als in Deutschland oder Frankreich“.
Und sie versicherte ihren Anhänger*innen dieser Tage, sie sei „immer noch Giorgia“. Diese glauben es ihr auch. In den letzten Meinungsumfragen liegt Fratelli d’Italia bei 28 bis 30 Prozent, und Meloni selbst darf sich über Vertrauenswerte von bis zu 47 Prozent freuen.
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