Ehemalige Heim-Insassen klagen an: Tränen im Publikum
Jugendliche aus den Haasenburg-Heimen und Mütter, die Kontaktverbot zu ihren Kindern haben, sagten vor einem Hamburger „Tribunal zur Heimerziehung“ aus.
Die „rote Phase“ – das bedeutete für Fabian: Er war nur in seinem Zimmer, durfte seine Eltern nicht sehen, musste klopfen, wenn er auf Toilette wollte, und erst mal fragen, ob er eine Frage stellen darf. Dann erst durfte er fragen, ob er auf die Toilette darf.
Fabian musste täglich „Verhaltenspunkte“ einhalten wie „Ich stelle keine Forderungen“ oder „Ich habe keinen Elternkontakt“. Nur dann bekam er einen „Chip“, den er gegen Selbstverständlichkeiten einlösen konnte. Alles musste Fabian sich so verdienen, sogar das Recht, sein Zimmer zu putzen oder nicht mehr allein im Zimmer zu essen. Die Briefe wurden kontrolliert. „Ich musste meinen Eltern eine heile Welt vorspielen.“
Worunter er am meisten gelitten habe, wollte Jury-Mitglied Sandra Küchler wissen. „Das Eingesperrtsein, die extreme Strenge“, nannte Fabian. „Die Isolation, keinen Kontakt zu den anderen zu haben. Dass ich nichts selbst entscheiden kann. Nicht mal, wann ich zur Toilette gehe.“
Julia, ehemalige Insassin der inzwischen geschlossenen Haasenburg-Heime
Was für Fabian ein Jahr dauerte, musste Julia, heute 25, doppelt so lange ertragen. Sie kam mit zwölf in ein Haasenburg-Heim. Zwei Jahre war sie in der strengen Phase „Rot“. Sie habe sich eigentlich nie den Chip verdient, sagt die junge Frau. Sie berichtet auch von Zwangssport, Zwang zu Kniebeugen. „Man hatte nichts zu sagen, man hatte das auszuführen. Macht man das nicht, wird man bestraft.“ Sie habe oft widersprochen. „Hätte ich nicht so viel diskutiert, hätte ich mir die Zeit leichter gemacht.“
An die frische Luft habe er nur in einem vergitterten Bereich gedurft, berichtete der heute 28-jährige Renzo. In der roten Phase sei man ein „Quasi-Sträfling ohne Rechte“ gewesen. Mit 13 Jahren begann sein Martyrium in der Brandenburger Einrichtung, zu dem auch längere Fixierungen auf einer Liege gehörten. Auch er schaffte es in drei Jahren Haasenburg nur kurz in die „Gelbe“ und nie in die „Grüne Phase“. Wer es dorthin schaffte, durfte in Bungalows wohnen und sich frei auf dem Gelände bewegen.
„Dressur zur Mündigkeit?“, haben die beiden Organisatoren Timm Kunstreich und Wolfgang Rosenkötter das sechsstündige Tribunal genannt, für deren Jury sie anerkannte Fachleute aus der ganzen Republik gewinnen konnten. Dazu aufgerufen hatten das „Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung“ und der „Arbeitskreis kritische Sozialarbeit“. Die 2013 geschlossenen Haasenburg-Heime gelten vielen als „Spitze des Eisbergs“ einer insgesamt problematischen Entwicklung.
Unvollendete Heimreform
Die Heimreform der 1968er- und 1980er-Jahre sei „irgendwo stecken geblieben“, sagte Kunstreich bei der Begrüßung. Es gebe die gute Heimerziehung und die andere, die Demütigung und Begrenzung von Kindern beinhalte und „Regeln ohne Ansehen der Person“. Er hofft, die Ergebnisse des Tribunals in einen Bericht zur Überwachung der Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention einzuspeisen.
Phasenmodelle, also etwa strikte Tagesstruktur, Einschränkung von Heimurlaub, Handynutzung oder Kontakten zu Eltern, sind in Jugendheimen weit verbreitet. Das hatte 2015 eine Anfrage der Hamburger Linksfraktion ergeben, wie deren Referent Ronald Priess als Sachverständiger vor dem Tribunal berichtete.
Die Stadt hat rund 1.700 Kinder in 405 Einrichtungen in anderen Bundesländern untergebracht. Und Heime sehen in der Regel vor, dass es in den ersten zwei bis acht Wochen keinen Heimaturlaub gibt. 79 dieser Heime räumen so eine Isolierungs-Eingangsphase offen ein, 42 haben Phasenmodelle und 115 Punktesysteme zur Verhaltensbewertung. 61 Heime haben eine generelle Kontakteinschränkung, 32 ein generelles Handyverbot und 183 eine interne Beschulung. Die Linke hatte die Anfrage nach Bekanntwerden der Zustände in den schleswig-holsteinischen Friesenhof-Mädchenheimen gestellt, die Hamburg ebenfalls mit Jugendlichen belegt hatte.
Schmerzhafte Kontaktsperre
Wie schmerzhaft allein eine Kontaktsperre aus Elternsicht ist, schilderten zwei Mütter, die ihre Söhne seit Jahren nicht sehen dürfen, damit sie im Heim „ankommen“. Wenn eine andere Mutter sie fragen würde, was sie tun soll, wenn sie ein schwieriges Kind hat und das Jugendamt an sie heran tritt, sagte die eine Frau, dann „würde ich raten, sich eine Anwältin zu nehmen und ganz weit wegzulaufen“. Wolfgang Rosenkötter, Opfer der brutalen Heimerziehung der 1960er-Jahre, beendete seine Befragung mit der beherzten Forderung: „Ich plädiere dafür, Heime völlig abzuschaffen.“
Tribunal-Veranstalter Kunstreich ließ das Für und Wider in einer Art Gerichtsverhandlung „Über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung“ abwägen. Die Kritik daran spitzten die Sozialwissenschaftler Helga Cremer-Schäfer und Friedhelm Peters zu. Geschlossene Unterbringung, von der etwa 1.000 Kinder im Jahr betroffen sind, sei „Ideologieproduktion mit Menschenopfern“, sagte Cremer-Schäfer. Für diese gebe es keine rechtliche Grundlage.
Stichwort „Intensivpädagogik“
Doch zusätzlich hätten sich seit Beginn der 2000er-Jahre in einer Grauzone unter dem Stichwort „Intensivpädagogik“ neue Heimformen mit Zwangscharakter entwickelt, die mit Euphemismen werben, wie etwa dass sie „starke Grenzen setzten“, Kinder in „reizrame Gegenden“ verfrachten, klare „Strukturen vorgeben“ oder hohe Verbindlichkeit einfordern. Auch diese Einrichtungen trügen Züge einer „totalen Institution“, etwa weil Kinder in einem sozialen Raum festgehalten und ihre Handlungsweisen ständig überwacht und an Normen gemessen würden.
Über deren „zerstörerische Folgen“ gebe es seit Anfang des 20. Jahrhunderts „fundiertes empirisches Wissen“, so die beiden Forscher. Ziel totaler Institutionen sei der „kulturelle Sieg“ über die Insassen – um den hohen Preis, ihren Willen zu brechen. Der Wille aber sei Voraussetzung für gelingende Jugendhilfe.
Die „Verteidigung“ in diesem gespielten Prozess übernahmen die Sozialwissenschaftler Tilmann Lutz und Florian Muhl. Sie zitierten den Berliner Hochschullehrer Matthias Schwabe, der schon 2007 proklamierte: „Zwang und Kinderrechte müssen kein Widerspruch sein.“ Zwangsanwendung, wie sie über die Haasenburg geschildert wird, sei in der Form nicht legitim. „Das hat uns genauso schockiert und betroffen gemacht.“ Gleichwohl sei es falsch, deshalb im Umkehrschluss die „notwendige Enttabuisierung von Zwang in der Erziehung“ sowie Phasenkonzepte und den in Einzelfällen für das Wohl des Kindes notwendigen Einschluss „pauschal zu verurteilen“.
Keine pädagogische Rechtfertigung
Die elfköpfige Jury kam nach längerer Diskussion zu dem Fazit, dass es „Dressur zur Mündigkeit“ nicht geben könne und die geschilderten Schlaglichter aus der Praxis „schlicht rechtswidrig“ waren, so der Sprecher Burkhard Plemper. Es gebe „keine Erziehungswissenschaftliche Rechtfertigung“ für eine solche Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Nötig seien vielmehr unterstützende Angebote. Die Praktiker müssten den Jugendlichen zuhören und Gespräche und sichere Orte anbieten.
Ein Problem sei, dass die Jugendhilfe „marktförmig“ organisiert ist. „Es wird damit Geld verdient“, sagte Plemper. „Es gibt ökonomische Interessen, die denen der Betroffenen zuwider laufen.“ Die Jury schlug – in Anlehnung an die 60er- und 80er-Jahre – eine „Heimkampagne 3.0“ vor. „Es spricht nichts dagegen, es jetzt noch mal zu versuchen.“
Das Schlusswort hatten die jungen Leute. Renzo schilderte, wie die Erinnerung an die Haasenburg ihn in Albträumen verfolge und daran hindere, ein normales Leben zu führen. Formen wie Phasenmodelle und „Chip“-Systeme dürfe es nicht mehr geben, sagte Fabian: „Die Meinung von Kindern und Jugendlichen muss ein höheres Gewicht haben.“
*Name geändert
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