ESC-Sieg von Nemo: Von unschüchterner Klarheit

Der ESC-Sieg in Malmö geht an Nemo aus der Schweiz. Vor dem Finale schloss sich Nemo Boykottaufrufen gegen Israels Teilnahme an.

Nemo hält einen Blumenstrauss in der Hand, rosa blaues Konfetti umfliegt ihn

Sieg für die queere Sache: Nemo siegt für die Schweiz beim ESC 2024 Foto: Leonhard Foeger/reuters

BERLIN taz | In der Schweiz, der Heimat dieser sich als nichtbinär verstehenden Person, war Nemo bereits vor der Performance beim 68. Eurovision Song Contest ein Star, ein Wesen der Anmut, des Charmes, auch der Entschlossenheit, den ersehnten Weg zu gehen: Nemo – ein Name, den viele seit dem populären Animationsfilm „Findet Nemo“ von 2003 vor allem mit einem orangefarbenen Fisch verbinden. Nemo (bürgerlicher Nachname: Mettler) wuchs, 1999 als biologisch männlich geborenes Kind einer bohemeaffinen, freisinnigen Familie im deutsch- wie französischsprachigen Biel im Westen der Eidgenossenschaft auf. Nemo – das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „niemand“. So erklärte Nemo also erläuternd: „Meine Eltern dachten, wenn ich niemand bin, kann ich alles werden.“

Als Kind schon lernte Nemo, bald schon kein Nobody mehr – und nach dem ESC-Sieg in Schweden in der Nacht zum Sonntag erst recht nicht –, eine starke Zugewandtheit zu Musikalischem. Lernte verschiedene Instrumente, Geige und Schlagzeug, erkannte, dass Tanz eine schöne Ausdrucksform sein kann, weshalb seine Stage Moves auch beim ESC in jeder Hinsicht artistischen Qualitätsansprüchen genügten.

Nemo steht bei einem Schweizer Zweig einer Major Company der Musikindustrie unter Vertrag – und hat dort bislang alle Erwartungen erfüllt, auch vor dem ESC. Dieses Künstlerwesen rappt, singt auf Schwyzerdütsch, ist von freundlichem Wesen, so sagen es Popmanager im Hintergrund, doch von unschüchterner Klarheit. Attestiert werden kann eine vokale Kunst, die an die Freddie Mercurys heranreicht – Falsett wie Tiefstes bringt Nemo zusammen. In höchstpersönlicher Hinsicht ist über Nemo nur das bekannt, was bekannt werden durfte. In Online-Lexikon-Einträgen ist zu lesen, dass Nemo seit 2021 in Berlin lebt – dem Eldorado für europäische Nonbinary-Wesen – und mit einer Frau liiert ist: Nemo ist, mit anderen Worten, womöglich ein Avantgardewesen neuer Geschlechtersortierungsverständnisse.

Der perfekte Akkord gegen Rechtspopulismus

Das ESC-Siegeslied thematisiert den Weg – und nun auch: einen gewissen künstlerischen Triumph – einer nichtbinär sich verstehenden Person. „The Code“, der Song mit der markanten Hookline, meint, dass Rätsel der Geschlechterbinarität geknackt zu haben – um nun frei und frisch leben zu können. Nemo aus dem Kinofilm war im Übrigen ein Clownfisch, klein und schutzbedürftig: Diese Fischart vermag sich im Laufe ihres Lebens vom männlichen zu einem weiblichen Wesen zu verwandeln.

Nemo ist die dritte queer zu lesende Person, die den ESC-Jackpot knackt: 1998 schaffte das Dana International, die Transfrau aus Israel, 2014 dann Conchita Wurst für Österreich, die Dragqueen mit „Rise Like A Phoenix“. Nemo hat nicht das internationale Televoting gewonnen – doch dass der Sieg verdient ist, daran gab es nach einer glücklichen Performance keinen Zweifel. Zumal: Eurovisionsköniginnen* hat es schon, die eher kühl ihren Sieg nahmen – Nemo zählt nicht dazu. Dieses eidgenössische Wesen ist der perfekte Akkord gegen den Rechtspopulismus in der Schweiz.

In Malmö freute sich Nemo wie ein Kind nach überwältigender Geburtstagsparty. So sehr, dass auf der Bühne sogar die Siegestrophäe in die Brüche ging. Ein Haar in der Suppe könnte bleiben: dass Nemo sich im Vorfeld des ESC sich nicht den Boykottwünschen wider Israel und dessen Sängerin Eden Golan widersetzte, vielmehr eine Künstlerliste mit unterzeichnete, die Waffenstillstand der Kriegshandlungen gegen die Hamas im Gazastreifen forderte. Mithin: eine nichtbinäre Person, die sich den Exkludierungsfantasien gegen eine künstlerische Kollegin und ihr Land in Malmö und in der Zeit zuvor nicht entgegenstellte, kurios.

Flagge zeigen

Klarstellung brauchte dieser Vorfall: Bei der Flaggenparade beim Grand Final am 11. Mai nahm Nemo zwar mit der schweizerischen Fahne teil. Bei der Generalprobe am Samstagnachmittag für diese olympisch anmutenden Geste, wollte Nemo jedoch, wie auch die griechische und die irische Sängerin, nicht teilhaben. Die Presseabteilung des schweizerischen Fernsehens teilte dazu mit: „Der Druck, der auf Nemo lastete, war in diesem Moment enorm, und Nemo fühlte sich emotional nicht in der Lage daran teilzunehmen.“

ESC-Kenner:innen zufolge aber ist diesen Künstlerinnen* signalisiert worden, dass ein Verzicht auf die Parade zum Auftakt der Show Folgen für die Teilhabe der betreffenden Sender im kommenden Jahr haben könnte.

Nemo, so oder so, ist in der schweizerischen Heimat überwiegend heldisch gefeiert worden, begleitet von Äußerungen aus rechtspopulistischer Ecke. Nemo – das ist das Wesen einer Eidgenossenschaft, die auf Diversität halten will.

Anm. der Redaktion: In der ursprünglichen Version dieses Textes hieß es, Nemo habe mit Bezug auf Israel und Eden Golan Exkludierungsfantasien. Tatsächlich hat sich Nemo denn Exkludierungsfantasien nicht entgegengestellt. Wir haben den Text an der Stelle daher präzisiert.

Auch die Absätze zu Nemos Teilnahme an der Flaggenparade wurden am 15.5.24 nachträglich hinzugefügt.

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