Dürre in Syrien: Die Kinder tragen die Wasserlast
In Syrien macht Trockenheit den Menschen zu schaffen und Krankheiten breiten sich aus. Tägliches Wasserholen prägt besonders das Leben der Kleinsten.
Muhammad richtet seine Augen zum Himmel und seufzt. Er hat es eilig: „Ich habe Hunger“, sagt er, „meine Mutter wartet, dass ich Wasser bringe, damit sie Essen zubereiten kann.“ Mit seinen Eltern und zwei Schwestern ist Muhammad aus Ras al-Ain an der Grenze zur Türkei vertrieben worden. Die Türkei und protürkische syrische Gruppen hatten im Oktober 2019 eine Militäroperation auf der syrischen Seite der Grenze gestartet.
Weiter südlich, in dem Teil Syriens, der nicht von der Regierung in Damaskus, sondern von syrischen Kurden kontrolliert wird, fand die Familie Zuflucht – in einem Schulgebäude, das in eine Notunterkunft umgewandelt wurde. Jedes Klassenzimmer wird nun von einer vertriebenen Familie bewohnt.
Wie viele andere Familien in Hassakeh ist Muhammads Familie auf Brunnenwasser unbekannter Herkunft angewiesen, das von Tanklastern zu über die ganze Stadt verstreuten Wassertanks transportiert wird. Wasser holen und nach Hause transportieren – diese Aufgabe prägt das Leben vieler Bewohner der Geflüchtetenlager und Notunterkünfte, insbesondere das der Kinder. Während die Erwachsenen einer Arbeit nachgehen, um ihre Familien ernähren zu können, erschöpft sie das tägliche Wassertragen.
Wasserkrieg mit der Türkei
Die Menschen im Nordosten Syriens litten im letzten Sommer unter der schlimmsten Dürre seit etwa 70 Jahren; dieser Sommer ist etwas besser. Grund für die Trockenheit sind der Klimawandel, Regenmangel und hohe Temperaturen.
Verschärft wird die Krise durch einen Wasserkrieg, den die Türkei gegen die Menschen im Nordosten Syriens führt. Ankara kontrolliert die Quelle des Euphrats, der durch Syrien bis nach Irak fließt. Doch Ankara hält sich nicht an Vereinbarungen eines Abkommens aus dem Jahr 1987 zwischen den drei Ländern. Für Syrien hat sich der Anteil des Wasserdurchflusses von den einst zugesagten 500 Kubikmetern pro Sekunde auf 215 verringert.
Hinzu kommt, dass von der Türkei unterstützte Gruppen in Syrien die Pumpstation Aluk in der Nähe von Ras al-Ain, Muhammads Heimatstadt an der syrisch-türkischen Grenze, kontrollieren. Mehrfach schon haben sie den Wasserfluss unterbrochen, was die Bewohner Hassakehs vor zusätzliche Herausforderungen stellte.
In der Schlange auf dem Hof der Notunterkunft winkt Muhammad plötzlich einer Frau und ruft: „Mama, Mama!“ Seine Mutter Turfa ist gekommen, um nach ihm zu sehen. Turfa, die in ihren Vierzigern ist, erzählt, dass der Krieg sie zur Flucht gezwungen habe. „Vier Jahre nach der Vertreibung leben wir immer noch in einem Raum, der allem anderen gleicht als einer Wohnung“, sagt sie, „keine Möbel, Stromausfälle und Schwierigkeiten mit der Wasserversorgung.“
Von Cholera gezeichnet
Turfa lädt die Reporterin zu sich nach Hause ein. Sie verbringe ihre Tage hinter einer Nähmaschine, erzählt sie, und stelle Kleider für Frauen und Kinder her. Ihr Mann sei aufgrund einer Nervenkrankheit bettlägerig und könne nicht arbeiten. Und weil internationale Organisationen versagt hätten, die Bedürfnisse der Vertriebenen zu befriedigen, sei sie selbst gezwungen gewesen zu arbeiten, um ihre Familie zu unterstützen.
Turfa führt die Reporterin in ihr Zimmer in der umfunktionierten Schule, das – von einer abgenutzten Matte und einigen Kissen und Decken abgesehen – tatsächlich leer ist. Eine Ecke des Zimmers hat sie in eine Küche umgewandelt. Eine Fläche von nicht mehr als einem Quadratmeter dient dem Kleiderwaschen und Geschirrspülen. Hier steht auch eine Reihe von Plastikbehältern, von denen einer für sterilisiertes Trinkwasser reserviert worden ist, nachdem eine von Turfas Töchtern an Cholera erkrankte.
Mit traurigem Blick betrachtet Turfa ihre Tochter Tabarak. Sie ist 13 Jahre alt, doch nach Größe und Gewicht geurteilt dürfte sie nicht älter sein als acht Jahre. Tabaraks Lippen sind blau, die Haut ist blass. Das Mädchen leidet unter einer Cholera-Infektion, die nach Ansicht ihres Arztes dadurch verursacht wurde, dass sie verunreinigtes Trinkwasser trank. Das Wasser aus den Tanks wird nicht auf seine Qualität getestet.
Unsichere Wasserquellen als einzige Wahl
Gesundheitsbehörden vor Ort wie auch internationale Organisationen, die in der Region Hassakeh tätig sind, haben vor Wassermangel und der damit verbundenen hohen Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung von Epidemien und Krankheiten gewarnt. Doch die Bevölkerung hat oftmals keine andere Wahl, als auf unsichere Wasserquellen zurückzugreifen.
Wegen der Erkrankung ihrer Tochter macht sich Turfa nun Vorwürfe: „Ich habe es versäumt, das Trinkwasser abzukochen, nur weil kein Gas zum Kochen vorhanden war. Dabei wusste ich, dass das Wasser aus den Tanks nicht sauber ist“, sagt sie und fügt hinzu: „Mittellosigkeit ist ein langsamer Tod.“
Schon infolge der Coronapandemie war der Wasserverbrauch von Turfas Familie gestiegen, dann kam noch die Cholera hinzu. Um Infektionen weiterer Familienmitlieder zu verhindern, liegt es jetzt in der Verantwortung Muhammads und seiner elfjährigen Schwester Lamar, das Wasser zu transportieren.
Lehrbücher tragen statt Wasser
Cholera breitet sich in Syrien seit vergangenem Jahr zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder aus. Mittlerweile hat es mehr als hunderttausend Fälle gegeben, besonders schwer betroffen ist der Norden des Landes. „Ausbrüche von Cholera treten normalerweise in Gemeinden auf, die Schwierigkeiten haben, Zugang zu sauberem Wasser zu erhalten, und an anderen Orten, an denen die Infrastruktur durch Konflikte oder Naturkatastrophen beschädigt wurde“, sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths.
In der Schlange in dem Hof der Notunterkunft in Hassakeh ist Muhammad mittlerweile nach langem Warten endlich an der Reihe. Er füllt seine zwei Plastikbehälter und trägt sie nach Hause. Es fühlt sich an, als hätte er den Wasserkrieg zumindest an diesem Tag gewonnen. Doch was er sich am meisten wünscht, ist, dass er in seine Stadt Ras al-Ain zurückkehren kann. „Ich möchte nach Hause gehen und Lehrbücher tragen“, sagt er, „nicht diese Plastikbehälter.“
Aus dem Arabischen Jannis Hagmann
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott