Dramatische Lage in Afghanistan: „Zynisch und völlig inakzeptabel“
Die Taliban rücken immer weiter vor. Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen fordert die „rasche koordinierte Evakuierung“ afghanischer Helfer.
Die Bundeswehr habe am Hindukusch „alle Aufträge erfüllt, die ihr der Deutsche Bundestag gegeben hat“, so die CDU-Politikerin. „Was wir augenscheinlich nicht erreicht haben, ist ein dauerhaft und umfassend zum Positiven verändertes Afghanistan.“ Für die Ziele künftiger Auslandseinsätze „sollten wir daraus lernen“. So kann man ein Desaster auch umschreiben.
Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen Anfang Mai haben die Taliban nach und nach immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Alleine am vergangenen Wochenende nahmen sie vier Provinzhauptstädte ein. Auch die strategisch wichtige Großstadt Kundus, in dessen Nähe jahrelang die Bundeswehr stationiert war, ist nunmehr weitgehend in der Hand der islamistischen Fanatiker.
Am Montag eroberten sie die Provinzhauptstadt Aibak in der Provinz Samangan. Die afghanischen Sicherheitskräfte sollen die Stadt mit ihren geschätzt 120.000 Einwohnern einfach verlassen haben. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Taliban auch in Kabul wieder die Macht übernehmen.
Immer schlimmere Gräueltaten
„Ich bin extrem besorgt über die sich verschlechternde Lage in Afghanistan“, sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths in einer Stellungnahme am Montag. Im Juli seien mehr als tausend Menschen durch Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder verletzt worden.
„Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer“, sagte der für Afghanistan zuständige Unicef-Repräsentant Hervé Ludovic De Lys. Laut Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen wurden in den vergangenen drei Tagen in den afghanischen Provinzen Kandahar, Chost and Pakria mindestens 27 Kinder getötet. 136 weitere Minderjährige seien verletzt worden.
„Die Bilder vom raschen Vorrücken der islamistischen Taliban belegen nachdrücklich das klägliche Scheitern der Bundeswehrintervention im 20 Jahre dauernden Nato-Krieg in Afghanistan“, konstatiert die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen. „Es ging entgegen allen Kriegslügen nie um Menschenrechte, sondern allein um finsterste Geopolitik“, sagte Dağdelen der taz.
Das zeige sich jetzt auch in eklatanter Weise im Umgang mit den ehemaligen Ortskräften, die für die Bundeswehr und andere deutsche Stellen in Afghanistan gearbeitet haben. Notwendig sei die „rasche koordinierte Evakuierung“ der einstigen Helfer und deren Familien. Stattdessen jedoch verhandele die Bundesregierung mit den Taliban über eine vermeintliche Sicherheitsgarantie für sie. Das sei „zynisch und völlig inakzeptabel“.
„Schäbiges Kalkül der Bundesregierung“
Scharf kritisiert Dağdelen auch, dass die Bundesregierung nur einem begrenzten Kreis der ehemaligen Ortskräfte einen Anspruch auf Ausreise nach Deutschland zubillige. „Möglichst wenig Ortskräfte aufnehmen zu wollen, ist ein weiterer Beleg für das zynisch schäbige Kalkül der Bundesregierung bei ihrem Afghanistanfeldzug“, sagte sie.
Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums haben bisher 333 frühere Ortskräfte mit 1.342 Familienangehörigen nach Deutschland einreisen können. Sie erhalten aber zunächst nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Viele hoffen noch, ihnen folgen zu können.
Als antragsberechtigt gelten allerdings nur diejenigen Ortskräfte, die in den vergangenen zwei Jahren direkt bei einer deutschen Stelle angestellt waren, zum Beispiel dem Auswärtigen Amt oder dem Entwicklungshilfeministerium. Wer für das Verteidigungs- oder das Innenministerium gearbeitet hat, für den gilt ein etwas längerer Zeitraum.
Während die USA und Großbritannien auch nicht direkt Beschäftigte akzeptieren, reicht Deutschland die Tätigkeit für ein Subunternehmen nicht aus – obwohl sich die Taliban nicht für den Arbeitsvertrag interessieren, sondern dafür, ob man den westlichen Kräften geholfen hat.
Für die Ausreise wird ein Visum des afghanischen Staates benötigt. „Es gibt da offensichtlich gerade einen Engpass“, räumte der Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, Arne Collatz, am Montag ein. „Die afghanischen Behörden schaffen es nicht, die Passpapiere in der nötigen Geschwindigkeit auszuteilen.“
Neuer Lagebericht angekündigt
Dass die Lage in Afghanistan immer unsicherer wird, scheint sich inzwischen bis ins Auswärtige Amt herumgesprochen zu haben. Es bereite „eine Ad-hoc-Aktualisierung des Lageberichtes“ vor, kündigte Ministeriumssprecherin Maria Adebahr am Montag an. Einen genauen Termin zur Veröffentlichung nannte sie jedoch nicht.
Die Lageberichte des Auswärtigen Amts über einzelne Länder sind eine maßgebliche Grundlage für Entscheidungen über Asylanträge und Abschiebungen. Der aktuell gültige Lagebericht zur Situation in Afghanistan zeichnet ein geschöntes Bild der Sicherheitslage und verharmlost den Vormarsch der Taliban.
„Wenn eine Aktualisierung der Lageeinschätzung vorliegt, dann muss man die künftigen Abschiebungen anhand dieser Lageeinschätzung messen“, sagte Innenministeriumssprecher Steve Alter. „Das kann aber erst geschehen, wenn die Analyse vorliegt.“ Bis dahin will das Bundesinnenministerium daran festhalten, Straftäter und Gefährder weiterhin nach Afghanistan abzuschieben.
Bei der Opposition stößt das auf Unverständnis. „Der Fall der ersten Provinz-Hauptstädte zeigt, dass Afghanistan nicht sicher ist und deshalb kein Ziel für Abschiebungen sein kann“, sagte der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour der Deutschen Presse-Agentur. Das sieht die Linkspartei-Politikerin Dağdelen nicht anders: „Auch angesichts der Einnahme größerer Städte durch die Taliban verbietet sich jede Diskussion über Abschiebungen nach Afghanistan.“
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