: „Die waren total progressiv damals“
Die westdeutsche Frauenbewegung habe wenig von den Ostfrauen gelernt, kritisiert die Grüne Ulle Schauws. Trotzdem sei die DDR nicht frei von patriarchalen Rollenbildern gewesen, sagt Netzfeministin Anne Wizorek

Interview Belinda Grasnick
taz: Frau Schauws, Frau Wizorek, 1968 warf eine westdeutsche Feministin Tomaten auf die Männer auf dem Podium des SDS-Kongresses. Was bedeutet dieser Moment für die Geschichte der Frauenbewegung?
Anne Wizorek: Ich hab zwar irgendwann gelernt, dass das ein Ding war, aber als Ostdeutsche hatte ich das ganz lange nicht auf dem Schirm.
Ulle Schauws: Ich verbinde schon etwas mit Helke Sander, deren Rede damals der Auslöser für den Tomatenwurf war. Sie ist mir als einer der führenden Köpfe in der Bewegung bekannt. Mir ist aber auch erst beim Nachlesen klar geworden, was da genau passiert ist. Ich habe den Moment nicht erlebt, so alt bin ich noch nicht.
Wizorek: Das zeigt, wie wenig feministische Geschichtsschreibung im allgemeinen Bewusstsein verankert ist. Selbst als Feministin musst du dir immer wieder neue Sachen aneignen und nachforschen.
Auf Ostseite ist es auch schwierig zu sagen, ob es dort eine Frauenbewegung gab. In der Zeit rund um den Mauerfall war die erste Priorität vermutlich auch nicht, immer alles zu dokumentieren. Da ging es um den Kampf an sich. 1989 gab es das Manifest „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen“ vom Unabhängigen Frauenverband. Da merkt man: Die waren total progressiv damals.
Schauen wir mal auf die Unterschiede zwischen DDR und BRD: Im Osten waren etwa Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen ab 1972 erlaubt. Im Westen werden sie erst seit 1995 geduldet – sind aber bis heute illegal.
Schauws: Im Westen gab es eine total restriktive Reproduktionspolitik. Die Frage von Selbstbestimmung spielte gar keine Rolle. Das war im Osten anders. Der Kompromiss, der zwischen DDR und BRD gefunden werden musste, hat dazu geführt, dass die Abtreibung bis heute im Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch verankert ist und der Abbruch geduldet wird. Im Verhältnis zu vielen anderen Ländern ist das immer noch ein sehr restriktives Gesetz.
Die Pille wurde in DDR und BRD in den 60ern eingeführt. In der DDR nannte man sie „Wunschkindpille“, in der Bundesrepublik sagte man „Antibabypille“.
Anne Wizorek
Jahrgang 1981, ist Autorin und Gründerin des feministischen Blogs kleinerdrei.org. Sie kommt aus Rüdersdorf, Brandenburg.
Wizorek: Es macht schon einen Unterschied, wie man darüber spricht: Geht es eher in Richtung Selbstbestimmung? Oder ist es direkt besetzt mit dem Gedanken, dass jede Eizelle schon kurz vor dem geborenen Kind ist?
Schauws: Ich wusste nicht, dass sie in der DDR so hieß. Das drückt eine positive Haltung gegenüber einer selbstbestimmten Entscheidung aus und spiegelt das Bild einer progressiveren, emanzipatorischen Politik für Frauen. Und auch für Männer, für Familien.
Gleichzeitig sind die Menschen in der DDR viel jünger Eltern geworden. Widerspricht sich das?
Wizorek: Auch eine DDR war natürlich nicht frei vom heteronormativen Bild der Kleinfamilie.
Schauws: Die Frage, wann man Kinder bekommt, ist auch eine Frage der Infrastruktur. Bis heute ist es im Osten so, dass die Kinderbetreuung sehr viel besser ausgebaut ist. Wir haben nach der Wende verpasst, von diesen positiven Betreuungsmöglichkeiten zu lernen. Ich kenne viele, deren Kinder schon über 20 sind, wenn sie selbst 40 sind. Manchmal bin ich echt erstaunt, dass das ein Selbstverständnis ist, eine Normalität. Das ist im Westen eine andere Geschichte.
Im Osten ist es normal, Kinder zu haben und trotzdem zu arbeiten. Und im Westen?
Schauws: Die Richtschnur für Familienpolitik im Westen ist: Kinderbetreuung ist Privatsache.
Anne Wizorek, Netzfeministin
Wizorek: Mich hat das völlig umgehauen, als ich gemerkt habe: Die Frauen im Westen sind dafür zuständig, auf die Kinder aufzupassen. Dieses Prinzip, dass Kinder zum Mittagessen schon wieder zu Hause sind. Dass die Frauen vormittags einkaufen gehen und dann mittags wieder zurück nach Hause müssen.
Schauws: Das klassische Alleinverdienermodell, begünstigt durch das Ehegattensplitting: je weniger eine Frau verdient, desto größer die steuerlichen Vorteile. Das hat sich im Westen nicht verändert. Ganz besonders ausgeprägt ist das in Baden-Württemberg, aber auch in Nordrhein-Westfalen. Dort wird Kinderbetreuung immer noch nicht flächendeckend angeboten.
Wizorek: Wobei es natürlich in der DDR dann wieder andersherum war: Diejenigen, die sich entschieden haben, zu Hause zu bleiben, wurden stigmatisiert. Da hatte man auch keine Wahlfreiheit.
Schauws: Was wurde diesen Frauen denn gesagt?
Wizorek: Es wurde in der DDR lieber gesehen, dass Frauen über die Arbeit zum Kollektiv beitragen. Heute haben wir dafür das Mantra einer angeblichen Leistungsgesellschaft. Wer nichts leistet, ist nichts wert. Dabei wird nur Lohnarbeit als Leistung gesehen und die Befreiung von Frauen nur über Erwerbsarbeit gedacht – dabei wissen wir ja längst, dass das zu kurz greift.
Stichwort Mehrfachbelastung: Auch in der DDR sah das Rollenbild vor, dass die Frau sich um den Haushalt kümmert.
Ulle Schauws
Jahrgang 1966, ist frauenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. Sie kommt aus Krefeld, Nordrhein-Westfalen.
Wizorek: Es gab Haushaltstage. Und da war ganz klar: Das macht die Frau. Am Ende war das also auch wieder das patriarchale Rollenmodell.
Schauws: Ich hatte immer ein idealisiertes Bild von Frauen und Männern in der DDR. Aber dann wurde mir klar: Die Doppelbelastung war trotzdem da. Patriarchale Strukturen sind das Problem und nicht das Drumherum.
Wizorek: Die Vereinbarkeitsdebatte hat aber in der DDR viel früher stattgefunden als im Westen. Während in der Bundesrepublik noch darum gekämpft wurde, überhaupt arbeiten gehen zu dürfen, war die Frage unter DDR-Frauen schon: Wie kriege ich das alles unter einen Hut?
Schauws: Mit der Wende kam eine Annäherungsphase, die darin bestand, zu sagen: Im Westen war alles gut und im Osten nicht. Diese Haltung ist arrogant und nicht hilfreich, insbesondere für die Frauenbewegung. Für feministische Fragen haben wir wirklich etwas verpasst.
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