Die taz und die Neuen Rechten: Die Lügenpresse, das sind wir
Gegen die Elite aus Mainstreammedien und Politik, die die Wahrheit verschweigt, wurde 1979 die taz gegründet. Heute reden Rechte so. Was bedeutet das?
Im Oktober 1979 mogelte sich Rudi Dutschke in Bonn auf eine Pressekonferenz, die der chinesische Ministerpräsident Hua Guofeng und der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt gaben. Er war mit der Akkreditierung eines befreundeten Journalisten hineingekommen und wollte nun Fragen zur Menschenrechtssituation in China stellen. Dutschke hob die Hand. Aber man rief ihn einfach nicht auf.
Wer kam stattdessen dran, um „Pseudofragen“ zu stellen, wie Dutschke es nannte? Das ZDF. Unter schärfstem Protest gegen diese „Manipulationsshow“ verließ er den Saal. Selbst die New York Times berichtete darüber, einen erstaunlich schönen Fehler inklusive: „Red Rudi“ habe eine linke Publikation namens „rageszeitung“ vertreten. Gemeint war die taz.
Dutschke, einigermaßen in Rage, schrieb tags darauf einen Artikel, der auf der Titelseite erschien. Er kritisierte die „künstliche Atmosphäre“, in der „jedes echte Fragen nach Wahrheit“ ausgeschlossen worden sei. Solche Pressegespräche unterlägen der „totalen Kontrolle“.
Es war eine Anklage des korrumpierten Schweinesystems, in dem die anderen Journalisten auch noch mitmachten: Von FAZ bis Frankfurter Rundschau, von Welt bis Bild, befand er, waren keine „echt-demokratischen Fragen zu erhoffen“.
Zwei Monate später starb Dutschke. Hier war er noch einmal in seinem Element.
„Der Bericht dokumentiert eindrucksvoll eine Haltung, die auch die taz prägte“, schrieb Jahrzehnte später Jörg Magenau in einem Buch über die taz: „… die völlige Entfremdung gegenüber dem Staat und die penetrante Selbstgewissheit, dessen ‚Halbwahrheiten und Lügen‘ mit der eigenen ‚Wahrheit‘ entlarven zu können.“ Es waren andere Zeiten. Für die heutige taz, schloss Magenau, wäre so ein Auftritt „einfach nur unprofessionell“.
Jetzt betrachten sich rechte Medien als alternativ
Man kann von Dutschkes verhinderter Ein-Mann-Demo allerdings nicht lesen, ohne das Wissen der Gegenwart im Kopf zu haben. Leute, die gegen „das System“ und eine „Elite“ aus Medien und Politik wettern, welche die „Wahrheit“ verschweige, die gibt es ja nun wieder. Es sind halt nur die anderen.
38 Jahre nach der Gründung der taz betrachten sich rechte Medien als alternativ. Das Monatsmagazin Compact, das Blog „Politically Incorrect“, die Theoriezeitschrift Sezession. Und eine Unzahl von Facebookseiten. „Die neuen Medien erlauben den Aufbau einer Gegenöffentlichkeit. Es sind Versuche auf Graswurzelniveau, um sich das Land zurückzuholen“, schreibt die rechtskonservative Wochenzeitung Junge Freiheit.
Was ist dran an dem Vergleich? Was sagt das über die linken Ziele von damals und die rechten Strategien von heute?
Der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer, der sich als Enthüllungsjournalist für linke Lebenslügen einen Namen gemacht hat, führte im März 2017 vor, warum es so nahe liegt, von den 68ern auf die Neuen Rechten zu kommen. Über ein Interview mit Rudi Dutschke aus dem Jahr 1967 schrieb er: „Wer beim Zuhören die Augen schließt, erkennt viele Parolen wieder, die heute die rechten Provokateure im Munde führen. Da ist die Schmähung der Regierungskabinette als ‚institutionalisierte Lügeninstrumente‘, die Ablehnung des parlamentarischen Systems als manipulativ und unbrauchbar, die Verherrlichung der neuen Bewegung als eine, die ‚die wirklichen Interessen der Bevölkerung‘ ausdrückt.“
Redete Dutschke wie Pegida-Prediger heute?
Was soll man sagen? Im Detail hat Fleischhauer Recht. So wie Dutschke damals redete, reden heute Pegida-Prediger. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen: Zum Glück war Fleischhauer nicht im Archiv der taz. Die erste Ausgabe erschien im April 1979 mit Gedanken von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Rede ist dort von einem Staat, der „jeden Widerstand zu ersticken“ versuche. „Die TAZ wird Säure werden müssen, um gesellschaftliche, politische und persönliche Verkrustungen wegätzen zu können.“ Da Wahrheiten nicht pur zu haben seien, sondern nur gemischt mit Hass, Hoffnungen und Meinungen, müsse man sie „in 10.000 Lügen erzählen“.
Es ist, während man das liest, als säße einem ein kleiner Fleischhauer auf der Schulter und würde rufen: „Es war alles schon mal da. Bei euch, ihr Trottel!“
Was aber unterscheidet das Medienbild der „Lügenpresse“-Rufer von heute von dem der „Bild lügt“-Rufer von damals?
Es lohnt sich, auf der Suche nach einer Antwort ein altes Buch zu lesen. Oskar Negt und Alexander Kluge haben es geschrieben, und man muss gar nicht auf das Erscheinungsdatum schauen, um zu merken, dass es 1972 erschienen ist. Begriffe wie „Verblendungszusammenhang“, „Diktatur der Bourgeoisie“ und „Terrorzusammenhang der modernen Kleinfamilie“ verraten es. Das Buch heißt „Öffentlichkeit und Erfahrung“ und ist die maßgebliche Auseinandersetzung mit der Idee der Gegenöffentlichkeit dieser Zeit.
Alltagserfahrungen vieler Menschen spielen keine Rolle
Gegenöffentlichkeit – das ist stets ein unscharfer Begriff geblieben. Viele halten ihn für unbrauchbar. Auch in der taz gab es diese Stimmen schon in den Achtzigern. Denn Öffentlichkeit lässt sich nicht spalten wie ein Apfel. Wer Öffentlichkeit herstellt, ist dadurch Teil von ihr.
Oskar Negt und Alexander Kluge aber argumentierten, dass es Gegenöffentlichkeit eben doch geben müsse, weil in der Öffentlichkeit einer Klassengesellschaft nur theoretisch all das verhandelt werde, was für wirklich alle wichtig ist. In der Praxis würden die Alltagserfahrungen vieler Menschen keine Rolle spielen; nämlich die der Proletarier.
Sie zeigten das am Beispiel eines Unternehmens: Die Arbeiter, Schutzbrille vor den Augen, sehen darin immer nur ihre paar Quadratmeter Fließband. Die Chefs hingegen haben den ganzen Betrieb im Blick. Sie wissen, wie die Rädchen ineinander greifen. Die Proletarier wüssten also gar nicht, was sie über das kapitalistische System nicht wissen – so könnten sie auch ihre Lage nicht verbessern. Daher brauche es eine Gegenöffentlichkeit, in ihrer Sprache.
Man mag das heute für muffig halten. Verblendungszusammenhang – come on. Bourgeoisie gegen Proletariat – von gestern. In der Medienwelt von damals waren Journalisten sogenannte Gatekeeper, die Nachrichten durchließen oder aussortierten wie Türsteher. Heute kann im Internet ja jede und jeder alles veröffentlichen.
Gespräche zwischen Ungleichen
Das Frappierende ist aber: Wenn man bei Negt und Kluge den Begriff des Proletariers durch den des Pegida-Anhängers ersetzt und „bourgeois“ durch „liberal“, führt das zu einem Verständnis dessen, was mit der „Lügenpresse“-Kritik gemeint sein könnte. Das heißt nicht, dass sie berechtigt wäre. Aber man kommt dem Punkt näher, von dem aus man sich ihre Logik erschließen kann.
Wenn Journalisten auf einer rechten Demonstration mit ihren Kritikern reden, fragen sie zum Beispiel, was sie eigentlich so lesen. Welches Medium hat denn gelogen? Wann? Was genau war falsch?
Dann kommt als Antwort in der Regel nichts, was das Gesellschaftsgespräch voranbringt. Und das ist im Grunde vorher klar. Es sind Gespräche zwischen Ungleichen mit dem Ergebnis: Siehste, die kennen gar nicht, was sie für verlogen halten.
Aus Negts und Kluges Buch kann man ableiten, warum so ein Vorgehen sinnlos ist. Es gibt Menschen, die keine Ahnung haben, wie Journalismus funktioniert, was aber nicht unbedingt ihr Fehler ist. Sie sehen, wenn sie den Fernseher einschalten, eine Weltproduktion, von der sie nicht wissen, wie sie gemacht ist. Warum redet da schon wieder jemand darüber, wie schlimm dieser Trump ist? Oder wie schlecht es den Flüchtlingen geht? Warum redet da keiner über Hartz IV? Oder darüber, ob Kinder nicht eher Mütter brauchen als Kitaplätze?
42 Prozent der Deutschen glauben an Lügenpresse
Wie weit ist es von da zur Frage, ob Journalisten aus dem Kanzleramt gesteuert werden? „Die Medien“ sind „gleichgeschaltete“ „Marionetten“ einer „Kanzlerdiktatorin“: An dieser Darstellung ist jedes Wort Bullshit.
Wie wäre es aber mit dieser Formulierung: Medien und Politik befinden sich in einer geteilten Wirklichkeit, die aber nicht zwangsläufig die von allen Menschen in diesem Land ist. Hartz IV wird in Zeitungen ein Thema, wenn die Politik gerade daran herumschraubt. Sonst eher nicht. Auch wenn es jeden Tag viele Menschen umtreibt.
42 Prozent der Deutschen glauben, dass am „Lügenpresse“-Vorwurf zumindest ein bisschen was dran sei, das hat das Allensbach-Institut gerade ermittelt. 42 Prozent! Womöglich wird da ein Glaubwürdigkeitsproblem, das größer ist, als Pegida je war, von der aufgeputschten Rhetorik nur verdeckt.
Dass auch noch von einer „Elite“ die Rede ist, sorgt schon für das nächste Missverständnis. Schließlich werden auch Redakteurinnen und Redakteure dazu gezählt, die 2.000 Euro brutto verdienen. Doch um wirtschaftlichen Wohlstand geht es nicht. Sondern darum, wer ins Gesellschaftsgespräch eingreifen kann. Die Kommunikationsmittel sind in dieser Logik die Produktionsmittel von heute.
Es war ein Sozialdemokrat des Typs Aktentasche, der die große Verbreitung dieser Logik angestoßen hat. Im Jahr 2010 veröffentlichte Thilo Sarrazin ein Sachbuch, das sich so gut verkaufte wie kaum eines zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik: „Deutschland schafft sich ab“.
Sarrazin bediente Ressentiments
Das Buch wurde rauf- und wieder runterdiskutiert, aber kaum ein Journalist kam auf die Idee, es rundum großartig zu finden. Sarrazin behauptete, alle Thesen mit Zahlen belegen zu können. Aber natürlich gab es keine, die die Notwendigkeit belegten, über „Kopftuchmädchen“ herzuziehen. Er bediente Ressentiments und kaschierte sie mit dem Rechenschieber. Und wurde dafür auch verehrt.
Der Spiegel schrieb einmal über eine Veranstaltung mit ihm in München, es gebe für das Publikum keine bessere Bezeichnung als „Mob“. Adrett zurechtgemacht und nach Eau de Toilette riechend. Aber: ein Mob. Einer, „den es kaum auf den Stühlen hielt, sobald die Rede auf 'die Politik’, ‚die Medien‘ oder ‚die Ausländer‘ kam“.
Der Historiker Volker Weiß betrachtet die Sarrazin-Debatte als den Moment, in dem Themen und Begriffe salonfähig wurden, die bis dato nur in der äußersten Rechten zirkulierten. In seinem jüngst erschienenen Buch „Die autoritäre Revolte“ schreibt Weiß: „Meisterhaft verstand Sarrazin sich auf die Inszenierung als Widerstandskämpfer gegen eine angeblich gleichgeschaltete öffentliche Meinung.“
Aus der Zeit der Sarrazin-Debatte, aus dem September 2010, stammt auch eine Bild-Zeitungs-Titelseite, die ein geflügeltes Wort groß machte: „Diese Sätze muss man sagen dürfen“ stand da. Gemeint waren Weisheiten wie: „Nicht wir müssen uns den Ausländern anpassen, sondern sie sich uns.“ Es war die Zeit, in der sich Widerstand gegen angeblich existierende Sprechverbote formierte.
Sprechverbote. Auch so ein unscharfes Wort aus dem Lexikon des Ausnahmezustands. Es verbietet doch kein Mensch irgendwas. Die Welt wird geradezu mit Wortmeldungen von Leuten geflutet, die sich unglaubliche Unverschämtheiten erlauben.
Manche wähnen sich in einer Diktatur des Liberalen
Aber was, wenn man auch „Sprechverbot“ mal in einen nüchternen Sound übersetzt? Womöglich geht es um die Definition dessen, was als normal gilt. Die hat sich zweifellos verändert, getrieben von einer emanzipierten linksliberalen Avantgarde. Die hat gute Argumente dafür, Begriffe wie „Person of Colour“ zu benutzen und zum Beispiel das N-Wort nicht mehr. Oder sich unter dem Hashtag #aufschrei über ältere Wirtschaftsminister aufzuregen, die junge Frauen vollflirten. Aber wer glaubt, dass der Rest der Welt das sofort versteht, kann aus seinem Milieu lange nicht herausgekommen sein.
Es gibt heute Menschen, die sich in einer Art Diktatur wähnen – in jenem Sinn, in dem bei Oskar Negt und Alexander Kluge 1972 von einer „Diktatur der Bourgeoisie“ die Rede war. Sie wähnen sich in einer Diktatur des Liberalen, die sich nur noch für die Emanzipation immer neuer Minderheiten interessiert: Transgendertoiletten gelten als wichtig, Traditionen nicht. Das ist die Unterstellung. Männer sollen Männer heiraten dürfen, Frauen führen Unternehmen, Kopftücher gehören zu Deutschland, Flüchtlinge dürfen auch einfach rein – es ist nicht mehr so, wie es mal war.
Als die 68er den Vertrieb der Bild-Zeitung blockierten oder Zeitungen aus dem Axel-Springer-Verlag verbrannten, da ging es immer auch um die Gefahr von Meinungsmonopolen. Springer kontrollierte damals mehr als 70 Prozent der Tageszeitungen in Westberlin. Die kommentierten die „Polit-Gammler“ und „rote SA“ in Grund und Boden und riefen dazu auf, die „Drecksarbeit“ gegen den „Terror der Jung-Roten“ nicht allein der Polizei zu überlassen. Kurz danach wurde Rudi Dutschke niedergeschossen.
Aber heute? Meinungsmonopole? In einer Zeit, in der jeder alles ins Internet schreiben kann: in Blogs, auf Facebook, in Kommentarspalten?
Der Punkt ist, dass eine Utopie, die sich mit dem Netz verband, nicht Wirklichkeit wurde – die Utopie der demokratisierenden Kraft. Zunächst schien alles angerichtet, eine große liberale Idee wahr werden zu lassen: Die Grenzen zwischen Sender und Empfänger würden fallen. Alle würden mitreden können.
Vorläufer dieser Art Wut
Es kam so. Nur anders. Die Zahl der Weltinterpreten ist zwar um ein Vielfaches größer als früher. Aber die meistgenutzten Medien sind immer noch die der großen Marken von einst. Blogs erreichen Nischen.
Und Algorithmen, etwa von Facebook, sorgen dafür, dass die Leute in erster Linie das sehen, was sie eh interessiert. In einer dieser Filterblasen wuchs der Zuspruch für die Neuen Rechten, die sich als unterdrückte Minderheit verkaufen, die tapfer gegen „die da oben“ kämpft.
Es gab in den vergangenen Jahren einige Vorläufer dieser Art Wut. Wutbürger – der Spiegel hat das Wort 2010 erfunden und Sarrazins Anhänger damit gemeint. Aber auch die Demonstranten gegen Stuttgart 21, einen neuen Bahnhof in Stuttgart. Zehntausende gingen auf die Straße. Sie wollten den Juchtenkäfer beschützen, der die Platanen im Baugebiet liebt.
Vor allem aber fühlten sie sich von Politik und Wirtschaft übergangen. Durch Stuttgart schallte es: „Lügenpack, Lügenpack!“ Die Kritik an der Eierlosig- und Politikhörigkeit regionaler Zeitungen führte gar zur Gründung der Kontext-Wochenzeitung, die seither samstags der taz beiliegt.
Das Neue war: Hier standen nicht nur die üblichen Verdächtigen auf der Straße; die Castor-Gegner, die Ökos und Pazifisten. Sondern auch die, die früher mit Establishment gemeint gewesen waren. Die Häuslebauer. Die braven CDU-Wähler. Die bewahren wollten, was sie hatten. Nun demonstrierten sie selbst gegen das Establishment.
Auf gewisse Weise verbindet das die wütenden Bürger mit der auf den ersten Blick so fernen Gruppe der sogenannten „besorgten Bürger“. Vor Kurzem hat das Institut der deutschen Wirtschaft eine Studie über die Anhängerschaft der AfD veröffentlicht – und schreibt von einer „Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener“. Diese stünden wirtschaftlich etwas besser da als der Rest, hätten aber große Angst vor der Zukunft.
Erfahrungsberichte wurden eine wichtige Darstellungsform
Die AfD entstand, nachdem Angela Merkel in der Eurokrise eine Politik betrieben hatte, die sie alternativlos nannte. Als Merkel im Sommer 2015 die Grenzen öffnete, kamen lange gehegte Ängste mit einer Berichterstattung zusammen, in der die Begeisterung über die „Willkommenskultur“ überwog. Und rechte Medien konnten sich als Gegenöffentlichkeit darstellen.
Ein entscheidender Punkt dafür, dass ihre Strategie verfängt, ist die Kritik, dass die eigene Erfahrung im Gesellschaftsgespräch keine Rolle zu spielen scheint.
Erfahrungsberichte, oft Facebookposts, dutzendfach, hundertfach, tausendfach geteilt, wurden zu einer wichtigen Darstellungsform. Geschichten über die Angst vor Flüchtlingen, auf manchen Seiten auch „Fickilanten“ genannt, die deutsche Frauen vergewaltigen. Über solche, die ihre Heime selber anzünden.
Betroffenenbericht nannten Linke solche Erfahrungstexte früher. Oskar Negt, der Sozialphilosoph, erklärte in einem Interview 1982, warum solche Texte mal als wesentlich für eine linke Gegenöffentlichkeit galten: „Jeder, der etwas zu sagen hatte, suggerierte durch seinen Erfahrungsbericht Authentizität, einfach dadurch, dass er es sagte.“ Das gilt heute wieder.
Negt sagte auch: „Es war nicht die Frage, ob denn das nun verallgemeinerungsfähige Erfahrungen sind.“ Ein ähnliches Denken heißt jetzt „postfaktisch“ und gilt als Spezialdisziplin der Neuen Rechten, seit der erste AfD-Politiker argumentierte, mit Statistiken über die Kriminalität von Ausländern brauche man ihm nicht zu kommen. Entscheidend sei, was die Menschen fühlen.
Das ist zum Haareraufen. War das Richtige von damals falsch? Ist das Falsche von heute richtig? Das Problem ist: Die These, die Neuen Rechten seien die Achtundsechziger von heute, ist eine strategisch gesetzte Erzählung.
„Propaganda der Gutmenschen“
Die Identitären haben in dieser Auslegung die Rolle der neuen Spontis angenommen; sie werfen bei einem Kongress zum Protestjahr 1968 Flugblätter auf verdutzte Teilnehmer und klettern auf das Brandenburger Tor – wohlwissend, dass Fotografen anrücken, wenn man zu solch spektakulären Mitteln greift. Die rechte Initiative „Ein Prozent für unser Land“ betrachtet sich selbst als ein neues Greenpeace. Der rechte Intellektuelle Hans-Thomas Tillschneider behauptet, er werde für einen „neuen Dutschke“ gehalten.
Der Vergleich selbst ist eine Instrumentalisierung. Die Neuen Rechten bauen gezielt Brücken zwischen rechts und links, um anschlussfähig zu werden auch für jene, die nie mit der NPD marschieren würden. Das Ziel ist, dass ihre Themen dadurch salonfähig werden. Und es funktioniert.
Den Medien wurde mittlerweile so oft vorgeworfen, sie würden nicht wahrheitsgemäß über die Kriminalität von Geflüchteten berichten, dass sie ganz nervös wurden. Rechte Medien hatten das wieder und wieder thematisiert. Und so zog die Debatte Kreise. Das Magazin Cicero schrieb kürzlich, „Political Correctness“ sei auch nicht besser als „Fake News“.
Es sei „Propaganda der Gutmenschen“, wenn etwa eine Redaktion Nachrichten nicht bringe, „weil sie vielleicht ‚Fremdenfeindlichkeit‘ auslösen könnten“. Der Presserat hat nun gerade seine Richtlinien dazu geändert, wann die Herkunft von Straftätern genannt werden soll.
Man sieht, worum es der rechten Gegenöffentlichkeit geht: Themen und Positionen in die Öffentlichkeit einzuspeisen. So wie es auch die taz machte. 1987, acht Jahre nach ihrer Gründung, sagte ein Redakteur, ihre Funktion bestehe darin, in andere Medien hineinzuwirken, sodass ihre Ideen aufgegriffen werden.
Kein Berufsverbot für Andersdenkende
Aber ein entscheidender Unterschied ist: Ziel von linker Gegenöffentlichkeit war es, die bestehenden Medien zu ergänzen, ihnen Stimmen hinzuzufügen. Meinungsmonopole zu verhindern. Zwar behaupten Medien der Neuen Rechten genau das heute auch von sich.
Aber man sieht in Staaten wie Polen und Ungarn, wohin es führen kann, wenn die Autoritären mit ihren Strategien durchkommen: zu Meinungsmonopolen. Vielfältige Berichterstattung ist das, was abgeschafft werden soll.
Bei einer rechten Kundgebung gegen die „verlogene Berichterstattung“ des Südwestrundfunks 2016 kündigten die Veranstalter an, „ehrlich und direkt“ zurückzufunken. Klingt, kühl betrachtet, erst mal nach einer Vergrößerung der Vielfalt. Aber als die Fernsehreporter zu ihm kamen, rief der Redner: „Leute wie Sie gehören … Berufsverbot!“
Rudi Dutschke nahm 1978, ein Jahr vor der Pressekonferenz mit dem chinesischen Ministerpräsidenten, an einem Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland teil. Es war ein detailliert ausgearbeiteter Protest. Gegen Berufsverbote für Andersdenkende.
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