Die steile These: Lasst den Touris ihren Ballermann!
Die Empörung um das dicht gedrängt feiernde Partyvolk auf Mallorca ist verlogen. Denn: Die ganze Welt spielt gerade mit dem Feuer.
D as Ballermann-Bashing hat lange Tradition. Seit Mallorca in den Fünfzigern den Massentourismus für sich entdeckte und seine Küsten mit Bettenburgen zupflasterte, steuerte ein Charterflugzeug voller Tourist:innen nach dem nächsten den mallorquinischen Flughafen Palma de Mallorca an. Endlich konnten sich nicht nur die Schönen und Reichen den Urlaub am Mittelmeer leisten, sondern auch die VW-Arbeiter und Büroangestellten.
Schnell war Mallorca als Putzfraueninsel verschrien und die Akademiker:innen und Unternehmer:innen, die sich dort zufällig kein Feriendomizil à la Claudia Schiffer kaufen konnten, entschieden sich naserümpfend für andere Erholungsorte.
Zu Beginn der Coronapandemie war es dann erst mal für kurze Zeit vorbei mit der verrückten Herumfliegerei. Bis man sich angesichts verständlicher Urlaubssehnsüchte der gestressten Menschen und der Not umsatzabhängiger Hoteliers und Gastronomen auf eine Lösung verständigte: Wenn man das tödliche Virus nicht bekämpfen kann, muss man eben mit ihm leben. Und das heißt: alles hochfahren, was geht. Mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen.
In Spanien machte Mallorca den Anfang. Ab dem 15. Juni wurden 10.900 sogenannte Testurlauber auf der Insel abgesetzt, die unter den Augen der kritischen Öffentlichkeit ein bisschen Versuchskaninchen spielen durften. Na, wie machen sich Uschi und Herbert, denen man ja sonst nicht viel zutraut, bei einem Urlaub, der von Maske tragen, Abstandsregeln und Desinfektionsmittel geprägt ist? Sie machten sich ganz gut, und so kam es, dass die Balearen-Insel seit dem 21. Juni auch für die regulären Urlauber:innen aus dem Schengen-Raum wieder aufmachte.
Und dann das: Die Mallorca Zeitung veröffentlichte am Samstag letzter Woche ein Video, das Szenen von der Bier- und Schinkenstraße in S’Arenal, besser als Ballermann bekannt, zeigt. Zu sehen sind Partyurlauber:innen, die dicht an dicht gedrängt zusammen feiern und trinken. So, als ob die Coronagefahr längst ausgestanden sei.
Eine Ohrfeige für die Dichter-und-Denker-Nation
Schnell ergoss sich eine Welle der Empörung über die dusseligen Deutschen ohne Moral und Sicherheitsabstand. Spanien, das von einem der heftigsten Corona-Ausbrüche Europas gebeutelt ist, fürchtete zu Recht einen Wiederanstieg der Infektionen. Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn warnte: „Wir müssen aufpassen, dass der Ballermann nicht ein zweites Ischgl wird“, und Gesundheitsexperten fordern nun Tests und Quarantäne für die Rückkehrer:innen.
Doch bei allem Verständnis für die Sorge vor einer zweiten, tourismusbedingten Welle und den entsprechenden Maßnahmen – so hat der balearische Tourismusminister Iago Negueruela die Ballermann-Lokale nach dem Partyexzess nun wieder schließen lassen – bleibt doch ein Unbehagen, was den medialen Umgang mit den Ballermann-Tourist:innen betrifft. Denn was haben sie nicht schon alles aushalten müssen?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wie viel hat man schon über die dumm-doof-deutschen Ballermänner und Ballerfrauen geschimpft: kulturlos, geschmacklos – überhaupt, der Abschaum der Gesellschaft. Weil sie „Zehn nackte Friseusen“ grölen, aus riesigen Eimern Sangría trinken und mit Mottoshirts rumlaufen, deren niveaufragliche Sprüche als Ohrfeige für die selbsternannte Dichter-und-Denker-Nation gelten. Die sind ja nicht ganz dicht, freute man sich jedes Mal wieder, wenn eine Gruppe Junggesellinnen oder Kegelbrüder bei RTL 2 über die Mattscheibe hopste.
Und doch ging auch immer eine seltsam-tröstliche Faszination von ihnen aus: Sie, das waren die wirklichen Deutschen, während man selbst durch und durch zivilisiert und damit eben nicht so peinlich kartoffelig war. Kein Wunder also, dass Filme wie „Ballermann 6“ ein so großer Erfolg waren und auch die „Ballermann Hits“ wie geschnitten Brot über die Theke gingen. Denn was man selbst durch Ironie legitimiert genießen konnte, konsumierten die Dummdödel von S’Arenal ohne doppelten Boden und Verstand.
Wet-T-Shirt-Contest im Bierkönig
Auch ich war schon am Ballermann, mit 15 Jahren und zwei Polohemd tragenden „Faserland“-Verschnitten an meiner Seite, ein bisschen dumme deutsche Kartoffeln gucken. Wir sahen im berühmt-berüchtigten Bierkönig einen Wet-T-Shirt-Contest und betrunkenen, wilden Sex am Strand, gleich neben der Spätibude Balneario 6, von dem der Ballermann seinen Namen hat. Und hätten wir damals schon Handys gehabt, hätten wir daraus sicherlich eine pseudolustige Story für Instagram gemacht.
Was wir in unserer ganzen ferienanlagenverwöhnten Hochnäsigkeit nicht kapiert hatten: Wir waren verdammt privilegiert, denn wir hatten unseren Privatstrand, wo wir uns unter Ausschluss der Öffentlichkeit nach Herzenslust betrinken und befummeln konnten, während die Teenager:innen in S’Arenal nur den öffentlichen Strandabschnitt dazu hatten. Okay, sie hätten auch auf ihr billiges, kleines Hotelzimmer gehen können, aber: Sex am Strand ist einfach geil.
Und genau das nervt an dieser verlogenen Diskussion: Klar, wer Geld hat, kann jetzt in seine Ferienvilla an den Luganersee fahren und von dort aus in aller Seelenruhe über Pauschalurlauber:innen lästern. Doch wer während des Coronashutdowns in seiner kleinen Zweizimmerwohnung hockte und im schlimmsten Fall auch noch einem schlecht bezahlten systemrelevanten Beruf nachging, bei dem die Ansteckungsgefahr im Zweifelsfall sogar höher war als bei den ganzen Homeoffice-Schnullies, der muss jetzt auch noch als Buhmann oder -frau für ein grundsätzlich fragwürdiges Wiederhochfahren herhalten – obwohl er oder sie längst nicht die Einzigen sind, die postcoronamäßig drauf sind.
Wenn man nämlich ehrlich ist, spielt gerade die ganze Welt mit dem Feuer – da hätte man an dem beklagten Freitagabend nur einen kleinen Spaziergang durch das hipster- und neuerdings moralgeschwängerte Berlin-Mitte machen müssen, wo sich ähnlich „dramatische“ Szenen wie am Ballermann vor den Bars abspielten. Auch da stand man dicht gedrängt und Küsschen links, Küsschen rechts verteilend bei einem oder mehreren Getränken vor der Tür.
Der Unterschied zwischen Crémant und Aldi-Prosecco
Denn was beim Ballermann-Bashing nur allzu gerne vergessen wird: Es war ja nicht so, dass die Feiernden auf Mallorca zu Hunderten in Indoor-Clubs rumhingen, sondern auch dort fanden die besagten, inhaltlich zu Recht kritisierten Szenen mehr oder weniger an der frischen Luft statt. Doch die Welt scheint einen Unterschied zu machen, ob die Ohne-Maske-und-Sicherheitsabstand-Zusammenstehenden Acne-Jeans tragen und Crémant trinken oder ob sie riesige Neon-Sonnenbrillen auf dem Kopf haben und den guten Prosecco von Aldi im Glas.
Bloß: Während man Pauschalurlauber:innen noch einigermaßen gut kontrollieren kann, weil sie mangels Rückzugsraum unter den Augen der Öffentlichkeit feiern und reisen müssen, kann man das bei den als Digitalnomaden bekannten Töchtern und Söhnen reicher Eltern nicht. Die holen sich ihre Corona-Infektion unter Umständen sogar bei irgendeiner Privatparty in einem 150-Quadratmeter-Loft ab und verteilen das Virus dann beim nächsten Individualtrip auf dem ganzen Globus.
Deshalb: Wer jetzt den Ballermann wieder dichtmacht, müsste eigentlich die ganze Welt dichtmachen. Gründe dafür gibt es zweifelsfrei genug.
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