Die Welt nach den Menschen: Luchs und Wisent grüßen sich

Wenn das Zeitalter der Menschen zu Ende ist, beginnt ein neues. Das wird nicht so apokalyptisch, wie manche denken. Zumindest aus Sicht der Tiere.

Illustration mit Tieren, die aus einer S-Bahn am Berliner Alexanderplatz schauen

Und wer fährt? Illustration: Johanna Walderdorff

Nehmen wir an, die Menschheit wäre an einem tödlichen Virus zugrunde gegangen, ausgestorben. Im Misanthropozän träumt man schon mal von so was. Was würde passieren? Beobachten kann man so etwas seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl: Ein menschenentleertes Gebiet erweist sich für die Pflanzen- und Tierwelt als „wahres Paradies“, wie Biologen diese „Todeszone“ nennen. Was in den Nationalparks bewaffnete Wächter tun, die Störungen in der natürlichen Entwicklung der Arten verhindern, das besorgt in Tschernobyl die radioaktive Strahlung.

Unter den Insekten verursachte sie anfangs Missbildungen. Aber die unbenutzten Flächen mit Wasser, Wäldern, Wiesen wirkten wie ein Magnet auf die Pflanzen und Tiere.

Vögel und Fledermäuse hatten als Erste die 3.500 Quadratkilometer große „Sperrzone“ rekognostiziert. Aber wie wir aus den imperialistischen Kriegen wissen: Die Lufthoheit allein tut es nicht, man braucht Bodentruppen. Und die kamen auch: Rehe, Hirsche, Elche, Mäuse, Wölfe, Füchse, Biber, Fischotter, seit Kurzem auch Wisente. Und diese Tiere zogen wieder andere Tiere und Pflanzen nach sich, nicht zuletzt Insekten. Bald waren alle Nischen besetzt und die Nutzpflanzen verschwunden. In einem solchen „Schutzgebiet“ kann es nur eine „Ökologie ohne Natur“ geben, denn „die Natur“ – oder was man so nennt – wäre mit den Menschen verschwunden.

Die Idee stammt vom Philosophen Timothy Morton. In seinem gleichnamigen Buch versteht er darunter eine Menschheit, die sich mit der sie umgebenden Restnatur so innig identisch macht, dass sich der Naturbegriff auflöst. Die Entwicklung geht heute noch in die entgegengesetzte Richtung einer Auflösung der Biologie – in Physik und Chemie.

Schwache Dörfer, starke Wölfe

Es gibt viele von Menschen verlassene Riesenflächen. Der Philosoph Fahim Amir spricht in seinem Buch „Schwein und Zeit'“ (2018) statt von einem „Paradies“ von einem „ironischen Artenschutz“ – dank ABC-Waffenproduktion: Allein in den USA gibt es 3.000 damit „verseuchte Gebiete“. Ihre Entgiftung ist unfinanzierbar. Als Biologen entdeckten, dass sich dort viele Tiere und Pflanzen ansiedelten, machten sie daraus die „ironischsten Naturparks der Nation“, wo Ranger und Wissenschaftler Jobs fanden. Den Begriff prägten die im „Denver Rocky Mountain Arsenal“ der U.S. Army (dem giftigsten Ort Amerikas), auf einem Areal von 69 Quadratkilometern arbeitenden Naturschützer für das sich dort seit 1984 entwickelnde „Wildlife“.

Ein solches kann sich auch ohne Gifte und gefährliche Strahlen entwickeln, wenn die Menschen sich zurückziehen: Allein in Sibirien betrifft das weit über 15.000 Dörfer, die man teils nicht mehr sieht, weil Pflanzen sie überwucherten und Wind und Wetter sie flachlegten. Es gibt dazu eine „Schwache Dörfer – starke Wölfe“-Theorie. Überall werden Siedlungen aufgegeben. Der Stern berichtete 2019 über „Geisterdörfer, -hotels und -industrieanlagen“ – in Thüringen. An all diesen Orten entwickelt sich sofort ein reges Fauna-und-Flora-Leben.

Die Elbe trennt Klimaräume: Westdeutschland ist atlantisch geprägt und Ostdeutschland kontinental. Im Grunde reicht im Osten die boreale Zone, Tundra und Steppe bis in die Mongolei. Dementsprechend waren einst auch ihre Tiere und Pflanzen verbreitet. Als das ZDF einen Film über die Wolga drehte, verpflichteten sie Wladimir Kaminer, etwas mehr Russisches in den Film zu bekommen, denn: „Die Landschaft ist zwar wunderschön, aber exotische Tiere kann die mittelrussische Ebene nicht bieten.

Die Fauna an der Wolga ist den Deutschen gut vertraut, Wildschweine und Elche, Biber und Schildkröten, Adler, Mäuse und viele Mücken. Das einzige Tier, das es nur an der Wolga gibt, ist der Desman: ein Wassermaulwurf.“ Er wurde wegen seines Fells stark verfolgt, nun aber, ohne Menschen, wird er sich langsam bis an die Elbe verbreiten – und darüber hinaus. Es gibt noch eine Wassermaulwurf-Art in den Pyrenäen, sie waren einst wohl über ganz Europa verbreitet.

Sind die Städte ausgestorben, werden die Dohlen in den geborstenen Kirchtürmen ihre Nistplätze finden

An der Eismeerküste und auf den arktischen Inseln hatten die Sowjets Moschusochsen aus Alaska angesiedelt, kürzlich auch noch eine kleine Bisonherde. Diese würden sich langsam – wie die Rentiere – nach Westen ausbreiten. Ebenso die Braunbären, die es sich im Winter in verlassenen Häusern gemütlich machen.

Andere Tiere, wie Rehe, Hirsche, Wildschweine und Wisente, hat der Mensch in den Wald und zu einer nächtlichen Lebensweise gezwungen. Sie würden auf den Agrarflächen und Parkanlagen wieder ans Tageslicht kommen, denn hier können sie ihre Fressfeinde – Wölfe, Luchse, Vielfraße und Bären – schon von Weitem wahrnehmen.

Wegen der Pandemie hungern derzeit die Stadttiere, denn es fallen nicht mehr so viele Lebensmittelreste ab. Die Dohlen ernähren sich in Berlin schon in normalen Zeiten schlecht: Zwar finden sie genug Kohlehydrate (Brot), aber sie brauchen für die Aufzucht Eiweiß (Insekten, Würmer). Die Sterberate der in der Stadt geborenen Jungen liegt bei 70 bis 100 Prozent, auf dem Land nur bei 25 Prozent. Bei den Krähen in New York ist es anders, sie fressen zu viel Eiweiß und Fett (Hamburgerreste), weswegen sie einen zu hohen Cholesterinspiegel haben.

Wenn die Städte ausgestorben sind, wird sich das ändern, die verwilderten Haustauben werden höchstwahrscheinlich verschwinden, aber die Dohlen werden in den Häusern mit zerbrochenen Fenstern und in den geborstenen Kirchtürmen sicherlich genug Nistplätze finden – und, da die Insekten wieder mehr werden, auch auf alle Fälle genug Nahrung für ihre Jungen. Siebenschläfer, Marder, Waschbären, Marderhunde, Ratten, Fledermäuse und Mauereidechsen ziehen an und in die fast unverwüstlichen Plattenbauten. Ähnliches gilt für Schwalben. Zürcher Stadttierforscher erklären sich das derzeitige Verdrängen der Schwalben durch die Mauersegler damit, dass diese „moderner“ als die Schwalben sind. In zerfallenden Städten könnte es aber wieder umgekehrt kommen.

Tierisches Gang-Leben

Zoologen gehen derzeit davon aus, dass von allen Raubkatzen nur die Hauskatzen überleben werden. Ohne Menschen würde jedoch das Gegenteil eintreten: Die kleinen Katzen werden von größeren Raubkatzen und von großen Raubvögeln gefressen. Die Haushunde schließen sich dagegen zu Rudeln zusammen und beanspruchen ganze Straßenzüge. So etwas ist in Moskau schon jetzt der Fall. In Italien hat man festgestellt: Ihre Reviere sind um Müllhalden zentriert, etwa 57 Quadratkilometer groß, die Reviere der Wölfe umfassen rund 285 Quadratkilometer. Dafür verlagern sich die Reviere der Hunde, wenn sich eine neue Nahrungsquelle auftut, und gelegentlich unternehmen sie Streifzüge über die Grenzen ihres Reviers hinaus.

In Berlin wird es also wahrscheinlich die „SO36-Boys“ und die „Wedding-Gang“ weiterhin geben. Die Biber werden derweil ganze Kieze wiedervernässen, und Holzbockkäfer zusammen mit Birken die Dächer der Bürgerhäuser zum Einsturz bringen.

Die menschengemachte Klimaerwärmung wird sich erledigt haben, aber man muss wohl damit rechnen, dass die afrikanischen Großtiere irgendwann erneut nach Europa vordringen. Gewiss ist, dass einige noch laufende Atomkraftwerke – ohne Menschen – explodieren und beim Zerfall von Fabriken jede Menge Gifte frei werden, wobei etliche Ausbreitungsversuche von Pflanzen und Tieren Rückschläge erleiden.

Aber das macht nichts, denn es verhindert auch die erneute Ansiedlung menschenähnlicher Arschlöcher – von anderen Planeten.

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