Wisent zwischen Tannen

Ja, sie verändern das Ökosystem. Aber wirklich nur zum Schlechten? Wisent im Rothaargebirge Foto: Thomas Lohnes/getty images

Wildtiere im Rothaargebirge:Ein 900 Kilo schweres Problem

Im Sauerland gibt es wilde Wisente. Die Region vermarktet sie als Attraktion, zugleich knabbern sie Bäume an. Ein Ortsbesuch.

Ein Artikel von

24.5.2020, 12:23  Uhr

Die erste Spur findet Stefanie Argow am Nachmittag. Handtellergroß zeichnet sich ein Hufabdruck im Gras zwischen Fichten und Ginsterbüschen ab. fünfzehn Zentimeter lang, elf Zentimeter breit. Die Spur zeigt Argow und ihren Begleitern, in welche Richtung sie weiter­suchen müssen. Mit den Augen auf das Trittsiegel gerichtet, das rechte Bein noch auf dem Weg, das linke schon auf dem grasbewachsenen Hang, ruft Argow: „Hier haben wir was.“

Zwischen den Fichten türmt sich ein olivbrauner Haufen verdautes Gras, fast halb so groß wie Argows Tagesrucksack. Ein fester Klumpen. „Eindeutig Wisent“, sagt ihr Begleiter Jörn Kaufhold, piekst mit einem Stock hinein und kratzt die Oberfläche ab, um die Farbe im Inneren zu prüfen. Ein moschusartiger Geruch steigt auf. „Der ist alt.“ Mindestens eine Woche, vielleicht auch zwei liegt der Haufen bereits.

Stefanie Argow und Jörn Kaufhold sind professionelle Fährtenleser, so wie die Scouts in Westernfilmen, die die Spur eines Reiters im ausgetrockneten Flussbett suchen. Oder die Fährte einer Hirschkuh ver­folgen, bis sie das Tier mit einem Pfeil erlegen. Argow und Kaufhold jagen aber nicht, sie bilden Wildbiologen im Spuren­lesen aus oder unterstützen Wissenschaftler im Monitoring.

Jörn Kaufhold lebt in der Slowakei. Er arbeitet als Spuren­leser für wissenschaftliche Projekte über Wölfe, Luchse und Bären in der Hohen und Niederen Tatra. Er hat als Einziger von uns dreien schon Wisente in freier Natur gesehen. Im Frühling 2018 hatte er sich im Dreiländereck Slowakei/­Polen/Ukrai­ne fünf Tage lang auf die Fährte von Wisenten geheftet und die Herde schließlich gefunden. Er kam so nahe heran, dass er ein Kalb beim Säugen beobachten konnte.

Wir haben uns Mitte Dezember 2019 verabredet, um das ­Leben der Wisente im Rothaargebirge zwischen Wittgensteiner Land und Hochsauerland in Nordrhein-Westfalen zu erkunden. Lange vor Corona, lange bevor es Reiseeinschränkungen gab.

Der Oberbulle kommt zur Paarung

Ungefähr 25 Wisente ziehen nach Angaben des Vereins Wisent Welt Wittgenstein hier über die Hügel, eine Mutterkuhherde und ein einzel­gängerischer Bulle. So wie Wisente eben leben, die Leitkuh mit jüngeren Kühen und Kälbern, dann die Jungbullen in der Nähe und der Oberbulle allein, er stößt nur zur Paarung zur Herde.

Die Bullen können bis zu drei Meter lang und 900 Kilo schwer werden, Wisente sind damit die größten freilebenden Landsäugetiere Europas. Die Wisente sind aber auch eine Touristen­attraktion für die Region: Die Wisent Welt Wittgenstein hat zudem ein Schaugehege mit acht Wisenten auf 20 Hektar eingerichtet. Rund 35.000 BesucherInnen kommen nach Angaben des Vereins jedes Jahr in die Wisent-Wildnis.

Wir wollen drei Tage lang den Fährten der wilden Wisente ­folgen. Wir wollen wissen, was die Tiere fressen und wo sie schlafen, wohin sie sich bewegen, ob sie sich an Bäumen schubbern oder nur auf dem Boden wälzen.

Zum Wir dieser Geschichte gehöre auch ich. Ich bin ebenfalls ausgebildete Spurenleserin, und ich will wissen, wie viel die Zeichen in der Natur von dem Konflikt erzählen, den die Wisente unter den Menschen ausgelöst haben. Denn es geht auch um die Frage, wie viel Platz wir Menschen heute wilden Tieren zugestehen, die lange vor uns in diesem Gebiet lebten.

Die Wisentfreunde streiten sich mit Waldbesitzern, Förstern, Jägern und Lokalpolitikern, ob die Tiere frei herumlaufen dürfen. Es geht um Weltanschauungen und unterschiedliche Interessen – und natürlich um Geld. In Bad Berleburg im Wittgensteiner Land verdienen sie an Touristen, die die „sanften Riesen im Wald“ (NRW-Tourismus-Marketing) sehen wollen. Oder zumindest das Schaugehege besuchen.

Auf der gegenüberliegenden Seite in der Region und in Schmallenberg verdienen Hoteliers, Restaurants und die Stadt am Wintersport, am Wandern und mit „Seelenorten im Sauerland“. Bernhard Halbe, Bürgermeister von Schmallenberg, fürchtet eine „völlige Veränderung des Ökosystems“ durch die Wisente.

Tierfreund Prinz Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg

Er will sie deshalb loswerden. Für Bernd Fuhrmann, Bürgermeister von Bad Berleburg und Vorsitzender des Vereins Wisent Welt Wittgenstein, sind die Tiere dagegen ein Touristenmagnet. Hinter den beiden Kontrahenten stehen verschiedene Restaurant- und Hotelbesitzer, Förster Jäger, Waldbauern – manchmal sind sie auch alles auf einmal.

Die Waldbauern und kommunalen Forstbesitzer rund um Schmallenberg klagen, dass die Wisente ihre Bäume anknabbern, die Tiere fressen auch mal an der Buchenrinde. In abgeschälte Buchenstämme könnten leichter Schädlinge eindringen, klagen die Forstbesitzer. Sie fürchten, dass die Wisente den Wald verändern.

Es war aber seinerzeit ein Waldbesitzer, der überhaupt dafür sorgte, dass die Wisente wieder frei herumlaufen. Prinz Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg stellte 4.000 Hektar seines Waldes für die Auswilderung der Tiere zur Verfügung. Frei ziehende Wisente waren sein Lebenstraum, er störte sich nicht an angebissenen Bäumen. Bis zu seinem Tod 2017 fütterte der passionierte Jäger die Herde im Winter ebenso wie Hunderte von Rothirschen, um sie in seinen Wäldern zu halten.

Infografik: taz

Die Wisente im Rothaar­gebirge sind das, was die Wölfe in Brandenburg sind – Projek­tions­fläche und Hassobjekt. Die Tiere stellen die Allmacht des Menschen in der Landschaft infrage, nachdem Generationen von Förstern und Bauern die Natur in wirtschaftlich nutzbare Fläche verwandelt haben. Mit der Rinde, die die Tiere anfressen, knabbern sie auch am Herrschaftsanspruch der Waldbauern, Förster, Jäger.

Dabei hat jeder größere Sturm im Rothaargebirge mehr Bäume gefällt, als die Wisente je anfressen könnten.

Die Spuren der Wisente erzählen davon, welche Art Lebensraum sie in einer fast vollständig wirtschaftlich genutzten Landschaft benötigen. Wisente finden ebenso wie Wölfe, Luchse, Biber, Kormorane oder Fischotter ihre ökologischen Nischen in dem von Menschen gestalteten Raum. Sie brauchen keine reine Wildnis. Zurzeit überleben sie aber vor allem, weil Artenschutzgesetze sie vor der neuerlichen Ausrottung schützen, weil die Jagd auf sie verboten ist.

Wisente haben einst überall in Mitteleuropa gelebt. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschland rotteten Bauern und Jäger sie vor dem 17. Jahrhundert aus. Den vorerst letzten frei lebenden Wisent in Europa töteten Jäger 1927 im Kaukasus. Alle heute wieder in Europa lebenden 5.000 Wisente stammen von 12 damals in Gehegen gehaltenen Wisenten ab.

„Anregung des Ökotourismus“

„Wisente sind sehr anpassungsfähig, aber ihr idealer Lebensraum sind halboffene Landschaften mit Waldinseln, Weiden, offenen Flusstälern“, sagt Philip Schmitz, der als Biologe die Wisente im Rothaargebirge fünf Jahre lang wissenschaftlich erforscht hat. Das Rothaargebirge sei aus biologischer Sicht für Wisente geeignet, was sich einfach daran zeige, dass „sie da leben und sich reproduzieren“. Die Wisente müssen die Forste, Kahlschläge und Windwurfflächen dort gar nicht umbauen, sie bilden schon einen guten Lebensraum für sie.

Im Rothaargebirge leben sie wieder seit dem 11. April 2013. Eine Herde von acht Tieren wurde an diesem Tag freigelassen. Mehr als die heute 25 Tiere dürfen es laut Vertrag des Vereins über die Auswilderung auch nicht sein. 2013 hatte das Bundesumweltministerium die Freilassung als regionale Tourismusentwicklung finanziert.

515.000 Euro zahlte der Bund für die Anschaffung von acht Tieren, für Gatter und Auswilderung, weitere 378.000 Euro für eine wissenschaftliche Begleitung des Projekts. Zuständig war damals das Bundesamt für Naturschutz. Eine international geschützte Tierart legitimierte die Förderung aus der Staatskasse. Man erhoffte sich einen „positiven Effekt für die Regionalökonomie durch Anregung des Ökotourismus“, wie das Bundesamt zur Begründung schrieb.

Buche mit abgeknabberter Rinde

Angeknabberte Buche Foto: Jörn Kaufhold

Die staatlichen Naturschützer erkannten in dem Projekt auch die Chance, den Einfluss von großen Grasfressern auf Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen in den wirtschaftlich genutzten Waldflächen zu beobachten. In der Expertensprache klang das so: „Mit dieser Huftierart soll das Artenspektrum an einheimischen Großherbivoren vervollständigt werden und die derzeit unbesetzte ökologische Nische des Gras- und Raufutterfressers wieder besetzt werden.“

Auf dieselbe Stelle pinkeln

Wisente fressen nicht nur kiloweise Gras, sie scheiden auch enorme Fladen wieder aus und schaffen damit Lebensraum für jede Menge Mistkäfer. Außerdem bauen sie wie Biber ihren Lebensraum langfristig um. Sie halten Wiesen im Wald frei und schaffen Platz für Gräser und Kräuter.

Da die Bullen immer wieder auf dieselben Stellen pinkeln und sich darin ­wälzen, schaffen Wisente Mikrohabitate, auf denen mehr Kräuter und Gräser wachsen als anderswo und in denen sich Insekten und Frösche wohl fühlen. Die wilden Rinder steigern die ökologische Vielfalt, wie Studien in den großen Wisentgebieten wie dem Białowieża-Urwald zwischen Polen und Weißrussland zeigen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Juristisch sind die Wisente artenschutzrechtlich geschützte Wildtiere im Privatbesitz des Vereins Wisent Welt Wittgenstein, das hat der Bundesgerichtshof im Juli 2019 festgestellt. Das Land Nordrhein-Westfalen beteiligte sich mit 700.000 Euro an der Forschung.

Das Landesumweltministerium muss nun entscheiden, wie viel Platz die Menschen im Rothaargebirge den Tieren abgeben sollen. Um den Streit zwischen Wisentfreunden und Wisentgegnern zu schlichten, hat die Behörde 2019 einen Zaun im Landeswald vorgeschlagen. Die Wisente wären dann inmitten landeseigener Fichten und Buchen eingegattert.

Zunächst waren 1.500 Hektar Landeswald im Gespräch, dann schrumpfte der Raum auf 840 Hektar, seit einer Versammlung von Gegnern und Befürwortern mit NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) im Februar 2020 sind noch 505 Hektar vonseiten der Politik angedacht.

1.500 Hektar – mit Bauchschmerzen

Bisher streifen sie noch über das Zehnfache der Fläche, knapp 5.000 Hektar. „Mit Bauchschmerzen und nur, weil die Situation so verfahren ist“, habe er der ursprünglichen Zaunlösung mit 1.500 Hektar zugestimmt, erklärt Peter Finck, Fachgebietsleiter Biotopschutz und Nationales Naturerbe beim Bundesamt für Naturschutz, im März am Telefon.

Maximal drei bis fünf Jahre könne die Herde eingezäunt werden, dann stoße der Artenschutz an die Grenzen seiner Glaubwürdigkeit. Der geplante Zaun verschiebt die Entscheidung, wie die Tiere leben dürfen, damit lediglich in die Zukunft. Das Problem, dass sie im Rothaargebirge wieder da sind, löst er nicht. „Entweder werden sie dann frei lebende Wildtiere oder man fängt sie alle wieder ein“, sagt Finck.

Fragwürdig ist, ob der Zaun überhaupt rechtlich zulässig ist und sich mit dem europäischen Naturschutzrecht der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) verträgt. Diese verbietet die Verschlechterung eines Habitats für geschützte Arten, von denen es im Rothaargebirge auch Luchse und Wildkatzen gibt. „Alle ins Auge gefassten Lösungen unterliegen zurzeit einer FFH-Vorprüfung“, schreibt ein Sprecher von Umweltministerin Heinen-Esser auf eine Anfrage der taz.

„In jedem Falle sind die Zaun-Lösungen so zu realisieren, dass alle relevanten Arten außer Wisenten und Rothirschen die Flächen aufsuchen und wieder verlassen können“, heißt es weiter. Der Ministeriumssprecher kündigt an, die Herde zu verkleinern. „Im Weiteren wird zu prüfen sein, welche Anzahl der Wisente für den geplanten Übergangszeitraum von drei bis fünf Jahren für die Fläche tragfähig ist.“

Am Ortseingang von Bad Berleburg stimmen naturgetreue Wisent-Skulpturen auf die Attraktion der Stadt ein. Früher lebte der Ort von Krankenhausbetrieb und Kneippkuren, doch nach der Gesundheitsreform blieben von den Kuren nur die Schatten.

Die Stadt brauchte etwas, um ein neues Image nach dem Ende der Kaltwasseranwendungen zu kreieren. Das Stadt- und Regionalmarketing baut heute auf der „Wildnis am Rothaarsteig“ und den „sanften Riesen“ auf, die Wanderer mit etwas Glück in freier Natur sehen könnten. Die NRW-Tourismus-Agentur vermarktet Pauschalreisen rund um die Tiere.

Stefanie Argow, Jörn Kaufhold und ich sind derweil weiter auf Spurensuche. Die Oberkörper gen Boden gebeugt, können wir uns den Weg der Tiere nicht zusammenreimen. Spurenlesen bedeutet, mit nüchternem, fast wissenschaftlichem Blick die Zeichen zu erkennen und eine Geschichte herauszulesen: Bissspuren an Buchenstämmen, Hufabdrücke auf dem Boden, Liegestellen, Kotfladen. Es geht nicht um Hinweise oder um Ideen, sondern darum, Fakten aus dem Matsch zu klauben und sich zu fragen, was sie bedeuten. War das Tier allein? Wenn nicht, wie groß war die Gruppe? Wie alt ist die Spur?

„Du kriegst es nicht hin, wenn du nicht bereit bist, etwas zu opfern“, sagt Jörn Kaufhold, während wir am Waldrand einen Hang hinabgehen. „Viele Kilometer, nasse Füße – irgendwas musst du geben, um belohnt zu werden und die Tiere zu finden.“ Ein Grünspecht ruft. Wie Gelächter begleitet der Ruf seine Flügelschläge zwischen den Buchen. Oberhalb der Baumkronen schreit ein Mäusebussard. Die Buchen, vor 80 Jahren gepflanzt, stehen försterlich geordnet. Unsere Stiefel sind nass, aber unsere Füße noch trocken, keine Spur von einem Wisent.

Marketingexperte Michael Emmrich vertritt mit seiner PR-Agentur den Verein Wisent Welt Wittgenstein. Die Vereinsmitglieder nennt er im Telefongespräch „ein paar idealistische Menschen, die ihre karge Freizeit opfern“. Die Mitglieder und der Vorstand – einschließlich des Bad Berleburger Bürgermeisters Bernd Fuhrmann – zeigen sich zurückhaltend gegenüber den Medien, deshalb spricht Emmrich für den Verein.

Wisent schafft Öko-Vielfalt

Er betreut mit seiner PR-Agentur vor allem die zwei Wirtschaftszweige, die früher und heute die Wirtschaft rund um Bad Berleburg beleben: Gesundheitswirtschaft und Tourismus. Er sponsert mit der Agentur die Wisent Welt. Trotz seiner wirtschaftlichen Verflechtungen kennt er nach eigenen Angaben aber weder die Umsätze noch den Gewinn, den die Wisente der regionalen Tourismuswirtschaft bringen.

„Das Schaugehege ist eine lokale Attraktion“, sagt hingegen Naturschützer Finck, der das Projekt von Beginn an für das Bundesamt für Naturschutz betreut. „Der touristische Projektansatz ist richtig gut aufgegangen.“

Das macht ihn nicht weniger streitbar. Mehrere Waldbauern haben bis zum Bundesgerichtshof geklagt. Bei ihren Streifzügen richten die Wisente in den Forsten der Kleinwaldbesitzer wirtschaftliche Schäden an. Die werden aus einem eigens dafür eingerichteten Fonds entschädigt.

„Man möchte nicht entschädigt werden“, sagt Bernhard Halbe, Bürgermeister von Schmallenberg, über die Waldbauern seiner Gemeinde am Telefon. Jene wollten die 80 oder 100 Jahre alten Buchen und Fichten ernten und das Holz verkaufen.

Noch ein Anruf. Philipp Freiherr Heereman ist am Telefon. Er ist Vorsitzender des Waldbauernverbands Nordrhein-Westfalen, der auch die Privatforstbesitzer im Sauerland und in Schmallenberg vertritt.

In dieser Funktion arbeitet er ebenso wie Bürgermeister Halbe in der Koordinierungsgruppe aus Wisentfreunden und Wisenkritikern, die den Streit schlichten und eine Lösung für das Dilemma finden soll. Ihr für Ende März angesetztes Arbeitstreffen haben sie wegen Corona abgesagt. „Uns geht es nicht um einen Baum“, sagt Heereman. „Wir sorgen uns um die Zukunft des Waldes, wenn die Wisente sich selbst ihr Biotop schaffen.“

Zwei Menschen, über den Waldboden gebeugt

Augen und Nase gen Boden, dann klappt's auch mit der Spurensuche Foto: Jörn Kaufhold

Unstrittig ist, dass Wisente langfristig einen Naturraum verändern und ihre Umgebung gestalten. „Die Wisente zerstören nicht ihren Lebensraum, sie verändern ihn und bauen den Wald um“, sagt Kaja Heising, Wildtiermanagerin und wissenschaftliche Koordinatorin des Wisentprojekts, dazu. „Der Wisent würde auf lange Sicht eine mosaikreiche Landschaft mit vielen verschiedenen Habitaten schaffen.“

Aber gerade das wollen die Waldbauern und Forstbesitzer nicht, sie haben das gesamte Rothaargebirge doch als Fichten- und Buchenforst angelegt. Zwischendrin hektargroße Weihnachtsbaumplantagen.

Wisente stören diese mensch­gemachte Ordnung und den Alleinanspruch auf den Naturraum. Waldbauernvorsitzender Heereman selbst findet die Wisente „faszinierend“. Er fasst den Konflikt so zusammen: „Die richtigen Tiere im falschen Biotop.“

Es riecht nach Rind und Moschus

Den ganzen Vormittag laufen wir durch raureifbesetztes Gras und über nassen Waldboden, bewegen uns einen Hang herunter. Wir folgen einem Plan, den wir am Abend zuvor gemacht haben. Zwei Stunden haben wir Landkarten und Satellitenbilder der Gegend studiert. Wir haben beschlossen, bei Sonnenaufgang zunächst einer der Forststraßen entlang des Rothaarkamms zu folgen und von dort in südöstlicher Richtung am Rand eines Fichtenforsts und einer offenen Fläche den Hang hinabzugehen. Wisente hätten dort beides: den Schutz des Waldes und eine Wiese, denn sie grasen ja wie Kühe.

Zwischen Waldwiese und Forst kreuzen Rehe unseren Weg. Rothirsche kommen vorbei, ein Fuchs läuft längs. Wir folgen einem Wildtierpfad zwischen den 25 Meter hohen Fichten, deren Kronen nach zwei Dürresommern noch grün sind. Der bald erntereife Forst grenzt an eine Schonung, in der die Fichten dichter zusammenstehen, als Menschen in der Corona-Epidemie beisammen sein dürfen.

Eine freie Fläche öffnet sich zwischen Fichtenkulturen und einem Hain, in dem der Besitzer mal was mit Birken probiert hat. Am oberen und unteren Ende der rechteckigen Freifläche steht ein Hochsitz. Jagende Forstbesitzer legen solche baumlosen Flächen an, um dort grasende Hirsche oder Rehe zu schießen. Von den Wisenten fehlt zunächst aber jede Spur.

Nachdem Stefanie Argow den ersten Hufabdruck und Fladen eines Wisents gefunden hat, sehen wir die Spuren überall inmitten einer Fichtenschonung. Alle Spuren sind älter, die Herde ist hier schon vor Tagen durchgezogen. Wisente legen drei, vier Kilometer innerhalb eines Tages zurück. Wir folgen der Fährte in flottem Schritt. Nach acht Kilometern quer über die Hügel finden wir auf einer Hochebene am Zaun einer Weihnachtsbaumplantage einen saftigen grünen Haufen. Er riecht nach Rind und Moschus und zeigt uns, dass wir den Tieren näher kommen.

Ein Wisentpfad hinein in einen Kahlschlag bestätigt unsere Beobachtung, dass Flächen mit hohem Gras, weit auseinanderstehenden jungen Fichten und mal einem Ginsterbusch bei den Wisenten beliebt sind. Immer wieder finden wir auf den zahlreichen Kahlschlägen und Windwurfflächen, auf denen Stürme die Fichtenplantagen umgeworfen haben, Hufabdrücke, Fladen und Liegestellen der Wisente. Auf einer Grasmatte drücken sich die Gelenke eines Wisents ab, dort, wo das Tier sich hingelegt hatte.

Die Tiere nutzen die Flächen, die ihnen die vom Menschen geschaffene Umwelt bietet. So wie die abgeernteten Fichtenforste, die ihre Besitzer so lange nicht aufgeforstet haben, dass mittlerweile hartes Reitgras den Boden bedeckt und jede Naturverjüngung mit den Samen von Ahornen, Birken oder Eicheln verhindert.

Die Wisente brauchen die Wildnis nicht, die ihnen das Marketing andichtet. Sie bauen aber auch den Forst nicht um, sondern nutzen die von Menschen geschaffenen Mosaike in der Landschaft.

Ginster und Gräser

Spuren führen in einen Buchenwald. Ein Tier mit großen Füßen und langen Beinen hat die dicht liegenden Buchenblätter in regelmäßigen Abständen aufgewirbelt und eine Spur von dunklen, noch feucht wirkenden Abdrücken im Laub hinterlassen. Wir sehen die Abdrücke die Böschung hinuntergehen und folgen ihnen.

Bis über die Knöchel sinken wir ins Laub, gehen auf der Fährte durch den Buchenwald den Hang hinab. Zwei, drei Mal sehen wir, wie ein Huf sich in die Erde unter den Blättern gedrückt hat. Das Tier lief hier zielstrebig Fuß in Fuß, ganz in seinem natürlichen Rhythmus.

Wir steigen über heruntergefallene Äste, durchqueren Senken, folgen der Spur den Hang hinab. Jäh endet der Wald an einer Böschung, die der Wisent ebenso gleichmäßig durch die Büsche hinabgestiegen ist. Schritt für Schritt ist er auf einer Forststraße weitergegangen, in einen grasbewachsenen Weg zwischen zwei Fichtenschonungen eingebogen.

Wir bleiben auf seiner Fährte, Adrenalin rauscht durch unsere Blutbahnen. So nahe waren wir noch keinem Wisent in den vergangenen Tagen. Die Fährte führt über eine rechteckige Wiese inmitten der Fichten, an zwei Seiten stehen Hochsitze. Die Spur führt in die mit Gras, Büschen und mannshohen Fichten bewachsene Schonung.

Die Äste verzweigen sich, Brombeerranken, harter Ginster, verfilzte Gräser erschweren den Weg. Wir zögern, der Fährte weiter zu folgen. Wenn der Wisent dort im Dickicht steht, wir ihn überraschen oder ihm zu nahe kommen, könnte es gefährlich werden. Wir wollen kein Risiko eingehen, umrunden die Schonung, gehen auf dem Forstweg weiter. Keine Spur führt aus der Schonung hinaus. Wir haben einen Wisent gefunden. Auch wenn wir ihn nicht sehen.

Während unserer Spuren­suche haben wir auch die Bissspuren gesehen, über die sich die Waldbauern und Wisentfreunde streiten. Wir haben aber keine Beweise dafür gefunden, warum es so dramatisch sein soll, einer Herde Pflanzenfresser ein paar Kahlschläge und Windwurfflächen zu überlassen. Die Landschaft erzählt davon nichts. Nur die Menschen am Telefon sprechen von den Schäden.

Mitarbeit: Stefanie Argow und Jörn Kaufhold

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.