Die Wahrheit: Gelbwurst vom Dealer
Der heiße Scheiß in München, aber außerhalb Bayerns inzwischen vollkommen verboten: Fleisch und Wurst. Eine satte Erzählung aus dem Süden.
Ob er was mitgebracht habe, wollten sie von ihm wissen. Klar, er hatte schon überlegt, was einzustecken. Aber er war eben kein Held. Außerdem hatte er noch im Ohr, was Rainer ihm erzählt hatte. Den hatten sie an der Grenze gefilzt. Rainer schwor, dass er nur drei dünne Scheiben Gelbwurst auf das Brötchen gelegt habe, das er sich für die Heimfahrt geschmiert hatte. Drei Scheiben! Was er damit wolle, hätten sie ihn gefragt. Essen, habe er geantwortet. Eigenbedarf. Aber die Grenzer hätten keine Gnade gekannt. Er sei erkennungsdienstlich behandelt worden. Jetzt warte er auf den Brief von der Staatsanwaltschaft.
Gelbwurst hatte er auch vor Kurzem probiert. Sein Dealer hatte ihm das Zeug empfohlen. In München sei das der heiße Scheiß, hatte der Dealer gesagt. Die Bayern würden das sogar schon ihren Kindern geben. Und wirklich: Es war fantastisch. Noch Stunden nach dem Verzehr musste er von diesem Brühwurstwunderwerk aufstoßen. Dieser Duftmix aus Magensäften und anverdautem Fleisch erinnerte ihn an seine Kindheit.
Klar, die Grünen hatten es gut gemeint. Und es war ja auch richtig, endlich etwas für das Klima zu tun. Aber dass die das Fleischverbot wirklich durchziehen würden, hatte dann doch kaum jemand gedacht. Erst als die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung diese Plakatkampagne gestartet hat, war den meisten klar, dass es das war mit Hüftsteak, Eisbein oder Sülze. „Veggieday 24/7“, so hieß die Kampagne.
Natürlich hatte es Proteste gegeben. Er selbst hatte auch überlegt, auf eine dieser Spaziergänge von „Fridays für Fleisch“ zu gehen, aber er hatte Angst, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Dabei hatte er schon eine ziemlich gute Idee für ein Transparent: „Fleisch ist uns nicht Wurst!“
Als die ersten Metzger, die man zu Floristen umgeschult hatte, anfingen, Tulpen und Gerbera in ihren Geschäften zu verkaufen, hat sich der Protest langsam abgekühlt. Überall im Land – außer in Bayern. Vielleicht hätte er sich abgefunden mit einem Leben ohne Leberwurst und Mett, wenn der Freistaat sich damals nicht zum Fleischstaat erklärt hatte. Die Proteste, die von höchster Stelle in Bayern aus angeführt wurden, hatten zur Folge, dass er immer öfter von Bierschinken, Schwarzgeräuchertem und Kassler träumte.
Die Bayern scheiterten zwar mit ihrer Klage gegen das Fleischverbot vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, aber sie kämpften verbissen weiter. Sie waren ohnehin gekränkt da unten. Erst hatte man ihnen die Grundmandatsklausel bei der Wahlreform genommen, dann war sogar der FC Bayern von der Tabellenspitze der Fußballbundesliga verdrängt worden und nun auch noch das. Zu viel für Bayern.
Hort der Freiheit hinter der Mauer
Zunächst hatte auch er es für einen Scherz gehalten, als der bayerische Ministerpräsident angekündigt hat, die Grenzen zu Baden-Württemberg, Hessen, Thüringen und Sachsen befestigen zu lassen. Niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen, hatte der Landesvater gesagt und dann doch schneller gehandelt, als man es ihm zugetraut hätte. Als der Zaun stand, wurde der Bayxit offiziell verkündet. Deutschland stand unter Schock. Und Bayern ließ sich als Hort der Freiheit feiern.
Zum „Freedom Day“ wurden alle zu Blumenläden ummöblierten Metzgereien wieder ihrer ursprünglichen Funktion zugeführt. In den Wirtshäusern gab es Freifleisch für alle. Das ganze Land soll nach Schweinsbraten geduftet haben, und der Ministerpräsident verspeiste vor laufenden TV-Kameras als Winnetou verkleidet („Auch das lassen wir uns nicht länger verbieten“) zwei Schweinshaxen von veritabler Größe in rekordverdächtigen vier Minuten und 35 Sekunden.
Für Menschen wie ihn, der er in Berlin von Seitanschnitzel, Kartoffelgulasch oder Quinoa Bowls leben musste, muteten diese Bilder an wie Nachrichten aus dem verlorenen Paradies. Er war nicht der Einzige, der bald begann, Fleisch- und Wurstwaren auf dem immer größer werdenden Schattenmarkt zu organisieren. Bald war es nicht mehr möglich, durch Anlagen wie den Görlitzer Park oder die Hasenheide zu gehen, ohne von Dealern, die einem ein paar Gramm, Rind, Schwein oder Lamm zu horrenden Preisen verticken wollten, angesprochen zu werden. Immer wieder versuchte die Polizei mit groß angelegten Razzien, dem illegalen Treiben einen Riegel vorzuschieben. 15 Gramm war die Eigenbedarfsgrenze bei Rindfleisch. Wer die nicht überschritt, wurde nicht weiter behelligt. Er war nicht der Einzige, der das skandalös fand. Wer einmal ein Gulasch kochen wollte, musste nicht nur aufpassen, dass ihn seine Nachbarn nicht denunzierten, er musste schon beim Kauf ein hohes Risiko gehen.
Jürgen war der erste aus ihrer Doppelkopfrunde, der sich aufgemacht hat nach München. Er wusste, dass man dort nicht nur in Metzgereien, sondern auch in Discountern und Verbrauchermärkten ganz legal Fleisch- und Wurstwaren kaufen konnte, und doch konnte er seinen Ohren kaum trauen, als Jürgen erzählte, wie er sich nach der Bockwurst gefühlt hat, die er gleich nach seiner Ankunft in der Stadt in sich hineingeschoben hatte. Auch Rainer war derart beseelt von der abgebräunten Milzwurst, die man ihm in einer Traditionsgaststätte serviert hatte, dass er den Ärger bei der Ausreisekontrolle letztlich gern in Kauf genommen hat.
Magensausen am Ende des Tages
Auch Torsten schwärmte, als er aus München zurückgekommen war. Es sei ihm zwar nicht wirklich gut gegangen, als der Tag, den er mit fünf Weißwürsten begonnen hatte, zu Ende gegangen war. Der Wurstsalat, der Spanferkelbraten, die drei Aufschnittsemmeln, die Leberknödelsuppe, die vier Fleischpflanzerl, die gesottene Ochsenbrust und der gebackene Kalbskopf hätten dann doch Spuren hinterlassen in seinem Magen. Kurz, so erzählte er es, habe er sich gefragt, ob man wohl an einer Überdosis Fleisch sterben könne. Aber schon einen Tag nach seiner Rückkehr nach Deutschland erzählte er von seinem München-Trip, als habe ihm jemand für einen Tag die Tür zum Paradies geöffnet.
Und ja, so hatte er es auch empfunden in München. Fassungslos stand er vor den Vitrinen der Metzgerei, die er, kaum war er aus dem Zug gestiegen, betreten hatte. Er spürte, wie ihm Tränen die Wange hinabliefen und merkte wahrscheinlich viel zu spät, dass im Laden bereits Unmut über ihn aufgekommen war. Diesen Fleischtouristen aus Deutschland müsse man mal einen Riegel vorschieben, meinte ein Einheimischer. In den Laden kommen, schauen, staunen, sich nicht entscheiden können und den ganzen Betrieb aufhalten, so gehe das nicht weiter.
Schnell bestellte er eine Leberkässemmel. Er hatte den Laden noch nicht verlassen, da hatte er sie schon zur Hälfte verzehrt. Jetzt wusste er wieder, wie Freiheit schmeckte – nach Leberkäse mit süßem Senf. Ein Traum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft