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taz FUTURZWEI

Die Wahlanalyse von Udo Knapp Die Verwässerung des Friedrich Merz

Mit einer Regierung aus Union und SPD wird es bestenfalls so weiter gehen wie bisher. Als Kollateralschaden kann eine insgesamt autoritärere Republik entstehen.

Vorbereitung zum Machtantritt: Am Ende wird sich mit der neuen Koalition nicht viel ändern Foto: picture alliance/dpa | Sebastian Christoph Gollnow

taz FUTURZWEI | Ich habe den Sonntag als Wahlhelfer in einem Wahllokal in Berlin-Kreuzberg verbracht. Gegen Mittag hat, nach vielen anderen, mit und ohne Kopftücher, ein älteres Ehepaar türkischer Herkunft gewählt. Er versenkt seinen Wahlschein in der Urne, dreht sich um und fordert einen anderen Wahlhelfer auf, ihn, seine Gattin und mich in ihrer Mitte zu fotografieren, während seine Gattin ihren Wahlschein einwirft.

Deutsches Selbstbewusstsein mit Migrationsgeschichte, die freundliche Umarmung als Bekräftigung ihrer Bürgerpflicht. Die beiden haben sieben Kinder, sechs von ihnen wurden in Deutschland geboren, alle haben erfolgreich studiert, seit so vielen Jahren leben sie in einer Vierzimmerwohnung in der Skalitzer Straße.

Ich bin so froh gewesen nach dem Auftritt der Beiden, dass mir der Rest des Tages leicht gefallen ist. Mein Gefühl war: Die deutsche Migrationsgesellschaft zeigt sich an diesem Sonntag an der Wahlurne von ihrer besten, nämlich alles Gegensätzliche zusammenführenden Seite. Wir leben in Deutschland in einer stabilen Demokratie. 82,5 Prozent Wahlbeteiligung sind dafür eine klare Ansage.

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Ernüchterndes Ergebnis

Zum Ergebnis: Friedrich Merz (CDU) wollte mehr als 30 Prozent der Stimmen, es wurden 28,5. Der künftige Ex Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat bis zur Öffnung der Wahllokale immer wieder erklärt er werde gewinnen, obwohl die historisch schlechten 16,5 Prozent seit Wochen für jeden Doofen als das Optimum für die SPD erkennbar waren. Robert Habeck (Die Grünen) hat seine intellektuellen Qualitäten demütig hinter einer pragmatischen Polit-Rücksicht versteckt. Dahinter ist er selbst fast völlig verschwunden. Immerhin sind dabei 11,6 Prozent raus gekommen. Warum er jetzt kein Führungsamt mehr annehmen will, ist nicht nachvollziehbar.

Alle drei Spitzenpolitiker haben sich in ihren langweiligen Auftritten keine politischen Debatten geliefert. Ihr Reden war geprägt von der leeren Sprache und der Lösungslogik von Problemsachbearbeitern.

Ihr belangloses Zahlengeklingel, ihr Hin und Her-Gerede hat nur verdeckt, dass allen Dreien die Leidenschaft für Politik völlig abgehen. Sie haben es noch nicht mal hinbekommen, die Lügen, die Demokratiefeindschaft und die Putinfreundschaft von Alice Weidel (AfD) und ihren Wählern entschieden und hart zurück zu weisen.

Bild: privat
Udo Knapp

Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.

Die Mängel der politischen Mitte

Es reicht eben nicht, die AfD als Schmuddelkinder auszugrenzen. Sie sind Feinde der Freiheit, ihre Partei gehört verboten. Die AfD-Mehrheiten in allen neuen Bundesländern sind auch eine Quittung dafür, dass den neuen Bundesbürgern die Wiedervereinigung ohne jede politische Zumutung bezahlt worden ist.

Es scheint fast so, als ob ein wachsender Typus Ossi seine gute alte Mauer wiederhaben will.

Es verwundert übrigens nicht, dass die Linkspartei mit ihrer Kampagne erfolgreich war, die auf unangepasste Opposition aufbaute. Hier die drei „Silberlocken“ Gysi, Ramelow und Bartsch (die ersten beiden gewannen Direktmandate) in der Rolle der verantwortungsbewussten, erfahrenen Politalten, dort die tätowierte Influencerin Heidi Reichinnek als Gesicht einer aktuellen Jugendkultur, das war eine gelungene Präsentation als lebendige Oppositionelle, in einem schmerzend unpolitischen Wahlkampf.

Und jetzt – FDP raus, BSW nicht drin, beides keine Verluste, aber mit dem Effekt, dass es für Union und SPD zu einer Regierungsmehrheit reicht und die Grünen in der Opposition gelandet sind.

Heißt: Friedrich Merz muss jetzt mit der SPD zusammen regieren. Betonung auf „zusammen“. Durchregieren wird es nicht geben. Dabei verlangen die aktuellen Probleme mutige Entscheidungen.

Der „Westen“ am Ende

Die Nachkriegsordnung des Westens ist erst jetzt wirklich zu Ende gegangen. Als stärkste europäische Zentralmacht muss Deutschland in eigenem Interesse die Integration der EU vertiefen, die Verteidigungsfähigkeit voranbringen und Sicherheitstruppen für die Restukraine aufstellen.

Ein etwaiger Versuch, einen Wiederaufschwung der Wirtschaft mit Steuergeschenken und dem Rückbau der erfolgreichen Ansätze grüner Transformation zu erzwingen, würde nicht zum Aufschwung führen, sondern die Krise nur vertiefen.

Eine scharfe Antimigrationspolitik kann die Integration der EU zerreißen, ohne die Migration sinnvoll zu steuern. Eine Aufhebung der Schuldenbremse ist wegen der neuen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nicht machbar.

Verwässerung und das „Weiter so“

Ohne Strukturänderungen in allen sozialen Systemen wird die Finanzierung aller anstehenden Aufgaben also kaum möglich sein. Das Bürgergeld abschaffen, die Renten mit Aktienspekulation sichern, die Wohnungskrise mit mehr Markt und der Aufhebung heutiger Bau-Vorschriften lösen – alles das wird die SPD am Ende so verwässern, dass es überhaupt kein Vorankommen geben wird.

Das heißt: Mit einer Regierung aus Union und SPD wird es bestenfalls so weiter gehen wie bisher. Die Republik wird dabei aber keinen Schaden nehmen, alles wird nicht so schlimm, wie es gerade erscheint.

Die Risiken der „großen Koalitionen“

Allerdings kann diese Politik dazu führen, dass die AfD sich weiter stabilisiert und bei künftigen Landtagswahlen im Osten sogar Regierungsmacht gewinnt – etwa in Mecklenburg-Vorpommern. Viel spricht dafür, dass CDU und SPD die sogenannte Brandmauer zu AfD zwar nicht einreißen, aber sich weiter von der AfD treiben lassen und sich von ihr die Themen und Inhalte setzen lassen.

In der Folge kann eine insgesamt autoritärere Republik entstehen. Es ist offen, ob Grüne oder Linke diese Entwicklung mit einer konstruktiven Opposition und dem Bild einer freiheitlichen und machbaren ökologischen Republik aufhalten können. Zu Untergangsstimmungen gibt es dennoch keinen Grund.

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