Die Ukraine nach Selenskis Wahlsieg: Sprachlos in Kiew
Die Ukraine wird von einem Serienhelden regiert, der mehr von russischen Comedians versteht als vom eigenen Land. Ein intellektuelles Desaster.
I m April 2019 wählte die Bevölkerung der Ukraine einen neuen Präsidenten. Wolodimir Selenski, Komiker und Fernsehproduzent ohne politische Erfahrung, setzte sich deutlich gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko durch, und im Sommer eroberte seine Partei „Diener des Volkes“ die absolute Mehrheit im ukrainischen Parlament. Nun ist die Ukraine seit einiger Zeit wieder in den Schlagzeilen. Doch der Wirbel betrifft fast ausschließlich ein Telefonat zwischen dem amerikanischen und dem ukrainischen Präsidenten und dessen mögliche Auswirkungen auf die amerikanische Innenpolitik.
Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es in dem Telefonat um Panzerabwehrwaffen für das ukrainische Militär ging, um der russischen Aggression zu begegnen. Und auch die aktuellen Zugeständnisse des ukrainischen Präsidenten gegenüber Putin müssen erwähnt werden, mit der er Bewegung in die Verhandlungen über die Ostukraine bringen will. Dieses Entgegenkommen sehen viele Ukrainer skeptisch, vor allem jene, die für eine demokratische Zivilgesellschaft auf dem Maidan eingetreten sind, unter ihnen auch zahlreiche SchriftstellerInnen und Intellektuelle.
Die Skepsis hängt mit der Sensibilität von Intellektuellen für das Spiel mit Fiktion, virtuellen Welten und medialen Blasen zusammen. Die Wahl Selenskis zum Präsidenten ist solch ein Spiel mit virtueller Realität. In der Fernseh-Satire „Diener des Volkes“ spielt Selenski einen leicht tollpatschigen Geschichtslehrer, der von der Politik genervt ist und ständig Schimpftiraden loslässt, die seine Schüler heimlich filmen und bei YouTube hochladen. Daraufhin wird der unerfahrene, aber ehrliche Lehrer zum Präsidenten gewählt und tritt an zum Kampf gegen Korruption und Oligarchen.
Es ist eine hübsche Geschichte, vor der jedoch ukrainische AutorInnen wie Juri Andruchowytsch, Oksana Sabuschko oder Serhij Zhadan warnen. Denn im April wurde eher der Serienheld gewählt als ein echter Präsidentschaftskandidat. Selenski und sein Team konstruierten sehr erfolgreich eine Scheinwelt, an die sie offensichtlich selbst glauben. Das Erwachen in der Wirklichkeit könnte jedoch sehr enttäuschend werden für die Bevölkerung.
Der Nutzen intellektueller Tätigkeit
Intellektuelle sollten nicht zu begeistert von Regierungen sein, gerade wenn sie deren Werte teilen. Eine kritische Haltung gegenüber der Regierung und allem, was sie tut, ist der eigentliche Nutzen intellektueller Tätigkeit. Eine Auswechslung politischer Eliten erfolgt allerdings nur durch die Mehrheit der Wählerschaft. In seltenen Fällen spielen dabei Vertreter der intellektuellen Minderheit eine Rolle.
Präsident Selenski gibt sich als volksverbundener Präsident, und deshalb scheinen ihm die Themen, die Intellektuelle und KünstlerInnen ansprechen, kaum nachvollziehbar oder seriös. Von manchen hört und sieht er überhaupt zum ersten Mal. Er kann nicht mit ihnen kommunizieren, und die negative Haltung des überwiegenden Teils der ukrainischen Intellektuellen gegenüber dem Präsidenten lässt sich ganz gut mit dem Sprichwort fassen: „Wie der Ochs vorm Berg.“
Und tatsächlich steht Selenski vor einem Berg von Ereignissen, Menschen und Situationen, die die ukrainische Gesellschaft gerade durchgemacht hat oder durchmacht und die von Intellektuellen bereits vielfach kommentiert wurden. Doch beim Präsidenten hat man den Eindruck, er hört und sieht das alles zum ersten Mal.
Der Kern des Problems ist nicht einmal, dass er als Newcomer die politische Bühne betritt. Mit Ausnahme des Apparatschiks Leonid Krawtschuk war kein ukrainischer Präsident jemals Berufspolitiker. Die ukrainische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht erfrischend unkonventionell. Es geht vielmehr darum, dass die Gesellschaft mit der Präsidentenwahl ein Konsumverhalten an den Tag legte.
KonsumentInnen sind offensichtlich in der Mehrheit und ihre Interessen sind natürlich nicht nur werbekonform oder auf feste Gehälter, regelmäßigen Urlaub, niedrige Preise für Strom und Heizung und dergleichen ausgerichtet. KonsumentInnen wollen keine Kämpfe und keine Aufarbeitung individueller und kollektiver Traumata, sie wollen keine sozialen Herausforderungen bestehen, sich mit gesellschaftlichen Missständen, auch zukünftigen, auseinandersetzen, sie wollen nichts zu nah an ihre Komfortzone heranlassen.
ist Schriftstellerin, Funk- und Fernsehjournalistin, Rechtsanwältin und NGO-Aktivistin. Sie lebt in Kiew.
Das ist natürlich eine grobe Verallgemeinerung. Darum zurück zur öffentlichen Rolle der Intellektuellen. Sie sollten allgemeinverständlich eine kritische Sicht auf das aktuelle politische Geschehen formulieren und sich entgegen dem verbreiteten Konsumverhalten auch für soziale und kulturelle Ziele einsetzen.
ist Slawist und Literaturübersetzer. Er lebt in Berlin.
Wie der Ochs vorm Berg
Der gegenwärtige Präsident der Ukraine ist ein Mensch mit einem anderen soziokulturellen Code. Mit den kulturellen Grundwerten europäischer PolitikerInnen hat er nur wenig gemeinsam.
Während viele europäische PolitikerInnen zumindest vorgeben, das kulturelle Gedächtnis mit den Intellektuellen und KünstlerInnen in ihrem Land zu teilen und Debatten über soziale und kulturelle Werte nachvollziehen zu können, weiß der ukrainische Präsident nichts davon. Er steht wie der Ochs vorm Berg. Seine Referenz sind russische Comedians. Aber hat er schon einmal etwas von den ukrainischen DissidentInnen Iwan und Nadija Switlitschnyj gehört? Das ist eine andere Art der Kommunikation und Sprache.
SchriftstellerInnen und Intellektuelle arbeiten mit Sprache. Wenn man zum ersten Mal einen Menschen trifft, hört man nicht nur, was er sagt, sondern nimmt auch wahr, wie er es sagt. Wie der Präsident spricht und wie er kommuniziert, ist für die Mehrheit der Intellektuellen in der Ukraine unannehmbar. Es ist eine sprachliche und intellektuelle Vergewaltigung. Dass dies passieren konnte, dafür fühlen die Intellektuellen und Künstler eine Schuld. Sie ärgern sich über sich und andere, sie schämen sich für ihr Land – und vor allem vor sich selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben