Die Linke und ihre Wählerschaft: Früher East Side, jetzt West Side Story
Seit der „Flüchtlingskrise“ ist die Linke im Osten keine Volkspartei mehr, zwei Drittel der Bundestagsfraktion kommt aus dem Westen.
Genauso stellt man sich das vor in Sachsen, wo die AfD bei der Bundestagswahl stärkste Partei wurde und die Linke einbrach.
„Wenn jemand bei uns an der Haustür klingelt und um Hilfe bittet“, sagt der Mann, „aber ich merke, dass der lügt, dann sag ich: Nee. Geht nicht.“ Und: „Die Linke stellt sich nu aber vor solche Leute und sagt: Zwangsabschiebungen machen wir nicht.“
Er schaut Hahn fragend an. Hahn kaut an einem Hackepeterbrötchen.
Die neuen Bundesländer, sie waren immer eine Hochburg der Linkspartei, noch 2009 stimmten dort knapp 30 Prozent der WählerInnen für sie. Mittlerweile hat sich der Anteil der LinkenwählerInnen fast halbiert.
Den PDS-Nachfolgern, einst unangefochten zweitstärkste Kraft hinter der CDU, droht im Osten das Schicksal der SPD – eine Existenz als Zehnprozentpartei. Nur ohne Regierungsoption.
Die Genossen wissen, dass die Verluste der Linken im Osten mit der liberalen Haltung der Partei zu Flüchtlingen zusammenhängen. „Zwar gestanden viele Personen ein, die Linke gut zu finden, aber auf Grund der ‚Flüchtlingspolitik‘ ihr Kreuz bei der AfD zu machen“, heißt es in einer parteiinternen Wahlauswertung. Bundesweit wechselten 420.000 WählerInnen von der Linken zur AfD. Zu keiner anderen Partei wanderten so viele LinkenwählerInnen ab. Im Wahlkampf, berichtet ein Genosse aus Sachsen, musste er sich anhören, die Linke mache ja nur noch Politik für Schwule und Ausländer.
Bundesweit kam die Linkspartei trotzdem auf 9,2 Prozent. Zugewinne im Westen kompensierten die Verluste im Osten. Von der SPD kamen 700.000 WählerInnen, 330.000 von den Grünen, 590.000 waren ehemalige NichtwählerInnen. Die Wählerschaft der Linken hat sich verändert. Sie ist jünger, gebildeter und westlicher als früher. Bestand die Bundestagsfraktion bisher zur Hälfte aus Abgeordneten aus dem Osten und dem Westen, kommen nun zwei Drittel aus den alten Bundesländern. Die Ostländer planen, sich zur Landesgruppe Ost zusammenzuschließen, um ihre Interessen besser koordinieren zu können.
Eine Runde Wodka
Die einstige ostdeutsche Regionalpartei verändert sich im elften Jahr ihrer Gründung gerade gewaltig. In welche Richtung, ist noch nicht ausgemacht. Ähnlich einer Halbwüchsigen, die halb frohlockend, halb unbehaglich in die Pubertät eintritt.
Michel Brandt, West-Linker
Das neue Gesicht der Linken ist jung. Und unprätentiös. Einen Führerschein besitzt Michel Brandt nicht. Er trägt am liebsten Kapuzenpulli und Turnschuhe. Brandt, Platz 6 der baden-württembergischen Landesliste, hat vor zehn Jahren das Abitur abgebrochen, um über eine Begabtenprüfung seinen Traumberuf zu studieren: Schauspieler. Gerade noch hat er am Badischen Staatstheater den Werther gegeben, jetzt lässt er den Beruf ruhen.
Den Wahlabend verbrachte Brandt mit 170 Linken-Anhängern in einer alternativen Bar in Karlsruhe, wo er gebannt die Hochrechnungen verfolgte. Erst um fünf Uhr morgens war klar: Die Linke in Baden-Württemberg entsendet sechs Abgeordnete in den Bundestag. Brandt war drin. Er bestellte eine Runde Wodka. Dann legte er sich eine Stunde hin, packte seine Sachen und nahm den Zug nach Berlin. Zu seiner ersten Fraktionssitzung.
In seinem Wahlkreisbüro in Karlsruhe lächelt Brandt immer noch, wenn er daran denkt, was sie da gewuppt haben: Die absolute Zahl der Zweitstimmen hat sich gegenüber der letzten Bundestagswahl fast verdoppelt. Wie das ging? Mit einem Verband, der sich im Wahlkampf anschickte, die Linke in Karlsruhe omnipräsent zu machen: Sie standen vormittags vor dem Arbeitsamt, nach Feierabend vor Netto und Alnatura, und gingen nachts zu den Menschen in die Kneipen. Und präsentieren eine klare Haltung in der Flüchtlingspolitik: „Ich habe selbst unterm Bus gelegen und Abschiebungen blockiert. Die Leute wissen, wofür ich stehe“, sagt Brandt.
Bockwurst-Esser und Bionade-Trinker
In Pirna, 600 Kilometer von Karlsruhe entfernt, muss André Hahn seine Haltung in der Flüchtlingspolitik verteidigen. Hahn schluckt das Hackepeterbrötchen herunter und hebt an, sie dem Besucher mit der gefalteten Zeitung zu erläutern. Die Flüchtlinge seien ja nun mal da, und überhaupt: „Mir ist das zu einfach, zu sagen: Raus, raus, raus.“ Seit 1990 habe Sachsen 800.000 Einwohner verloren, „und da sollen wir nicht in der Lage sein, 80.000 Flüchtlinge aufzunehmen?“ Sachsen habe einen Ausländeranteil von knapp 3 Prozent. „Mir fällt es wirklich schwer, zu verstehen, woher eigentlich die Angst vor Überfremdung kommt.“
Hahn kann man sich gut in einem Klassenzimmer vorstellen. In den späten achtziger Jahren studierte er Lehramt für Deutsch und Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, trat damals auch in die SED ein, die später zur PDS wurde. Seit 2013 ist er Bundestagsabgeordneter, er saß im NSA-Untersuchungsausschuss.
Der Besucher antwortet: „Aber ich kann doch nicht erst Einfluss nehmen, wenn es zu spät ist.“ Er wolle nicht in einem Deutschland leben, in dem 25 Prozent eine andere Herkunft haben. Dass die AfD stärkste Partei geworden sei, gefalle ihm auch nicht. Wen er gewählt hat, verrät er nicht.
Während die Linke mit ihrer „Offene Grenzen für alle“-Haltung die einen verschreckt, zieht sie andere damit an. Kann die Linke die einen Wähler ansprechen, ohne die anderen zu verlieren? Es geht auch um auch die Frage, welche Milieus die Partei bedienen will. „Wir wollen beide – die Bockwurstesser und die Bionadetrinker“, meint Parteichefin Katja Kipping. Aber geht das?
Arbeit für alle oder Recht auf Faulheit?
Wenn die Partei über ihren Kurs diskutiert, ist die Lage unübersichtlich geworden. Traditionell verliefen die Konflikte zwischen Ost und West, zwischen Reformern und Fundamentalisten. Sie kreisten um die Frage: Wollen wir mitregieren oder wollen wir strikt opponieren? Immer bereit zum Regieren waren die Genossen im Osten, wo man seit der Wende in Kreis- und Landtagen präsent war. Auf keinen Fall regieren wir, warnten die Genossen im Westen, schon gar nicht mit den Sozen. Denn dann verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit.
André Hahn, Ost-Linker
Diese Debatten gibt es immer noch, doch die Argumentation verläuft inzwischen anders. Es geht nicht mehr um die Frage „Pragmatismus oder Fundamentalismus“, sondern um die offene oder die geschlossene Gesellschaft. Während Fraktionschefin Sahra Wagenknecht vom linken Flügel für den Sozialismus in nationalen Grenzen kämpft, steht Parteichefin Katja Kipping, die rechts von Wagenknecht als Reformerin verortet wird, für ein klares Bekenntnis zu grenzenloser Bewegungsfreiheit. Kipping wirbt für ein Einwanderungsgesetz, Wagenknecht ist dagegen, Kipping setzt auf mehr Europa, Wagenknecht will weniger. Die Konflikte ziehen sich quer durch die traditionellen Lager, die sich langsam neu sortieren.
Die Frage, vor der die Linkspartei in der kommenden Legislaturperiode steht, ist: Wen sprechen wir eigentlich an? Hipster oder Kleinbürger? Wie stellen wir uns die Gesellschaft von morgen vor? Fordern wir ein bedingungsloses Grundeinkommen oder die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich? Arbeit für alle oder Recht auf Faulheit? Aufbruch oder Verteidigung alter Errungenschaften?
Die Neuen halten sich raus
Wagenknecht hat sich mit ihrem Co-Fraktionschef, dem Reformer Dietmar Bartsch, verbündet, und zwischen Parteichefin Kipping und den zweiten Vorsitzenden Bernd Riexinger, einst vom linken Flügel aufgestellt, passt kein Blatt. Die Atmosphäre unter den Spitzenduos ist angespannt.
Nicht mal einen Monat nach der Bundestagswahl rumst es gewaltig.
Mitte Oktober steigt André Hahn in seinen grauen Audi und Michel Brandt in den ICE. In Potsdam treffen sich die Abgeordneten der neuen Linksfraktion. 27 von 69 sind zum ersten Mal im Bundestag. Brandt und Hahn schütteln sich kurz die Hände, reden ein paar Worte. Bis heute kann der eine über den anderen wenig berichten. Denn die Vorstellungsrunde in dem tanzsaalgroßen Sitzungsraum muss ausfallen. Stattdessen erheben sich nacheinander die beiden Fraktionschefs Bartsch und Wagenknecht und die Parteichefs Kipping und Riexinger und referieren.
Es gibt Streit, es geht um die Verteilung der Vorstandsposten, um das Rederecht im Bundestag. Es ist ein Kampf der Parteiführung gegen die Fraktionsführung. Sahra Wagenknecht droht mit ihrem Rücktritt als Fraktionsvorsitzende. Die neuen Abgeordneten halten sich raus. In der Pause bilden sich Grüppchen, sie stehen zusammen und pumpen den Filterkaffee aus den Thermoskannen vor dem Saal. Die Stimmung ist gedrückt.
„Von Galionsfiguren halte ich nichts“
Wagenknecht hat am Morgen eine E-Mail an alle Fraktionsmitglieder verschickt, in der sie die beiden Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger beschuldigt, sie „wegmobben“ zu wollen. Der Ton des Briefes ist in Teilen gehässig, ungewohnt deftig für die sonst so kontrollierte Wagenknecht. Das Führungsquartett trifft sich spätabends noch zum Mediationsgespräch. Man einigt sich auf einen Kompromiss, der die Verwerfungen schlecht kaschiert.
In seinem Pirnaer Bürgerbüro sagt Hahn, der sich äußerst ungern zu fraktionsinternen Angelegenheiten äußert, unfruchtbare Personaldebatten gebe es ja leider immer wieder in seiner Partei. „Aber daran will ich mich nicht gewöhnen.“ An der Basis habe blankes Unverständnis geherrscht. „Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Was denken jetzt wohl die neuen Abgeordneten?“
Michel Brandt ärgert sich über den Stil der Auseinandersetzung. „Ich lasse mich nicht erpressen, das habe ich auch am Theater nicht getan“, sagt er über die Rücktrittsdrohungen Wagenknechts. „Von Galionsfiguren halte ich nichts.“ Auf der anderen Seite sehe er sehr viel Positives in der Fraktion. „Es gibt viele neue Leute, die frischen Wind reinbringen.“
Zu stark aufs Regieren fixiert
Die neuen Linksparteiabgeordneten halten wenig von straffen Führungsstrukturen. Aus Strömungskämpfen halten sie sich raus. Mit ihnen wächst auch die Gruppe derer in der Partei, die keine Lust aufs Regieren haben.
Lange bevor er Parteimitglied wurde, ging Michel Brandt gegen Castortransporte und Stuttgart 21 auf die Straße, er ließ im Sitzungssaal des Rathauses Luftballons steigen gegen Kürzungen im Kultur- und Sozialhaushalt. Gesellschaftliche Verhältnisse verändert man von unten her, ist seine Überzeugung. Im Osten nimmt er die Partei dagegen als zu stark aufs Regieren fixiert wahr.
„Es ist ein Unterschied, ob man um die 5-Prozent-Hürde kämpft oder eine 30-Prozent-Partei ist“, sagt André Hahn, der seit 24 Jahren Mitglied des Kreistages Sächsische Schweiz ist und fast zwanzig Jahre im sächsischen Landtag saß. „Wir mussten immer eine größere Klientel ansprechen. Im Osten brauchst du im Wahlkampf so etwas wie ein Regierungsprogramm.“
Beide Positionen schließen sich nicht aus, können aber für harte Auseinandersetzungen sorgen, wenn es etwa darum geht, wie weit man in einer Regierung vom Grundsatzprogramm abrückt. Es ist ein Glück für die Linke, dass es derzeit im Bundestag keine Mehrheit mit SPD und Grünen gibt.
In André Hahns Büro klingelt das Telefon. Die SPD ist dran. Für den Abend ist eine Sitzung des Kreistags auf dem Pirnaer Schlossberg angekündigt. Zusammen mit SPD und Grünen hat man einen Antrag aufgesetzt, um Kürzungen im Jugendhilfebereich abzuschmettern. Doch am Telefon erfährt Hahn, dass sich die SPD zurückzieht. Sie schließt sich stattdessen einem Kompromissvorschlag der Landkreisverwaltung an. Hahn legt auf und reagiert sauer: „Da brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn immer weniger Menschen sie wählen.“
„Weg von der Stammtischmentalität“
Grundsätzlich stehe er mit vielen SPD-Kollegen in engem Austausch, sagt Hahn. Mit dem sächsischen SPD-Vorsitzenden ist er befreundet. „Wenn wir gemeinsam mit SPD und Grünen etwas verändern wollen, muss sich jeder ein Stückchen auf den anderen zubewegen“, sagt Hahn.
Mit der SPD verbinde ihn derzeit gar nichts, meint dagegen Brandt, und die baden-württembergischen Grünen würde er am liebsten gründlich durchschütteln. Zu einem Treffen mit Abgeordneten von SPD und Grünen, wie sie in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag stattfanden, würde er nicht gehen. „Da treffe ich mich lieber mit Sea-Watch.“
Die Basis scheint ihm recht zu geben. Aktuell ist Karlsruhe der am schnellsten wachsende Kreisverband der Partei in Baden-Württemberg – 80 Mitglieder kamen allein im vergangenen Jahr dazu. Als Michel Brandt 2013 die Geschäftsstelle betrat, war alles noch ein wenig verschlafen. Alle zwei Monate traf man sich in einer Kneipe, erzählt er. Oder es waren offizielle Treffen, Kreisparteitage etwa. „Wir haben dann angefangen, Filmabende zu machen, politische Stadtrundgänge und Fahrradtouren. Wir wollten weg von dieser Stammtischmentalität und versuchen, das breiter aufzustellen.“ Man sei jetzt so eine Mitgliedermitmachpartei, sagt der Schatzmeister, der schon PDS-Mitglied war. „Die Jungen, die können sich ja nicht oft genug treffen.“ Er lacht. „Sollen sie machen, ich zieh mich da ein bisschen zurück.“ 64 Jahre ist er alt.
Die Linke im Westen erlebt gerade einen Generationenwechsel. Die gewerkschaftsnahen WASGler, die K-Gruppen-Veteranen und Ex-DKPler, die im Westen lange die Basis bildeten, treten in den Hintergrund, die Neuen bringen andere Biografien und Themen mit. Die Linke ist offener geworden. Sie rückt näher an soziale Bewegungen.
Das „Team Sahra“
Zum Vortrag über „Bedingungsloses Grundeinkommen“ kommen an diesem Mittwochabend im Spätherbst etwa 30 Menschen in die Karlsruher Linken-Zentrale. Viele sind gerade erst in die Partei eingetreten. Da ist der Schüler mit lila Iro, der die Linke mit Ihrer Haltung zum Freihandelsabkommen viel glaubwürdiger findet als die Grünen. Da ist die Lehramtsanwärterin mit sorgfältig lackierten Fingernägeln und Pelzkragenkapuze, die einfach das Gefühl hatte, „was tun zu müssen“. Da ist der türkischstämmige Zimmermann aus einer SPD-Familie, der sagt: „Hartz IV müssen wir weit hinter uns lassen.“
Die Stimmung in der Karlsruher Geschäftsstelle ist freundlich, fast brav. Diszipliniert lauschen die Genoss_innen dem eineinhalbstündigen Vortrag und stellen Fragen. Anschließend macht sich ein Grüppchen noch auf in eine Bar. Ein Parteikollege Brandts, ein Pädagoge, erzählt von seiner Arbeit mit Flüchtlingskindern.
Wie er denn die Äußerungen der Fraktionschefin Wagenknecht finde, die neulich erst in einem Interview sagte, wirtschaftlich motivierte Migration müsse verhindert werden?
Er winkt ab. Ach, das interessiere ihn nicht, er kümmere sich lieber um die Sachen vor Ort. Sein Nachbar mischt sich ein: Da würde ja auch viel aus dem Zusammenhang gerissen von den Medien. Michel Brandt kann nicht mehr an sich halten. Sein Kopf ruckt nach rechts, er spricht leise: „Das Team Sahra postet gezielt solche Botschaften.“ „Team Sahra“ ist der Newsletter von Sahra Wagenknecht. „Das sind immer wieder kleine Attacken auf unser Parteiprogramm.“ Schweigen macht sich breit.
Glückwunschkarten statt Blumensträuße
Die Partei hat bisher keinen Weg gefunden, wie sie mit der unberechenbaren und populären Fraktionschefin umgehen soll. Ignorieren? Kleinreden? Parteiprogramm ändern? Wir geben unsere Position zur Flüchtlingspolitik nicht auf, sagen sie im Westen.
Er sehe keine Veranlassung zu größeren Änderungen, sagt auch André Hahn in Pirna. Allerdings dürfe man auch die Schwierigkeiten nicht verschweigen, bei der Integration und bei der finanziellen Überlastung vieler Kommunen, die von Bund und Ländern unzureichend unterstützt werden. Tatsache ist: Auch Teile der Wähler und Mitglieder der Linken konnten sich nie so recht mit der per Parteiprogramm verordneten Flüchtlingspolitik identifizieren.
Von den 13.000 sächsischen Mitgliedern im Jahr 2007 sind derzeit noch knapp 8.000 am Leben. Die jungen Leute, die vor allem in den Großstädten neu zur Linken stoßen, mildern den Schwund nur ab. In mancher Kleinstadt gibt es gerade noch eine Handvoll Genossen, in manchem Dorf nur noch einen Aktiven.
Anna Lehmann, 42, ist Parlamentskorrespondentin und kennt Dippoldiswalde seit frühester Kindheit.
Lutz Richter kann davon erzählen. Er ist Kreisverbandsvorsitzender der Linken Sächsische Schweiz Osterzgebirge und sagt: „Wir haben in den letzten Jahren nur noch gespart.“ Für die Mitglieder gibt es seit zwei Jahren zu runden Geburtstagen keine Blumensträuße mehr, sondern nur noch Glückwunschkarten.
Jugendliche, die sich in Dippoldiswalde, Altenburg, Pirna oder Freital bei der Linken engagieren wollen, weist die Partei auf den solid-Jugendverband hin. Als kürzlich mal wieder ein junger Mann zum Treffen des Ortsverbands Dippoldiswalde gekommen sei, hätten hinterher alle Genossen gefragt: Wieso läuft der mit lackierten Fingernägeln rum?
Immer das gleiche Schema
In Ostsachsen trifft man sich zur weihnachtlichen Brecht-Lesung im Gasthof, begrüßt russische Gäste zum Tag der Befreiung oder fährt im Januar gemeinsam zur Liebknecht-Luxemburg-Demo zum Friedhof der Sozialisten in Berlin.
Knapp 600 Kilometer liegen zwischen Karlsruhe und Ostsachsen. Kulturell scheinen bisweilen Welten dazwischen zu liegen. Die altgedienten Genossen im Osten, vor allem auf dem Land, sind kleinbürgerlich geprägt, sie denken konservativ. Sozialismus – ja, aber ohne dieses „Yeah, yeah, yeah“.
André Hahn, der viel im Westen unterwegs ist, hat es noch nie nach Karlsruhe geschafft. Er freue sich natürlich, dass es so viele Neumitglieder gebe. Aber, ja, es werde schwieriger, Ostinteressen in der Fraktion durchzusetzen. „Die Diskussion, ob man die DDR als einen Unrechtsstaat bezeichnen soll, interessiert viele Westler überhaupt nicht.“ Aber die meisten Mitglieder im Osten sähen mit einer solchen Zuschreibung ihre Biografie entwertet.
Michael Brandt war bisher einmal im Osten, in Leipzig. Mit den Ostverbänden habe er kaum zu tun, sagt er, das sei so weit weg.
In André Hahns Pirnaer Büro steht der Besucher mit der gefalteten Zeitung auf. Er sagt Hahn zum Abschied, er finde die Linke prinzipiell gut. „Dass sie die Reichen besteuern und für mehr Gerechtigkeit sorgen will – das gefällt mir ja.“ Kurze Pause. „Aber wählen würde ich sie jetzt nicht.“ Wegen der Flüchtlinge.
Hahn nickt. Er kennt solche Gespräche. Sie verlaufen immer nach dem gleichen Schema. Und das wird sich so schnell nicht ändern.
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