Die Grünen nach dem Ampel-Aus: Grün und gerecht?
Im anstehenden Wahlkampf wird es um Wirtschaftspolitik und soziale Fragen gehen. Wie stellen sich die Grünen beim Thema Umverteilung auf?
Als am Mittwochabend nach 21 Uhr der Bundestagswahlkampf startete, da wankten die Grünen. Olaf Scholz hatte gerade in der perfekt ausgeleuchteten Kulisse des Kanzleramts seine fulminante Rausschmiss-Rede auf Christian Lindner gehalten, ein halbes Wahlprogramm war in seine perfekt vorbereitete Ansprache auch schon eingebaut. Die Delegation der Grünen dagegen musste sich nach Ende des Koalitionsausschusses draußen aufbauen, im Dunkeln vor dem Zaun, und dann versprach sich in seinem Statement auch noch Robert Habeck am Ende eines Schachtelsatzes: „Wir wollten den sozialen Zusammenhalt, den sozialen Frieden und die Zukunft dieses Landes (…) gefährden.“ Wer mag es ihm verdenken, nach so einem Tag.
Immerhin: Er wird in nächster Zeit noch Gelegenheiten haben, den Satz korrekt zu formulieren. Und vielleicht erfüllt er dann, auf dem Parteitag am nächsten Wochenende zum Beispiel, die Erwartung, die in der Partei viele an ihn haben: dass er seine Vorstellungen zum sozialen Frieden noch mit ein paar Worten mehr ausführt. Verteilungsfragen waren in den letzten 15 Jahren im Parteiprogramm in irgendeiner Form immer präsent. Jetzt sollen sie aber wirklich Priorität werden – nachdem in den Regierungsjahren in der Praxis so vieles schief ging, wie weite Teile der Partei finden.
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Die scheidende Parteichefin Ricarda Lang, prominenteste Verfechterin einer grünen Sozialpolitik, bezeichnet sich selbst als gescheitert. Die abtrünnigen Ex-Vorsitzenden der Grünen Jugend sind vor allem gegangen, weil ihnen bei den Grünen der Mut fehlt, sich mit den Reichen anzulegen. Und auch die letzten Reste der Kindergrundsicherung, mit denen sich die Grünen sozialpolitisch profilieren wollten, haben sich mit dem Ampel-Aus erledigt.
Laut dem Politbarometer trauen die Menschen den Grünen so wenig zu, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wie zuletzt 2018. Es hat etwas Tragisches: In der Ampel traten die Grünen oft ambitionierter auf als die SPD, sträubten sich zum Beispiel am längsten gegen die Verschärfungen beim Bürgergeld. Von diversen Seiten unter Druck, stimmten sie am Ende aber auch hier zu.
Vor allem aber: Das große Trauma der Grünen, das Heizungsgesetz, zu dem Robert Habeck zunächst kein Förderkonzept parat hatte, überstrahlt alles. Die Grünen könnten in anderen Bereichen noch so viel für Verteilungsgerechtigkeit tun – es hilft nichts, solange sie in ihrem Kernbereich, dem Klimaschutz, als unsozial wahrgenommen werden.
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Wundermittel: Verteilungspolitik
Gerade aus diesem Scheitern kommt das Bedürfnis, dass es in Zukunft anders läuft. Schon der alte Bundesvorstand gab in seiner Analyse zur verlorenen Europawahl vor: mehr Fokus auf soziale Fragen. Die designierten neuen Vorsitzenden knüpfen in Interviews daran an. Ein Papier aus der Bundestagsfraktion, ein Gemeinschaftswerk des künftigen Wahlkampfmanagers Andreas Audretsch vom linken Flügel und der Reala Katharina Beck, sieht das Ende von Steuerprivilegien für Reiche vor. Auf dem Parteitag Ende kommender Woche wird sich die prominenteste Debatte ebenfalls um solche Fragen drehen.
Zusammen mit anderen hat der Europaabgeordnete Rasmus Andresen einen Antrag eingereicht. Unter dem Titel „Gerechtigkeit statt Spardiktat“ fordern sie ein riesiges Bündel an Maßnahmen. Als in einem Mitgliedervoting entschieden wurde, welche Anträge auf dem Parteitag tatsächlich zur Abstimmung kommen, landete dieser auf Platz eins. Ein Zeichen dafür, wie sich die Prioritäten auch an der Basis verschoben haben.
Grundsätzlich gilt das sogar flügelübergreifend. Unter dem Eindruck der Inflation und des Gegenwinds der letzten Monate dämmert es auf der einen Seite den Realos: Neue Milieus zu erreichen, können sie vergessen, solange es den Menschen nicht gut geht. Auf der anderen Seite wollen die Parteilinken trotz des Umfragetiefs nicht noch mehr Abstriche bei Kernthemen wie Klima und Sozialem machen. In einer ambitionierten Verteilungspolitik sehen sie eine Art Wundermittel. Haben die Leute mehr Geld, machen sie den Rest auch wieder mit. Doch bei aller Einigkeit im Grundsatz: Verteilungsgerechtigkeit ist ein großes Wort. Von Steuern über Sozialleistungen bis hin zu staatlicher Infrastruktur und sogar Investitionen in die Wirtschaft kann man sehr vieles darunter packen. Was die Grünen im Wahlkampf im Detail fordern werden, ist umstritten.
So ist im Gerechtigkeitsantrag für den Parteitag zwar einiges Konsens, etwa die Einführung des Klimagelds. Zu anderen Punkten gibt es aber zig Änderungsanträge. Auch wenn das Thema bisher unter dem öffentlichen Radar läuft, könnte die Debatte darüber kontroverser verlaufen als die über die grüne Migrationspolitik.
Man wolle kein gesellschaftliches Gegeneinander
Manche in der Partei hoffen nach dem Koalitionsbruch zwar, dass die umstrittensten Forderungen noch zurückgezogen werden. Im abrupt gestarteten Wahlkampf käme offener Streit ungelegen. Der Antragsteller Andresen, ein Parteilinker, gibt sich aber entschlossen: Die Vorstellung, in den Wahlkampf zu stolpern, ohne das inhaltliche Profil zu stärken, sei verrückt.
Zur Kampfabstimmung könnte es zum Beispiel beim Thema Vermögensteuer kommen. Die Reala Katharina Beck möchte diesen Punkt aus Andresens Antrag streichen und bietet stattdessen ihre Vorschläge aus dem Fraktionspapier an, unter anderem das Schließen der Steuerschlupflöcher bei großen Erbschaften. Man müsse taktisch-strategisch erkennen, was durchsetzbar ist, heißt es in der Begründung.
Bei anderen Änderungsanträgen geht es um die grundsätzliche Haltung. So will eine Gruppe die Formulierung streichen, dass unter der Inflation „nicht die Handvoll der reichsten Deutschen“ leide, sondern Millionen andere. In ihrer Begründung heißt es, man wolle kein gesellschaftliches Gegeneinander. Die Inflation belaste alle.
Hinter der Diskussion steckt ein Zielkonflikt. Einerseits: Den Grünen hängt der Ruf der Besserverdienerpartei an. Um im Wahlkampf damit durchzudringen, dass sie es ernst meinen, wäre Klarheit in der Sache und in der Sprache hilfreich. Lieber 16 Euro Mindestlohn also, wie es in Andresens Antrag heißt. Und nicht, wie in einem weiteren Änderungsantrag gefordert, „eine Lohnuntergrenze von 60 Prozent des mittleren Lohns von Vollzeitbeschäftigten“. Läuft perspektivisch aufs Gleiche raus, versteht nur niemand.
Andererseits haben die Grünen aber schon schlechte Erfahrungen damit gemacht, mit ambitionierten Plänen anzutreten, ohne auf die Fallstricke zu achten. Vor der Bundestagswahl 2013 warben die Grünen unter Spitzenkandidat Jürgen Trittin mit einem Steuerkonzept, das die Reichen belastet und die breite Masse entlastet hätte. Am Wahltag gingen sie damit unter.
Wer nichts hat, gilt vielen als selber schuld
„Umfragen, in denen sich Mehrheiten für mehr Gleichheit aussprechen, sind das eine. Wenn es aber ernst wird, wachsen die Widerstände und Ängste“, erinnert sich Trittin in seiner gerade erschienen Autobiografie. Das liege nicht zuletzt daran, dass sich in Deutschland viele für reicher halten, als sie sind – und fälschlicherweise fürchten, sie wären die Leidtragenden einer Politik für mehr Gleichheit.
Das deckt sich mit Forschungsergebnissen, über die der Soziologe Steffen Mau mit Kollegen in seinem Buch „Triggerpunkte“ schreibt: 80 Prozent ihrer Befragten fanden demnach, dass Einkommen und Vermögen in Deutschland zu weit auseinandergingen. Viel polarisierter sind allerdings die Antworten auf die Frage, ob die Erbschaftsteuer für Reiche und die Bürgergeldsätze für Arme steigen sollten. Die Autoren erklären das auch damit, dass es in Deutschland parallel zur Ungleichheitskritik einen großen Glauben ans Leistungsprinzip gebe: Wer nichts hat, gilt vielen als selber schuld.
In der Krise hat sich diese Annahme vielleicht sogar noch verfestigt. Dass sich die Ampel am Ende genötigt sah, ihr gerade erst eingeführtes Bürgergeld in Teilen wieder abzuwickeln, hatte auch mit der gesellschaftlichen Stimmung zu tun. In der grünen Programmdebatte schlägt sich das jetzt ebenfalls nieder: Anders als noch vor der letzten Wahl geht es in all den Papieren der letzten Wochen höchstens noch am Rande um Transferleistungen, die explizit den Ärmsten helfen.
Statt um Bürgergeld und Kindergrundsicherung geht es um verlässliche Kitas und bezahlbare Mieten. Der Fokus hat sich verschoben bis in die Mittelschicht, bei der das Geld in der Krise auch knapp geworden ist. Anders gesagt: In den letzten Jahren hatten die Grünen für ihre Wähler*innen, von denen ja tatsächlich nur wenige ganz unten stehen, in Verteilungsfragen ein moralisches Angebot: Wir helfen den Armen. Künftig könnte die Mittelschicht auch aus Eigeninteresse grün wählen.
Der Wahlkampf hat begonnen
Bleibt aber noch eine letzte Frage: Mit welchen Gesichtern die Grünen vermitteln wollen, dass ihnen die finanzielle Lage der Menschen ein Anliegen ist. Ricarda Lang hätte es sein können, steht jetzt aber nicht mehr in der ersten Reihe. Familienministerin Lisa Paus sollte es mit der Kindergrundsicherung werden, daraus wurde aber auch nichts. Umso mehr kommt es nun also auf den Kanzlerkandidaten an.
Robert Habeck allerdings ist in diesen Fragen selbst den meisten Grünen ein Rätsel. Er hatte mal ein soziales Gewissen. Unter ihm als Parteichef legten sich die Grünen auf eine Grundsicherung ohne Sanktionen fest – der endgültige Abschied von Hartz IV. Er überzeugte Skeptiker*innen in der Partei damals davon, dass die Schuldenbremse gelockert werden müsse, und er setzte die Forderung nach einem Klimageld als Ausgleich für den CO2-Preis durch.
Seit seinem Umzug ins Wirtschaftsministerium ist davon nur noch wenig geblieben. Sollte er weiterhin sensibel für die finanziellen Nöte der Menschen sein, dann verbirgt er das gut. Das Desaster um das Heizungsgesetz ist dafür nur das prominenteste Beispiel. Den Regierungszwängen – die knappen Kassen, der Finanzminister, die Sorge um die Harmonie in der Koalition – setzte Habeck wenig entgegen.
Jetzt ist die Koalition am Ende. Der Wahlkampf hat begonnen. Habeck könnte wieder umschalten. In seinem Bewerbungsvideo um die Grünen-Kandidatur, am Freitag online gegangen, deutet er das schon mal an. Er spricht darin über die Sorgen der Menschen „um den Arbeitsplatz, einen Kita-Platz, eine gute Schule, eine bezahlbare Wohnung, bezahlbares Pendeln“.
Das eigene Image schnell genug zurückzudrehen, so dass die Wähler*innen ihm abnehmen, dass ihn als das kümmert, wird aber sportlich. Wie viel Zeit bis zur Wahl genau bleibt, weiß im Moment niemand. Auf jeden Fall aber: viel weniger als gedacht.
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