Die Geschichte des Kapitalismus: Ein Lob der Globalisierung
Der Ökonom Angus Deaton schreibt eine Globalgeschichte des Kapitalismus. Der Menscheit geht es besser. Die Armut ist gesunken.
Vor ein paar Monaten veröffentlichte Oxfam eine bemerkenswerte Umfrage. Nur 0,5 Prozent der Deutschen glauben, dass die globale Armut in den letzten zwei Jahrzehnten abgenommen hat. Das Gros ist überzeugt, dass Armut wächst. Das ist ein Irrtum. 1981 mussten 40 Prozent der Weltbevölkerung mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen, 2008 waren es 14 Prozent. Dass die Mehrheit auch in Europa und den USA wenig über globale Armut weiß, hat wohl zwei Gründe. Es verrät ein tiefsitzendes Desinteresse und ist ein Echo der kritischen westlichen Öffentlichkeiten, in der Schlagzeilen viel von Krisen und Katastrophen, fast nie aber von langsamen, positiven Entwicklungen künden.
Der Ökonom Angus Deaton hat mit „Der große Ausbruch“ ein Manifest des globalen Optimismus verfasst, das eine Art Vademecum gegen jede Art von Kulturpessimismus sein will. In den letzten 50 Jahren hat die Welt, so Deaton, „nicht nur vier Milliarden zusätzliche Menschen aufgenommen. Die sieben Milliarden, die heute leben, genießen im Durchschnitt ein sehr viel besseres Leben als ihre Eltern und Großeltern.“ Die Gründe für diese Entwicklung sieht Deaton recht skizzenhaft in der Aufklärung, den industriellen Revolutionen und Fortschritten der Medizin in den letzten 150 Jahren. Seitdem hat „sich der Lebensstandard vervielfacht, die Lebenserwartung hat sich mehr als verdoppelt, und das Leben vieler Menschen ist heutzutage erfüllter und angenehmer als das sämtlicher Generationen vor ihnen.“
In den Zukunftsszenarien der Ökonomen der 60er und 70er Jahre wurde die wachsende Weltbevölkerung automatisch von Hungerkatastrophen heimgesucht. Dass es anders kam, ist für Deaton Beweis, dass mehr Menschen nicht nur mehr Esser, sondern vor allem mehr Kreativität bedeuten und kooperative Gesellschaften in der Lage sind, flexibel schwierigste Herausforderungen zu meistern. Auch deshalb gelang „Hunderten Millionen die Massenflucht aus der Armut“.
Der Mehrwert dieser Arbeit liegt nicht in besonders ausgefeilten Thesen, sondern in der Akribie, mit der der Autor Statistiken durchpflügt und die verfügbaren Zahlen über das Wirtschaftswachstum in China oder die Berechnung der Armut in Indien skeptisch unter die Lupe nimmt. Überzeugend ist, dass dabei nicht allein Wirtschaftskraft und BIP betrachtet werden, um das Wohlstandsniveau zu erfassen. Deaton zitiert auch Umfragen, wer gestern gute Laune hatte – in den USA scheint ein sonniges Gemüt Common Sense zu sein, Russland hingegen eine Trutzburg der Miesepetrigkeit, im armen Mosambik ist man fröhlicher als im reichen Dänemark. Vor allem reflektiert „Der große Ausbruch“ harte Daten über Kindersterblichkeit und Lebenserwartung. Es ist ein einleuchtender Gedanke, die Länge des Lebens und die Wahrscheinlichkeit, mit der Eltern ihre Kinder nicht sterben sehen müssen, als solide Indikatoren für Wohlbefinden zu nutzen.
Der Kapitalismus hebt alle Boote
Bemerkenswert ist, dass die Menschen nicht nur in USA und Europa in einem noch vor 50 Jahren nicht für möglich gehaltenen Maße älter werden. Auch in den globalen Armutszonen ist die Lebenserwartung seit 1945 gestiegen – von 42 auf 66 Jahre. Die Kluft zwischen Metropolen und Peripherie ist, was Lebenserwartung betrifft, nach wie vor dramatisch – allerdings mit abnehmender Tendenz. Die Wahrscheinlichkeit, dass 2017 ein in Indien geborenes Kind stirbt, ist in etwa so hoch wie in Schottland 1945.
Deaton, der vor zwei Jahren den Wirtschaftsnobelpreis bekam, forscht über Ungleichheit, doch anders als Thomas Piketty oder Tony Atkinson hat er keinerlei grundsätzliche kritische Reserven gegenüber der kapitalistischen Globalisierung. Er kritisiert zwar, dass in den USA seit den 80er Jahren die Ungleichheit wächst und der Finanzkapitalismus eine kleine Schicht von Superreichen hervorgebracht hat, die nichts für die Allgemeinheit leisten. Doch der fröhlichen Fortschrittserzählung tut dies keinen Abbruch. Denn die technische und medizinische Entwicklung erscheint in „Der große Ausbruch“ als noch immer intaktes Kraftzentrum, das zwar Ungleichheiten produziert, aber mit Zeitverzögerung Waren, Produktionsverfahren und Medikamente auch demokratisiert.
Global und historisch betrachtet gilt für Deaton die Metapher, dass die kapitalistische Globalisierung letztlich fast alle Boote hebt. Mitunter klingt das neoliberal. Allerdings fehlt Deaton, der hierzulande am ehesten auf dem rechten Flügel der SPD anzutreffen wäre, der eifernde Ton und der säkularisierte Heilsglaube vieler Neoliberaler, für die der Markt eine ähnliche Rolle spielt wie das Proletariat für klassische Marxisten.
„Der große Ausbruch“ könnte ein Mittel gegen die routinierte Klage sein, dass alles schlechter wird. Könnte – denn das letzte Drittel des Buches, eine gepfefferte Polemik gegen jede Entwicklungshilfe, wirkt rätselhaft. Hilfe von außen stabilisiere bloß korrupte Regime und sei die Krankheit, gegen die sie helfen soll. Was diese Philippika gegen Entwicklungshilfe in einer Globalgeschichte verloren hat, bleibt unklar. Noch gewichtiger ist, dass dieses Gemälde ein paar auffällige weiße Flecken und grobe Retuschen hat. Der Kolonialismus kommt schlicht nicht vor – in einer Globalgeschichte eine kühne Ellipse. Schwer begreiflich ist, dass die Handelsbeziehungen zwischen OECD-Staaten und Armutsregionen nur nebenher erwähnt werden. Dabei setzen die OECD-Staaten ihre Überlegenheit, wie das Scheitern der Doha-Runde zeigte, rüde gegen arme Staaten ein.
Angus Deaton: „Der große Ausbruch“. KlettCotta, Stuttgart 2017, 463 S., 26 Euro
Völlig unverständlich ist schließlich der Glaube, dass Wachstum endlos möglich ist. Zwar fällt ein paar Mal das Wort Klimawandel, doch es fehlt jede Reflexion über die Grenzen des Wachstum. Die Erkenntnis, dass 2050 auf diesem Globus, ohne radikalen Umbau der Mobilität, drei Milliarden Autos fahren werden, würde das helle Bild trüben. Dies einfach auszublenden, nimmt dieser Lobrede auf die Globalisierung viel an Überzeugungskraft.
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