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Die AfD und ihr NormalitätsbegriffDeutschland brutal

Essay von Claudia Liebelt

Die AfD-Wahlkampfkampagne bezieht sich auf den Begriff der „Normalität“. Dieser ist aber alles andere als harmlos.

Illustration: Jeong Hwa Min

A nfang dieser Woche gab die AfD ihre Spitzenkandidatur für die anstehende Bundestagswahl bekannt. Das eindeutige Mitgliedervotum für die Fraktionschefin Alice Weidel und den Parteivorsitzenden Tino Chrupalla stärkt den völkisch-nationalistischen Flügel innerhalb der Partei. Angesichts dessen wirkt der Slogan, mit dem die Partei in den Bundestagswahlkampf zieht, geradezu höhnisch: „Deutschland. Aber normal“.

Der Normalitätsdiskurs ist dieser Tage allgegenwärtig, im politischen Diskurs wird die „Rückkehr in die Normalität“ mithilfe von Impfungen und Testungen geradezu beschworen. Konnte die AfD-Wahlkampagne bis vor Kurzem noch als Versuch gesehen werden, eine vermeintlich verunsicherte, pandemiegenervte „normale“ Mitte der Gesellschaft als Wähler_innenschaft zu mobilisieren, ist spätestens jetzt klar: Sie ist der Versuch, völkisch-nationalistische Positionen nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch in der Gesellschaft zu normalisieren. Die AfD-Wahlkampagne reiht sich ein in eine Rhetorik der Angst, des Hasses und der Hetze gegenüber Andersdenkenden und gesellschaftlichen Minderheiten – nicht trotz, sondern gerade auch mit und im Rückgriff auf den Begriff der Normalität.

Einer der AfD-Kampagnenfilme beginnt mit einer Stimme aus dem Off: „Normal – Was ist das eigentlich heute?“ Dazu sehen wir, wie „normal“ in eine Online-Suchmaschine eingegeben wird. Es folgen Szenen familiären Zusammenseins, die ästhetisch und im Stil eines Super-8-Amateurfilms gehalten auf die 1960er oder 70er Jahre verweisen. „Früher hieß es ja immer, normal wär’ irgendwie langweilig. Stinknormal und spießig.“

Visueller Wechsel in die Gegenwart, wir sehen Bilder von Hinweisschildern mit Corona-Hygienemaßnahmen im öffentlichen Raum, von geschlossener Außengastronomie. „Aber heute? Ist nicht heute ‚normal‘ auf einmal das, was uns fehlt? Das, was wir eigentlich wollen.“ Die unterlegte Musik wird dramatischer, es folgen Bilder einer maskenhaft geschminkten jungen Frau mit Megafon, einer Antifa-Flagge im Wind vor dem Brandenburger Tor, einem Front-Transpi der G20-Proteste, brennende Barrikaden: „Denn die Welt um uns herum ist so verrückt geworden“. Erneuter Wechsel zu emotional aufgeladenen Familienszenen – „Und wir merken auf einmal, dass ‚normal‘ etwas ganz Besonderes ist. … Normal ist eine Heimat“ – Eine Frau streicht mit ihrer Tochter den Gartenzaun – „… sind sichere Grenzen…“ – Einem Mann werden von hinten Handschellen angelegt – „… sind saubere Straßen.“ Der Blick auf eine Dorfkirche in idyllischer Wald- und Wiesenlandschaft. – „Normal ist einfach schön“ – und schließlich Berlin im Abendrot – „Deutschland. Aber normal.“

Claudia Liebelt ist Sozialanthropologin an der Uni Bayreuth mit den Forschungsschwerpunkten Anthropologie des Körpers, Gender und Sexualitäten sowie Mitherausgeberin von: „Beauty and the Norm: Debating Standardization in Bodily Appearance“ (2019).

Das Medienecho auf die bereits zum Dresdner Parteitag Mitte April vorgestellte AfD-Wahlkampagne fiel auch bei kritischer Distanz zur Partei zunächst erstaunlich milde aus. So schrieb Reinhard Mohr in der Neuen Zürcher Zeitung, die AfD gehe mit einem „gefühlvollen Heimatfilm“ in die Bundestagswahl, „ein bisschen nostalgisch, aber ohne Hass“. Die Tagesschau merkte an, der Slogan sei „in einer Zeit, in der aufgrund der Coronapandemie das öffentliche Leben tatsächlich alles andere als normal ist, kein unpassender Spruch“. Die Journalistin und Buchautorin Maria Fiedler bezeichnete die AfD-Wahlkampagne in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk als „ziemlich klug“, aber in ihrer „Selbstverharmlosung“ auch „gefährlich“. Die AfD-Rhetorik von der Normalität sehe sie als Versprechen einer „Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, in der Migration, Klimawandel und Corona keine Rolle spielten“.

Normalität ist nicht so harmlos, wie es scheint

Was all diese Einschätzungen jedoch verkennen, ist, dass der Begriff der Normalität und das mit ihm einhergehende Konzept des Normalen bei Weitem nicht so harmlos und frei von Hass und Gewalt ist, wie es scheint. Vielmehr ist die Geschichte der Normalität immer schon eine Geschichte der Ausgrenzung und des körperlichen Leidens – was den Begriff im Slogan einer vom Verfassungsschutz beobachteten und zumindest in Teilen rechtsextremen Partei als durchaus passend erscheinen lässt. Die Unschuld, mit der der Begriff im medialen Diskurs daherkommen kann, verblüfft auch deshalb, weil „Normalität“ immer wieder ein Schlüsselbegriff des politischen Diskurses in Deutschland war.

Die deutsche Sehnsucht nach Normalität hat eine Geschichte: Jürgen Link, emeritierter Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker, beschreibt in seinem großangelegten, 1997 erschienenen „Versuch über den Normalismus“ „Normalität“ im medienpolitischen Diskurs des wiedervereinigten Deutschlands als eine „diskurs­tragende Kategorie“, ohne die dieser zusammenbräche „wie ein Kartenhaus“. Ob in Bezug auf eine De-facto-Normalisierung des Naziregimes in der frühen BRD, die konservative Sicht auf die Teilung Deutschlands nach 1945 als „anormal“ oder die Proklamierung einer Rückkehr zur Normalität nach 1989 – der deutsche Normalitätsdiskurs, so Link, sei stets überdeterminiert, widersprüchlich und konzeptionell unausgereift gewesen. Eine Vorstellung, die davon ausging, das Wetter lasse sich mithilfe der Manipulation des Thermometers – also eines Diskurses darüber, was „normal“ und was „abnormal“ sei – ändern.

Das Normale ist ein Konstrukt

An dieser Stelle soll es aber nicht so sehr ums Wetter, sprich: um die Veränderungen gehen, die etwa den Normalitätsdiskurs der AfD produziert haben oder die dieser Diskurs nach sich ziehen könnte, als vielmehr um den Begriff der Normalität selbst. Denn das Normale ist ein Konstrukt, das überhaupt erst im Verhältnis zu seinem Gegenüber bestehen kann: das Pathologische der Psy­chiatrie, die Abweichung der Statistik. Bereits 1995 arbeitete der amerikanische Kulturwissenschaftler Lennard Davis in „Enforcing Normalcy“ heraus, dass die Begrifflichkeiten Normalität und Behinderung „Teil desselben Systems“ seien, die wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Erst das Konzept der „Behinderung“ lasse Körper „normal“ werden, insbesondere in Bezug auf Funktionalität und Aussehen. Dabei ist das Normale – ebenso wie die Norm, der Durchschnitt und die Abnormalität – eine historisch recht junge Idee, die erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum Eingang in den Wortschatz gefunden hat.

Die erste Theorie des Normalen ist die Statistik, ihr prominentester Kopf der französische Mathematiker Aldolphe Quetelet (1796–1874). Beruhend auf den Vermessungen französischer Rekruten entwickelte Quetelet das Konzept des Durchschnittsbürgers oder mittleren Menschen (l’homme moyen), dessen (bio-)politischer Hintergrund eine möglichst „rationale“, das heißt eine knappe Versorgung von Soldaten mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft war. Quetelets mittlerer Mensch verkörperte aber von Anfang an nicht nur einen statistischen Standard, sondern funktionierte auch normativ: „Er“ war nicht nur der mittlere Wert menschlicher Diversität, sondern ein Vorbild, wie „man“ zu sein hatte: Perfekt, schön und gut.

Im Gegensatz zum antiken Konzept des Ideals, einer letztlich unerreichbaren Vorstellung, ist das Normale nicht nur körperlich messbar und quantifizierbar, sondern es wirkt immer schon konformierend – indem es aufzeigt, in welche Richtung etwa ein Körper umgestaltet werden muss, um als normal zu gelten. Dies wird deutlich anhand des Body Mass Index (BMI), der ebenfalls auf Quetelet zurückgeht und trotz erheblicher Kritik nach wie vor Definitionen von Kleinwüchsigkeit, Normal- oder Übergewicht zugrunde liegt, darunter auch denen der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Soziale Institutionen wie Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse und Kasernen, so zeigte der französische Philosoph Michel Foucault in seinem umfangreichen Werk, wurden Teil einer umfassenden Normierung in der Moderne. Diese funktionierte nicht mehr beziehungsweise nicht nur durch die Anwendung roher Gewalt, sondern mithilfe der disziplinierenden Macht der Norm und der sozialen Kontrolle, die im Konzept des Normalen immer schon angelegt sind. Aber auch die eugenische Bewegung, insbesondere der britische Naturforscher und oft als Vater der Eugenik bezeichnete Sir Francis Galton (1822–1911), war wegweisend für die praktische Anwendung dieser Konzepte auf ganze Bevölkerungen. Eine Bewegung, die in Genoziden in den europäischen Kolonien und im systematischen Massenmord der Nazis unter Berufung auf die sogenannte „Rassenhygiene“ mündete.

Was sind Normalmaße?

Die Vorstellung des Normalen und die darauf basierenden bevölkerungsstatistischen Maße wie etwa die Normalverteilung sind auch in unserer Gegenwart noch viel wirkmächtiger, als es auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Körperliche Normalmaße bestimmen nicht nur, ob wir als „zu klein geratene“ Heranwachsende einer Hormontherapie unterzogen oder als „fettleibig“ pathologisiert werden, sondern sie liegen auch den normierten Maßen von Flugzeugsitzen oder Bahnhofsbänken, von Tür- und Waschbeckenhöhen, Schuh- und Kleidergrößen zugrunde. Wer da nicht rein passt, sich unwohl oder eingezwängt fühlt, bekommt im Alltag schnell das Gefühl, mit dem eigenen Körper stimme etwas nicht. Die Disability Studies haben hierfür den Begriff einer „behindernden Gesellschaft“ geprägt.

Das Bedürfnis, als „normal“ wahrgenommen zu werden, scheint insbesondere in solchen sozialen Zusammenhängen verankert, die von Kontrolle, Konformitätsdruck und Angst geprägt sind. Der Vorwurf, die gesellschaftliche Normalität zu stören, ist eine Form der strukturellen Gewalt. Insbesondere wenn es um menschliche Körper geht, ist Normalität eine Vorstellung, von der wir uns in einer solidarischen und gegenseitig wertschätzenden Gesellschaft befreien sollten. Selbst und gerade in Coronazeiten bleibt der Bezug auf „Normalität“ problematisch: Wer definiert, was „normal“ ist? Normalität für wen?

„Deutschland. Aber normal“ schließlich ist der Versuch, völkisch-nationalistische Positionen in der Mitte der Gesellschaft zu platzieren und damit Ausgrenzung, strukturelle Gewalt und Ressentiments gegenüber Andersdenkenden und gesellschaftlichen Minderheiten zu normalisieren.

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27 Kommentare

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  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    Normal ist das, was sich der normale Mensch so als normal vorstellt - wenn er normal ist.

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    "Bitte widerlegt mir diese Befürchtungen und Gedanken, Danke!



    Puuhh, Sie verlangen was ...

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @82286 (Profil gelöscht):

      Galt HORSTL FORMBACHER 10:11

  • "Dabei ist das Normale – ebenso wie die Norm, der Durchschnitt und die Abnormalität – eine historisch recht junge Idee, die erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum Eingang in den Wortschatz gefunden hat."



    Blödsinn!Konformität existiert nicht erst seit dem 19.Jahrhundert. Das ist eine uralte"Idee",die es seit den Anfängen der Menschheit gibt. Bzw. schon vorher. "Normal" bezieht letztlich auf den in einer Gruppe existierenden "Verhaltenskodex". Den es auch bei Tieren gibt. Und wer da nicht mithält,der verhält sich "unnormal". Was den Ausschluß aus der Gruppe/Horde/Herde/Rudel/... zur Folge hat oder sogar gleich den Tod.



    Beim Tier Mensch ist es vom Prinzip das Gleiche.Wenn auch viel komplexer. "Normal" ist natürlich kein fester Wert an sich oder ein klar stets und überall gleich definierter Verhaltenskodex.Und die Verbindung zu statistischen Durchschnitt, zur Norm,ist wohl erst im vorletzten Jahrhundert entstanden. Aber "normal" im Sinne sich so zu verhalten und auch denken wie die meisten in der Gemeinschaft in der man lebt,ist wie geschrieben uralt.

    • @Mustardmaster:

      "Uralt" und "Verhaltenskodex" sind, genau wie "normal" extrem zeit- und kontextabhängig - und machtpolitisch aufgeladen. Was in Westeuropa bis vor dreihuntert Jahren "normal" war (z.B. Hexenverbrennungen) ist heute indiskutabel, ebenso wie die Prügelstrafe, die noch vor 70 Jahren in Schulen üblich war. Homosexualität stand in der BRD bis 1969 strafbar, da hat sich der Kodex geändert etc. etc. Auch auf höchster politischer Ebene, hinsichtlich der Idee der Nation als Kontainer für Bevölkerungen und Kulturen, hat sich einiges getan. Wie hat Georg Elwert (1989), bezugnehmend auf Benedikt Anderson, nicht so schön geschrieben: "Die objektive Modernität der Nationen als kulturelle Artefakte in den Augen der Historiker steht ihrem subjektiven Altertum in den Augen der Nationalisten entgegen." Bezüglich der Legitimation politischen Handelns in bestimmten Kontexten hat Max Weber hat vor über 100 Jahren schon erkannt, dass "traditionell" oft die "Berufung" auf das "Althergebrachte" als Legitimation braucht (selbst wenn faktisch Neuerungen eingeführt werden). Inofern: das Gerede von "...wer da nicht mithält,der verhält sich "unnormal"..." ist analytisch gesehen Quatsch aber stellt gelichzeitig ein wunderbares Beipiel dar für die von Claudia Liebelt angesprochene strukturelle Gewalt, die sich hinter dem Vorwurf, die gesellschaftliche Normalität zu stören,verbirgt.

  • Richtig. Die AfD, der parlamentarische Arm des Rechtsterrorismus. Reaktionäre Rechte. Völkische mehr oder minder Militante. Autoritäre in der Wolle gefärbte, in der Praxis dann immer in Wahrheit Nicht- bis Antidemokraten.



    Sie alle beanspruchen die Normalität. Immer schon.



    Ist banal: Was normal ist hat die Macht.



    Und etwas normal, gesichert, als Konsens zu empfinden und vorzufinden, ist zunächst Mal kein Bedürfnis, das man mit entfremdeter und entfremdender Normierung gleichsetzen sollte. Das ist der Diskurs der Rechten. Der von Verlust- und Identitätsängsten geplagten Reaktionäre. Sie behaupten - verlören sie die Normalität ihrer Privilegien, die Priorität ihrer recht überschaubaren und kleinteiligen, wie kurzfristigen Prioritäten /Interessen, führe dies zu Zusammenbruch, Chaos, einerseits, zum anderen aber zu einer normierten Gleichförmigkeit.



    Was bitte ist neu an dieser Polemik, die nur einen Zweck hat und immer hatte: Über die tatsächlich verteidigte und behauptete Normalität nicht sprechen zu wollen.



    Besser also wir bleiben dabei was in diesem immer gleichen Diskurs am besten hilft.



    Normal hat in Deutschland, hat im zusammenleben der Menschen über die eigenen, Landes- und Kulturgrenzen hinweg zu sein...



    Und dann bitte Butter bei die Fische.



    "Deutschland - aber normal" heisst für mich: Angemessen, bezahlbar wohnen. Gemessen am Durchschnittseinkommen der Hälfte der Bevölkerung, die nicht 3000 Euro verdient. Deutschland, Europa "normal" heisst: Einwanderungs- Auswanderungsland und -Region sehr lange schon. Normal ist nicht, das Rentenversicherung via Immobilienspekulation finanziert wird...



    "Deutschland normal" heisst für mich: So was wie AfD kriegt bei Wahlen nicht mal über 5%

  • 9G
    97760 (Profil gelöscht)

    Das Familienidyll der 60er und 70er produzierte tausende Drogentote, mit wenig Migrationshintergrund, inFrankfurter und Berliner Parks. Produzierte Alkoholiker*innen an Kiosken, die es so im Ausland nicht gibt. Und Abgehängte, die ihr Abi oder Studium nicht mit 1 oder 2 abgeschlossen haben.

    • @97760 (Profil gelöscht):

      Ja, stimmt genau. Eine Freundin von mir, Jahrgang 1950, sagte mal (im Zusammenhang mit Ehe für alle), es gäbe ja kaum noch "normale" Familien. Ich antwortete ihr: Was meinst du denn mir normal? Vater, Mutter, beide Heteros, ein, zwei drei Kinder (traf auf sie zu). Ja, sagte sie, warum nicht, was ist daran falsch?



      Ich antwortete: Musst auch noch sagen, dass der Vater Alkoholiker ist, seinen Beruf als Chirurg die meiste Zeit nicht ausführen kann, dafür abends schon mal im Rinnstein liegt und von Nachbarn nach Hause gebracht wird, die Kinder sich jahrelang in Grund und Boden schämen und die Mutter die jahrelang die Klappe hält, bevor sie sich endlich zur Scheidung durchringt. Ist das eine normale Familie? (TRaf alles auf sie zu).



      Die Freundschaft war danach erst mal im Eimer. Aber ich kann diese bürgerliche Selbstgerechtigkeit nicht ausstehen, mit dem Wort normal umher zu laufen, Steine zu werfen und so was von im Glashaus zu sitzen.

  • Sehr erhellender Artikel. Der Begriff des Normalen kommt also ursprünglich aus dem Militär - die Vermessung von Rekruten.

    Das war mir so noch nicht klar.

    Ist Schule in ihrer heutigen - stark normierenden - Form dann militaristisch? Und denken deswegen die Deutschen, daß frontaler Präsenzunterricht so unverzichtbar ist?

  • Normopathie als Parteiprogramm!? Was soll das denn werden? Im Rheinland ist jeder Jeck anders, also das Jeck-Sein ansich ganz normal. Da hätte die AfD doch auch genausogut 'Deutschland - aber jeck' plakatieren können. Das kommt der Sache wohl schon sehr viel näher. „Wennste nix mehr merkst, merkste auch das nich mehr.“ (Oma)

    de.wikipedia.org/wiki/Normopathie

    gedankenwelt.de/no...e-anderen-zu-sein/

  • Ganz normales Framing. Blau ist die Lieblingsfarbe der Deutschen. Warum die AfD wohl die blaue Partei ist, hm ganz schwierige Frage.

    Wenn ich sage, was normal ist, muss erst mal vielen Menschen, die es nicht verstehen, erklärt werden, warum es nicht so ist. Weil für jeden Normalität etwas anderes bedeutet.

    Dumme Behauptungen aufstellen ist eine sehr kluge Taktik, solange einem zugehört wird, von Leuten, die das nicht bemerken. Es schmälert ja nicht die Macht, wenn man die Anhängerschaft weiter verblöden lässt, aber es hält die Gegner*innen davon ab, proaktiv anzugreifen. Die Gegner*innen sind stattdessen die Hälfte ihrer Zeit damit beschäftigt, die dummen Behauptungen zu entkräften, in der Hoffnung, ein paar der Anhänger*innen der blaubraunen Systemfeind*innen würden dann bemerken, was für ein Unfug von sich gegeben wurde. Aber da sitzt man einem Missverständnis auf. Wenn man sich einmal dazu entschlossen hat, auf das Niveau herab zu sinken, dass man eine AfD wählt, dann ist das so ähnlich, als hätte man sich Heroin gespritzt. Man kann vielleicht wieder damit aufhören, aber man wird nie wieder vergessen, wie schön die Welt war, als alles so einfach war, weil man für alles einen Schuldigen hatte und man selber war an gar nichts schuld. Kann schon verstehen, dass das komplette Abgeben jeglicher Verantwortung und die Verabschiedung von Vernunft und Logik süchtig machen können, vor allem wenn man in einer Welt lebt, in der man nicht mehr von der biologischen Auslese bedroht wird und sogar irgendwelche Feindbilder konstruieren darf, ohne dass man dafür sehr bedrohliche Konsequenzen befürchten muss. Leute wie Naidoo und Hildmann sind verloren, genau wie viele Pegidisten und Querdenker. Die durften sich alle in der Schwarmdummheit viel zu lange wohlfühlen, als dass sie in die bittere und harte Realität zurück wollen würden.

  • Das AFD-Wahlmotto ist typisch für die Rhetorik der Neuen Rechten.



    Unauffällig aber ganz im Stile der "Sprache des Nationalsozialismus" wird ein Begriff aus der Technik (die "Norm") auf den gesellschaftlichen Bereich übertragen.



    Damit versucht die AFD zu verschleiern, dass sie mit der "Normalität" im Kern die "Gleichschaltung" der Gesellschaft, das heißt die Unterordnung /aller/ Lebensbereiche unter die Vorstellungen der "Neuen" (bzw der ganz alten) "Rechten" meint.



    Siehe dazu auch "LTI, Notizbuch eines Philologen" von Victor Klemeperer.

  • Die AfD und ihr umgebendes Milieu beanspruchen für sich schon seit Jahren Begriffe wie "normal", "Vernunft", "gesunder Menschenverstand" oder "Mut zur Wahrheit", so als wären das völlig eindeutige, faktenbasierte und wertungsfreie Begriffe, über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg.

  • Hervorragender Artikel. Volle Zustimmung.



    Man kann nicht genug betonen, dass Normalitätsvorstellungen wie sie die AfD propagiert mit den Grundprinzipien der Postmoderne und einer diversen und pluralistischen Gesellschaft zwangsläufig unvereinbar sind. Ein solches Ziel auszugeben bedeutet deshalb die Zeit um mindestens 50 Jahre zurückdrehen zu wollen.

  • Die Frage:

    "Wer definiert, was „normal“ ist?"

    ist einfach zu beantworten: das tut jeder für sich selber.

    Und was den Werbespot "Deutschland. Aber normal" anbelangt: klasse gemacht, denn er bringt ein Lebensgefühl zum Ausdruck.

    It's hip to be square.

  • Ich denke, der Begriff, der das legitime Bedürfnis nach Zugehörigkeit, geteilten Werten und verbindlichen Regeln von autoritären Reflexen trennt ist "Gemeinsamkeit". Diesen gilt es schnell zu besetzen anstatt reflexhaft gegen rechte "Normalität" mit postmodernem Spaltpilz anzukeifen.

  • Die AfD fundamentiert ihren Anspruch auf "ewig Gestrige".

  • Nur kein Neid. Aber nach (oder neben?) Multikulti und Diversität braucht es eben auch Normalität und sei es, um sich davon abzugrenzen. Viele Menschen sehnen sich nach Normalität, nicht nur wegen Corona. Dieses Feld allein der AfD zu überlassen, ist mehr als sträflich.

    Dass Normalität auch brutal sein kann, ist unbenommen. Diversität und Multikulti sind es aber in anderer Weise auch.

  • Ja wie? “ Normalität ist nicht so harmlos, wie es scheint.“

    Nö. Sacht doch keiner & Bisken jung - wa



    Vorläufer u.a. “Die formierte Gesellschaft“



    Und die Pinscher & die braunschwarze Zigarre. Gellewelle.



    Gleich neben - Gut Gekehrwocht. Gelle.

    unterm—— Erhard/Altmann



    www.bundestag.de/r...16-19-pdf-data.pdf



    & Zurückgeblättert - 😝 -



    www.blaetter.de/si...ttert_201112_1.pdf



    & der schlaue Warnfried Dettling



    www.blaetter.de/si...ttert_201112_1.pdf



    Greift eindeutig zu kurz - das erledigt hück Unfrieds Peterle

    So feht das - Newahr



    Normal - 🤑🤮🤢👹

    • 8G
      82286 (Profil gelöscht)
      @Lowandorder:

      Zu den Links:



      Das Volk hat dem einen großen Ziel zuzuarbeiten. So wie Erhard es in der NS-Zeit gelernt hat.

      • @82286 (Profil gelöscht):

        Stimmt - irgendwo - gibt’s den fein passenden Satz ~ ”Die Juden waren eh schon eliminiert - die übrigen längst abgehauen. Ludwig Erhard blieb einfach an seinem Schreibtisch sitzen &!



        Diente sich erfolgreich an!“

        Der Pinscher - Naja eher son wabbeliger



        Schlachterhund - mit Zigarre.



        Wollte nur - Spielen - 🤑 -

        • 8G
          82286 (Profil gelöscht)
          @Lowandorder:

          Hat sich die CDU je von diesem Paradigma verabschiedet ?

  • Dass der "parlamentarische Arm" der "Neuen Rechten" mit dem Wahlspruch den nächsten Schritt der strategischen Diskursverschiebung vollzieht, scheint nicht auf dem Schirm der Öffentlichkeit zu sein.

    Lege ich die Arbeiten des m.E. hochkompetenten Volker Weiß zugrunde, so schließe ich aus dem Wahlslogan folgendes:

    Die Rechte sieht sich nunmehr hinreichend in der Bevölkerung verankert um eben mit einem "Normalitätsbegriff" rassistisches Gedankengut als die "gute deutsche Norm" zu labeln.

    Ich hoffe, dass das großmannssüchtige Fantasien sind, aber wenn ich das Medienecho, welches zu Beginn des Artikels zitiert ist vergegenwärtige, wird mir Angst und Bange. Entweder sind die genannten Organe blind oder wohlwollend, das ist wiederlich.

    Wann wird es denn dann normal POC zu schlagen? Oder Antifaschisten qua ihrer politischen Einstellung weggesperrt werden? Einer Muslimin das Sitzen in Öffis zu verbieten?

    Bitte widerlegt mir diese Befürchtungen und Gedanken, Danke!

    • @Horstl Fambacher:

      Es gibt durchaus POC in der AfD. Der rechtsextreme homogene dumpfe Hassverein mit dem üblichen Feindbildern ist die AfD sicher nicht. Trotzdem ist es natürlich aus taktischem Gründen richtig sie so zu framen wie es der Artikel tut. Will man das Phänomen AfD aber tatsächlich erfassen hilft eher ein Blick in das europäische Ausland statt in die Vergangenheit. Mit FPÖ, dänische Volkspartei, Basis Finnen etc. hat man da ähnliche Phänomen und kann sehen auf was in schlimmsten Fall hinausläuft.

      • @Füllfeder:

        Ich spreche auch eher von der AfD als Instrument von Schnellroda-Doktrinen, die verstehen jene, wie schon gesagt, als keineswegs zufriedenstellend rechtshomogener "parlamentarischer Arm" einer völkischen Gesamtbewegung

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    Dazu ein Link:



    www.faz.net/aktuel...d-15066430-p7.html



    Auf den stieß ich bei meiner Recherche nach NSDAP-Plakaten, angeregt durch das mittlere Plakat der AfD auf dem Titelbild zu diesem Artikel in der TAZ:



    taz.de/Unteilbar-A...n-Anhalt/!5773522/