piwik no script img

Deutschlands neue RegierungKeine Zäsur, aber eine Chance

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die neue Ampelkoalition ist eher aus Not und praktischer Vernunft geboren. Doch sie ist das progressivste Bündnis, das derzeit geht.

Sie geht, er kommt: Kanzler Scholz verabschiedet seine Vorgängerin Merkel im Bundeskanzleramt Foto: Markus Schreiber/ap

D er Machtwechsel ist vollzogen. Er ging kühl und symbolarm über die Bühne, so wie die Bundesrepublik eben ist. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hob für den Tag das Verbot auf, im Parlament Fotos zu machen. Das war, vom Unterhaltungswert her betrachtet, der Höhepunkt. Die geschäftsführende Merkel-Regierung ist nicht mehr im Amt. Die neue Ampelregierung wirkt schon an ihrem ersten Tag geschäftsmäßig.

Dieser Wechsel ist keine Zäsur wie 1969 und 1998. 1998 war ein generationeller Bruch: Die mittig gewordenen 68er übernahmen die Macht. Willy Brandts Kanzlerschaft war ein Demokratisierungsschub und Ausdruck des Bündnisses von Arbeiterbewegung und liberalem Bürgertum. Die Ampel ist eher bedeutungsarm. Man kann sie nur schwer als Reflexion mächtiger gesellschaftlicher Umbrüche lesen. Es ist kein Zufall, dass die Ampel ihren Fortschritts-Slogan als Zitat von Willy Brandt verkauft.

Die Ampel ist eher aus Not und praktischer Vernunft geboren. Es gäbe sie kaum, wenn die Union nicht so ausgelaugt vom Regieren wäre. Die Kanzlerin trat nicht mehr an, nun sitzt der Vizekanzler auf ihrem Posten. Die Deutschen ziehen fast immer Kontinuität dem Wandel vor, das Vertraute dem Unbekannten.

So weit die Skizze. Doch dreht man sie ein wenig, sieht man wie bei einem Vexierbild etwas anderes. Die Ampel ist, gerade angesichts der tiefen Scheu der BürgerInnen vor Wechseln, das progressivste Bündnis, das zu haben ist. Das gilt in Abstufungen. Beim Sozialen ist, abgesehen vom Mindestlohn, am wenigsten Erfreuliches zu verzeichnen. Gesellschaftspolitisch würde hingegen auch eine rot-grün-rote Regierung nicht viel anders machen. Viele Details, vom Familienrecht bis zur Drogenpolitik, summieren sich zu einem Bild: Der Staat wird so liberal, wie es die Gesellschaft schon ist.

Wenn es ein Motto dieser Regierung gibt, dann ist es Modernisierung. Nicht als wärmende, sinnstiftende Formel, sondern als kleinteilige Anpassung an das, was der Fall ist; der Staat soll einfach nicht mehr im Weg stehen. Tradition zählt da wenig. Dass Scholz der erste deutsche Kanzler ohne Konfession ist, passt in diesen Rahmen.

Entscheidend ist der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft. Programmatisch neu ist dabei nichts. Neu ist, endlich zu tun, was bisher fehlte. Dass Christian Lindner die Rolle des Sparkommissars abstreift, ist eine Voraussetzung für das Gelingen dieses Projekts. Scheitert der Klimaumbau, dann scheitert Scholz.

Die Ampel ist die beste Regierung, die gerade drin ist. Man sollte ihr eine Chance geben.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Ist es nicht ein bisschen sehr früh die Regierungsbildung gestern mit Ereignissen 1968 und 1989 zu vergleichen?



    Immerhin sind auch in der Gegenwart deutliche Transformationstendenzen in Deutschland und der Welt spürbar, finde ich.



    Ich sehe es gar nicht so schwarz.

  • Du hast den SW-Film vergessen...