Der Hausbesuch: Nicht Mitglied, sondern „Mitklit“
Kassandra Hammel birgt feministische Schätze aus einem lange vergessenen Archiv in Freiburg. Dort verbringt die Historikerin mehr Zeit als daheim.
Frauen wie die Historikerin Kassandra Hammel sorgen dafür, dass soziale Bewegungen ein Gedächtnis haben. Zu Besuch in einem Freiburger Archiv.
Draußen: Unter der großen Linde in der Mitte des Hofes sind alle Bänke belegt. Ein Mann läuft auf und ab, eine Frau mit Kinderwagen steht am Rand. Sie warten. Neben der Asylberatung hat hier in Freiburg eines der ältesten freien Radios Deutschlands – das Radio Dreyeckland – seine Studios.
Drinnen: Kassandra Hammel arbeitet in den Räumen des Archivs Soziale Bewegungen, gegenüber von Radio und Asylberatung. „Hier bin ich häufiger als zu Hause“, sagt sie bei der Begrüßung im Erdgeschoss, zwischen hohen Metallregalen voller Akten. Oben im ersten Stock sind Büro und Konferenztisch, unten, im Keller, ist das feministische Archiv untergebracht. Die 31-Jährige kramt ein Transparent hervor, das sie bald wieder ins Fenster hängen will: pink und lila auf weißem Grund die Schriftzüge „Fem-Werkstatt – Archiv soziale Bewegungen“.
Dorfkind: Aufgewachsen ist Kassandra Hammel in Hälden, einem 60-Einwohner-Weiler in der Nähe von Heilbronn. Die Großeltern betreiben Landwirtschaft. Der Vater geht einen anderen Weg, studiert Informationstechnik, arbeitet bei der Telekom, dann bei Bosch. Die Mutter kümmert sich um die Kinder und um den Weinberg ihrer Eltern, später kommen Streuobstwiesen, Pferde und Kartoffeln dazu. Kassandra spielt mit ihren Cousinen, Platz gibt’s genug. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie älter wurde: „Es war schwierig wegzukommen.“ Mit 17 macht sie den Führerschein.
Tragische Heldin: Immer wenn es irgendwo Schlüsselanhänger, Tassen und Plüschtiere mit Vornamen darauf zu kaufen gibt, kann sie ihren nicht finden. Ihre Eltern hatten ihn beim Blättern in einem Namensbuch entdeckt und fanden ihn einfach nur schön. Kassandra schlägt später im heimischen Brockhaus nach und erfährt, dass ihr Name der griechischen Mythologie entspringt: Kassandra war die tragische Heldin, die das Unheil voraussah – den Untergang von Troja –, aber man glaubte ihr nicht.
Spaßbremse: In der 8. oder 9. Klasse liest der Holocaust-Überlebende Sally Perel in ihrer Schule aus seinen Erinnerungen vor. „Mich hat das sehr bewegt“, sagt Kassandra Hammel, „ich konnte nicht verstehen, wie eine Gesellschaft so wird, dass es zum Holocaust kam.“ Der Geschichtsunterricht interessiert sie, gute Noten hat sie aber nicht. In ihrer Freizeit hört Kassandra Metal. „Das war die Dorfjugendkultur bei uns.“ Wenn sie auf Konzerten rechte Sprüche hört, weist sie sie zurück und wird „Spaßbremse“ genannt. Zu der Zeit besucht sie auch ihre erste Demo: Vor dem Landtag in Stuttgart demonstriert sie für bessere Bildung.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Politisches Engagement: Nach der Schule will sie Geschichte studieren. Tübingen ist ihr zu nah, richtige Großstädte hätten ihr aber „Angst gemacht“. Also wird es Freiburg. Bei Erstsemester-Veranstaltungen lernt sie Kommiliton*innen aus der Fachschaft kennen. Die nehmen sie zu Demos gegen rechts mit. Bald schon organisiert Kassandra selbst Veranstaltungen: zur Geschichte des Nationalsozialismus und zur Neuen Rechten.
Feminismus: In ihrem Studium stört Kassandra Hammel etwas. Sie sei zunehmend von der mangelnden Sichtbarkeit von Frauen sowie der „Nebensächlichkeit, mit der Geschlecht als Analysekategorie in der Geschichtswissenschaft behandelt wurde“, genervt gewesen. Sie besucht Seminare zu Geschlechtergeschichte, darunter eines zu Sexualität in der westdeutschen und britischen Gesellschaft von 1870 bis 1950. Für die Masterarbeit greift sie das Thema wieder auf. Anhand von Zeitschriften untersucht sie, wie Feministinnen in beiden Ländern die sexuelle Revolution bewerteten.
Glasgow: Für ihre Forschung macht sie am Centre for Gender History in Glasgow ein Praktikum und durchforstet das Archiv der Glasgow Women’s Library. Dort gibt es auch Veranstaltungen und Stadtrundgänge. „Ich war ganz begeistert von dem Ort.“ Kassandra empfindet ihn als „Gegenort“, als Treffpunkt für alle Generationen, als offenen Raum. Hier hat sie das Gefühl, „dass Politik und Wissenschaft zusammenkommen können“. Forschung und Aktivismus – für die Historikerin kein Gegensatz.
Mitklit: Zurück in Freiburg sucht sie einen ähnlichen Ort. Von der Feministischen Geschichtswerkstatt hatte sie schon gehört. Einen Aufruf, sich zu engagieren, findet Kassandra auf deren Homepage aber nicht und zögert. Eine Freundin ermutigt sie. Die erste Antwort ist enttäuschend: „Wegen Corona treffen wir uns gerade nicht.“ Doch bald lädt Birgit Heidtke, Mitgründerin der FemWerkstatt, Kassandra zu einem Online-Austausch mit Vertreterinnen feministischer Archive aus ganz Deutschland ein. Kassandra wird Mitglied der Geschichtswerkstatt. „Beziehungsweise ‚Mitklit‘, wie Birgit immer sagt.“
Ausgrabungen: Aus Glasgow hat Kassandra ihre Begeisterung für das Durchforsten von historischen Zeitschriften mitgebracht. In der FemWerkstatt erfährt sie: Ein brachliegendes feministisches Archiv liegt im Keller des „Archivs Soziale Bewegungen“. Kassandra will es wiederbeleben. Sie entwickelt ein System, um die Materialien zu katalogisieren: Es sei wichtig, dass Feministinnen ihre Geschichte dokumentieren, sonst seien sie gezwungen, immer wieder von vorn zu beginnen.
Forschung: Im niedrigen Kellerraum liegen stapelweise Sammelordner mit Zeitschriften wie Ariadne, die Cahiers du féminisme und Frau ohne Herz. Das Archiv wird Kassandras zweites Zuhause. Sie beginnt eine Promotion, in der sie sich wieder mit Frauenkörpern, Gesundheit und der weiblichen sexuellen Revolution in Großbritannien und Westdeutschland beschäftigt. Beim Durchforsten der Zeitschriften im Keller trägt sie am liebsten einen grauen Overall. „Dann habe ich mehr das Gefühl des Herumwerkelns.“ Denn: Die Arbeit in Bewegungsarchiven sei Handarbeit, DIY – Do it yourself. Sie werde selten von ausgebildeten Archivar*innen gemacht, sondern von Aktivist*innen.
Wiedereröffnung: Am 8. März 2022, 20 Jahre nach der Schließung des Archivs, eröffnet die FemWerkstatt die Ausstellung „Aufbrechen – 50 Jahre Neue Feministische Bewegungen in Freiburg“. Zu sehen sind Flyer, Plakate, Zeitschriften. Warum 50 Jahre? „Das älteste Flugblatt im Feministischen Archiv ist von 1972“, sagt Kassandra Hammel.
Aktivismus ohne Ästhetik: „Mit dem Aufkommen von Computern sind Flyer erst mal hässlich geworden“, findet Kassandra. Früher hätten Flugblätter mehr Bastelarbeit erfordert, das hätte sie individueller gemacht. Mit den ersten Computern waren die grafischen Möglichkeiten noch sehr eingeschränkt. „Da wusste man überhaupt nicht, wie man mit Bildern arbeiten kann, und hatte nur Bleiwüsten.“ In der Ausstellung können Drucktechniken aus den 70ern und 80ern ausprobiert werden: Matrizendrucker, die mit einer Art Durchdruckpapier arbeiten, wie man sie heute noch von Quittungen kennt. Als Ergebnis erhielt man blau-lilafarbene Abzüge – was gut zum Thema passte.
Work in Progress: Die Ausstellung soll nicht nur Öffentlichkeit für die Geschichte der feministischen Bewegung herstellen, sondern auch für das neue alte Archiv. „Ich hatte gehofft, dass es Frauen ermutigt, ihre Keller auszumisten.“ Und das tut es. Ein paar Frauen, die in den 90ern eine Gruppe gebildet hatten, bringen Protokolle von damals vorbei. Ihnen war aufgefallen, dass in der Ausstellung wenig aus den 90er Jahren zu sehen war. „Für sie war das aber eine politisch sehr aktive Zeit.“ Die Frauen treffen sich daraufhin mehrmals im Archiv. „Es klang, als würden sie sich heute über die gleichen Themen streiten wie schon damals.“
Kontinuitäten: Nicht ganz zu Unrecht, findet Kassandra Hammel: „Vor 10, 20, 30 Jahren hatten Feministinnen die gleichen Themen wie heute.“ Teils sei es frustrierend zu sehen, was immer noch nicht geschafft worden sei – wie die Abschaffung des Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches, der Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert. Aber es könne auch empowernd sein zurückzublicken, schließlich habe die Frauenbewegung auch sehr viel bewirkt. Dank ihr seien beispielsweise Strukturen gegen Gewalt an Frauen geschaffen und vielerorts Gleichstellungsbeauftragte eingeführt worden.
Weiter sammeln: Wenn Kassandra heute auf Demos geht, sammelt sie dort auch Flyer. Allerdings werde immer weniger auf Papier gedruckt. Es gebe nun viel mehr Sharepics, also digitale Bilder mit kurzen griffigen Texten, die sich auf Social Media verbreiten und die man digital sichern kann. Aber Telegram-Gruppen? „Wie soll man so etwas sichern?“ Noch fehlt Kassandra Hammel die Zeit und dem feministischen Archiv das Geld, um Fragen wie diese zu klären. „Erst mal muss ich meine Diss zu Ende bringen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“