Der Hausbesuch: Sie tauschte die Rollen
Margret Osterfeld arbeitete früher als Psychiaterin, eine Zeit lang war sie selbst Psychiatriepatientin. Sie nennt das eine „intensive Weiterbildung“.
Es erfordert Mut, öffentlich zu machen, dass man eine psychiatrische Diagnose hat. Diesen Mut bringt Margret Osterfeld auf.
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Draußen: In der kleinen Stadt Lübbecke in Nordrhein-Westfalen ist sie aufgewachsen, als Teenager fühlte sie sich wie eingesperrt. Heute lebt Osterfeld wieder in ihrem Elternhaus. Weil der Fußweg dorthin weit ist, steht sie am Bahnhof mit dem Auto und macht auf dem Weg eine kleine Stadtrundfahrt. „Das hier ist unsere Shoppingmeile“, sagt sie scherzhaft und deutet in eine kleine Straße mit Fachwerkhäusern. Beim Ankommen grüßt ihr Hund freudig an der Tür. Eine Katze hat sie auch – die frisst aus einem Napf auf dem Esstisch, damit der Hund ihr nicht das Essen klaut.
Drinnen: Die Bücher in Osterfelds Wohnung sind aufgeteilt: Unten im Wohnzimmer mit dem Kamin steht die Literatur. Oben hat sie zwei Arbeitszimmer; in dem einen stehen medizinische Bücher, über Chirurgie und Ähnliches; im anderen, sagt sie, stehen die psychiatrischen. Weil das Wetter schön ist, findet das Gespräch unter einem gelben Segeltuch auf der Terrasse statt. Auf dem Tisch liegen ein Telefonbuch und ihr Laptop, Osterfeld räumt die Sachen weg und zündet sich eine Zigarette an.
Das Kaff: Geboren ist Margret Osterfeld 1950. Sie erlebte mit, wie ihr jetziges Haus gebaut wurde. „Das sind hier alles 60er-Jahre-Bauten.“ Osterfeld ist die Älteste von vier Kindern und musste für die anderen Verantwortung übernehmen. Für sie war das nicht unbedingt ein Segen. „Als ich 17, 18 war, wollte ich nur weg aus diesem Kaff.“
Die Zeiten: Sie ging und wurde pharmazeutisch-technische Assistentin. Während der Ausbildung lebte sie im Allgäu in einem Mädchenwohnheim. Dort verliebte sie sich. Doch das Umfeld war konservativ. Wenn man sich „auf der Straße einen Kuss“ gab, sagt sie, wurde man beschimpft. „So waren die Zeiten.“
Der Tod: Als sie ihre Liebe heiratete, wussten sie schon, „dass es keine lange Ehe wird“. Ihr Mann hatte Leukämie. Drei Jahre später war er tot. Osterfelds Stimme zittert, wenn sie das erzählt. Für sie war damals aber völlig klar, dass sie diesen Mann trotz seiner Diagnose heiraten wollte. Der Schmerz nach seinem Tod wäre schließlich auch ohne Trauschein dagewesen. Wenn sie über diese Erfahrungen spricht, braucht sie „mehr Tee und mehr Zigaretten“. Mit ihrem zweiten Mann bekam sie zwei Kinder, später war sie alleinerziehend.
Durchhalten: Ihr Weg in den Beruf verlief in Schlangenlinien. Osterfeld holte ihr Abitur nach und wollte Pharmazie studieren, dann wurde es doch Medizin. Sie pendelte zwischen Münster und Dortmund, wo sie mit einer anderen alleinerziehenden Frau eine WG teilte.
Die Psychiatrie: Später wurde sie in einer psychiatrischen Klinik Oberärztin, obwohl sie erst als Neurologin arbeiten wollte. Aber in der Psychiatrie, sagt sie, gehe es um den ganzen Menschen, dort „tobt das Leben“. Ihr Alter half ihr. „Was im Denken Weite geschaffen hat: Ich war fast 43, ich hatte schon Lebenserfahrung, das war ’ne gute Grundvoraussetzung.“ Sie erzählt, sie sei als Psychiaterin in der Stadt sehr angesehen gewesen.
Seitenwechsel: Zu Margret Osterfelds Berufsweg gehört auch die Erfahrung, die Psychiatrie als Patientin erlebt zu haben. 1998, in einer besonders stressigen Zeit, brauchte sie selbst Hilfe. In dem Buch „Seitenwechsel. Psychiatrieerfahrene Professionelle erzählen“ schreiben sie und andere Betroffene darüber, wie das ist. „Vor der Tatsache des Krankwerdens habe ich keine Angst mehr. Nur vor der Tatsache, so behandelt zu werden, habe ich Angst“, heißt es in ihrem Beitrag. Ihre „Krankheit“ nennt sie darin lieber „Krise“.
Die Definitionsmacht: Die Ursachen für die Krise damals sieht sie in ihrem Privatleben, der dritten Ehe und dem in dieser Zeit belastenden und unkollegialen Arbeitsalltag. Osterfeld findet es falsch, wenn in der Medizin psychische Krankheiten losgelöst von ihren Umständen als Stoffwechselstörungen im Gehirn begriffen werden. Medikamente sollte man nicht als Antwort auf Lebenskrisen verabreichen, sagt sie. Diese könnten lediglich eine „Krücke“ sein. Sie fordert mehr Selbstbestimmung der Betroffenen – auch über die Definition von „krank“.
Manie: Man hat bei ihr eine „Hypomanie“ und später eine „Manie“ diagnostiziert, Margret Osterfeld war in verschiedenen Kliniken, auch auf geschlossenen Stationen. Für sie war das eine merkwürdige Situation, schließlich wusste sie als Ärztin eigentlich über alles selbst Bescheid. Sie sträubte sich gegen die Fremdbestimmung der anderen. „Ich habe gesagt, ich wusste schon mit 16, welche Pille ich zu schlucken habe“, sagt sie scherzhaft.
Fremdbestimmung: Sie arbeitete nach der Krise wieder als Psychiaterin, diesmal in der Tagesklinik. Anfangs sei sie in ihrer Rolle verunsichert gewesen. Osterfeld erzählt, wie die Menschen in ihrem Umfeld sie genau beobachteten, etwa wenn sie – was für Manien als typisch gilt – mehr Geld ausgab, wenn sie einen großen Eisbecher aß und „drei T-Shirts auf einmal“ kaufte. Kurze Zeit später fuhren ihre Angehörigen sie dann wieder in eine Klinik, es hieß wieder Zwangseinweisung – der Zwang war unnötig und ungerechtfertigt, findet Osterfeld.
Arbeit: 2002 fühlte sie sich sicherer. Auf einer Tagung outete sie sich vor anderen „Professionellen“ als Betroffene. Einige hätten das sehr gut aufgenommen. Ihr Vorgesetzter hingegen sei nicht begeistert gewesen, dass sie das öffentlich machte, erzählt sie – wegen des damit verbundenen „inneren Rollenkonflikts“.
Kritik: „Mein Chef bat mich irgendwann zum Gespräch, um mir zu sagen, dass ich mit meiner Diagnose doch ruhig in den Vorruhestand gehen könne.“ Ihre Patient:innen fanden ihre Offenheit dagegen gut, sagt sie, manche hätten sie im Fernsehen gesehen, als sie über ihre Erfahrungen sprach. Auch andere betroffene Mediziner:innen begrüßten das. Osterfeld wollte weiterarbeiten, blieb zäh. Während einer Freistellung meldete sie sich für Tagungen an.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Diagnosen: Margret Osterfeld ist froh, dass sie nicht schon als junge Frau Patientin wurde, dass sie nicht damals schon eine psychiatrische Diagnose bekommen hat. Wer einmal eine habe, werde sie nicht wieder los, sagt sie. Schlimm sei das besonders für Jugendliche, die in jungen Jahren eine Psychose erleben und dann für ihr Leben lang mit Schizophrenie diagnostiziert sind. „Wir haben im ICD, dem internationalen Klassifikationssystem für Diagnosen, im Grunde gar kein Heilungskriterium.“
Menschenrechte: Von der Innensicht in der Psychiatrie habe sie als Ärztin profitiert. „Ich bin als Psychiaterin eher besser geworden im Erstkontakt“, sagt sie. Und erklärt: „Ich habe dazugelernt, wie weh Zwang tut.“ Um sich das vorstellen zu können, sollten auch andere Ärzt:innen einmal die Rolle von Patient:innen einnehmen. „Ich finde, alle Assistenzärzte sollten vor der Ausbildung als Klinikleiter in die Patientenrolle.“
Ehrenamt: Margret Osterfeld engagierte sich auch im Ruhestand weiter. Bis 2019 war sie im Unterausschuss der Vereinten Nationen zur Prävention von Folter (UNSPT). Inzwischen hat sie ein anderes „Ehrenamt“: ihre Enkelkinder. Abschaffen wolle sie die Psychiatrie übrigens nicht, sagt Margret Osterfeld auf der Rückfahrt zum Bahnhof – auch wenn sie psychiatrische Gewalt kritisiert. Sie sagt: „Die Psychiatrie braucht in der Gesellschaft eine andere Rolle.“
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