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Der Fall GraichenWar da was, liebe Union?

Ulrike Winkelmann
Kommentar von Ulrike Winkelmann

Die Aufregung um Graichen ist aufgeblasen und unangemessen. Wenn Postenvergaben künftig aber kritischer beleuchtet werden, wäre etwas gewonnen.

Die CSU-Amigos Streibl und Stoiber im Jahr 1993 Foto: Wolfgang Maria Weber/imago

I st der Fall Graichen eine Affäre? Aber ja. Der inzwischen zurückgetretene Staatssekretär Patrick Graichen hat sich falsch verhalten, und seine Partei hat ringsherum Fehler gemacht. Natürlich war es falsch und unprofessionell von den Grünen, dass sie nicht daran gedacht haben, was es in Regierungsfunktionen für Folgen hat, wenn Graichen bei Posten- und Auftragsvergabe auf seine Familie trifft.

Aber die Affäre Graichen wird eben auch gnadenlos aufgeblasen. Das Spektakel, das Opposition (die FDP als Opposition innerhalb der Koalition kann inzwischen dazugerechnet werden) und andere darüber veranstalten, dass Graichen Berufliches und Privates nicht hinreichend getrennt hat, steht in keinem angemessenen Verhältnis zur sonstigen bundesrepublikanischen Realität.

Oder glaubt etwa jemand, all die Töchter und Schwiegersöhne von Unions-Granden seien ohne – auch verdeckten – väterlichen Einfluss auf ihre ersten Posten gekommen? Doch aktuell wirkt es, als sei Compliance etwas, das nur von Grünen verlangt werden könne, während dies etwa bei CDU und CSU den Ruch des Quatschig-Unrealistischen hätte – als wollte man die britische Thronfolge diskutieren. Für Graichens Nachfolge müsse jetzt jenseits der Kreise von Agora Energiewende und Öko-Institut gesucht werden, verlangen manche ernsthaft. Ob die Union schon mal die Forderung gehört hat, sie müsse ihre Drähte zum Mittelstandsverband endlich kappen?

Nun heißt es, die Grünen müssten sich aber an ihren eigenen Maßstäben messen lassen, und die lägen ja auch höher als etwa die der Union. Interessanterweise sagen das auch Grüne selbst. Sie scheinen entweder nicht zu merken, dass sie damit den Vorwurf nur bestärken, sie pflegten eine arrogant-akademische Wohlstandsmoral – oder sie nehmen das bewusst in Kauf. Schön blöd von den Grünen, wenn sie auf diese Weise das Geschäft ihrer Gegner betreiben.

Die Heuchelei der anderen

Es ist schließlich ein Unterschied, ob ich laut verkünde, keinen Bissen Wurst mehr essen zu wollen, um mich dann frohlockend am Industriefleisch-Grill einzufinden – oder ob ich Anstandsregeln breche, die grundsätzlich für alle gelten müssen. Rechts der politischen Mitte jedoch gibt es für moralisches Fehlverhalten eher noch Wohlwollendes: „A Hund is er scho.“

Sollte die Affäre Graichen zur Folge haben, dass ab sofort die Postenvergabe in allen Parteien gleichermaßen kritisch verhandelt wird, so wäre das doch etwas wert. Den Parteien, die sich selbst gern bürgerlich nennen, ihre Augenzwinkergeschäfte durchgehen zu lassen, während sich die komplette Republik gemeinsam über Verfehlungen der Grünen echauffiert – das ist genau die Heuchelei, die aktuell nur den Grünen vorgeworfen wird.

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Ulrike Winkelmann
Chefredakteurin
Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.