Demos gegen rechts: Kleingeistig – und trotzdem super
Sanfter Städte-Chauvinismus, ärgerliche Aktivist:innen: Auch wenn nicht ganz klar ist, an wen sich Demos gegen rechts richten, haben sie doch Sinn.
Und tatsächlich kamen in Bremen mit 50.000 Teilnehmer:innen, oder, laut Veranstalter, sogar 70.000 gemessen an der Einwohnerzahl deutlich mehr Demonstrant:innen zusammen als in Hamburg und den meisten anderen Großstädten. Noch etwas höher war der Anteil in einigen kleineren Städten wie Flensburg, oder der 29.000-Einwohner-Gemeinde Henstedt-Ulzburg in Schleswig-Holstein: Dort demonstrierte sogar mehr als jede:r Zehnte.
Bitte melden, wer nicht ein bisschen stolz auf seine Stadt oder ihr Dorf war und sich ein wenig kleingeistigen Städte-Chauvinismus erlaubte. Ich gestehe, mir liefen kleine Schauer über den Rücken, als ich aus dem Fenster die Ersten mit selbst gebastelten Schildern aus meinem Stadtteil in die Bremer Innenstadt aufbrechen sah, später gefolgt von großen Pulks wie bei Werder-Heimspielen.
Dabei haderte ich noch auf dem Domshof stehend mit der Selbstgefälligkeit, mit der ich und andere Bildungsbürger:innen ihre rechte – also in diesem Fall linke – Gesinnung inszenierten. Endlich mal auf der guten Seite der Macht stehen, privilegiert, warm und in Sicherheit. Genauso hatte ich schon mit den Ukraine-Demos Anfang 2022 gefremdelt. Damals wie heute war mir der Adressat der Proteste nicht klar.
Empfohlener externer Inhalt
Die Asylverschärfer:innen demonstrieren mit
Ich ging am Sonntag trotzdem hin, wieder in der Hoffnung, es hilft irgendwie denen, die unmittelbar betroffen sind, dieses Mal, weil sie in Thüringen leben oder aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Familiennamens als Erste von einer AfD-Regierung aus dem Land gejagt würden – oder Schlimmeres.
An dieser Stelle wird es kompliziert, weil viele dieser Menschen auch heute schon des Landes verwiesen werden und in Zukunft noch viel mehr. So sie denn überhaupt noch hinein gelassen werden, wenn nämlich die Asylrechtsreform der Europäischen Union Gesetz wird. Und das mit Zustimmung nicht nur der konservativen Parteien, sondern auch von Grünen und SPD, die sich an den aktuellen Demonstrationen gegen rechts beteiligen. Darauf wies ziemlich wütend ein Bekannter hin, der sich an mir vorbei in die Menge schob. „Ist das hier eine Demo oder Karneval?“, fragte er noch.
Die Antwort fand ich erst ein paar Stunden später: Sowohl als auch. Menschen können sich nur aktiv für andere und eine gerechtere Gesellschaft einsetzen, wenn sie ihre Selbstwirksamkeit spüren. Auch Widersprüche lassen sich so besser aushalten und die Gewissheit, dass immer noch viel mehr und viel schneller passieren müsste. Wenn man die Demonstrationen der vergangenen Tage daran misst, dann haben sie viel gebracht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles