Debatte vielfältige Erinnerungskultur: Nicht mehr nur die „Anderen“
Derzeit wird Antisemitismus in Deutschland oft den „nicht Herkunftsdeutschen“ zugeordnet. Das zeigt, wie hierzulande Erinnerung verhandelt wird.
D ieser Tage ist viel von Israelkritik die Rede, vor allem davon, dass ihre Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Aber wer definiert diese Grenzen? Die Menschenrechtsverletzungen in Gaza durch Israel zu kritisieren, ist für die Bild-Zeitung bereits antisemitisch. Sie weiß, was die „nicht Herkunftsdeutschen“ in Deutschland tun müssen: Sie dürfen keinen Antisemitismus importieren.
Das findet auch der Innenminister, der Kritik an Israel zwar erlauben mag, nicht aber importierten Antisemitismus. Auf einmal erscheint Antisemitismus in Deutschland vorrangig als eine Denkhaltung von „nicht Herkunftsdeutschen“.
Als im Mai 2013 der sechste Integrationsgipfel der Bundesregierung zu Ende ging, brach die Kanzlerin ein Tabu. Sie stellte das Leitmotiv der „Integration“ zur Debatte und schlug vor, nach Begriffen zu suchen, die mehr auf Teilhabe und Partizipation verweisen. Denn, so zitierte Die Welt Angela Merkel: „Für viele Zuwanderer stelle sich die Frage, wann ist man endlich integriert?“ Sie könne sich durchaus vorstellen, dass sich manche Migranten fragten: „Was soll ich jetzt noch machen? Ich habe Deutsch gelernt, ich habe einen deutschen Pass (…), was muss ich tun, damit ich als integriert wahrgenommen werde?“
Wir haben es mit einem neuen Phänomen zu tun: dem Unbehagen an der entstehenden Erinnerungskultur einer postmigrantischen Gesellschaft. Es ist ein Unbehagen der überforderten Aufsteigerfraktionen innerhalb der Mittelschicht, die ihren privilegierten Status in Gefahr sieht. Die Migranten sind nicht mehr einfach die „Anderen“, die man von oben herab kontrollieren kann, sondern sie gehören dazu, reden mit und ihre Erinnerungen werden Teil der kollektiven Erinnerung. Ihren Ärger und ihre Verunsicherung darüber agiert die deutsch-weiße Mittelschicht auf Schulhöfen, in der U-Bahn und in den Medien mit antimuslimischer Rhetorik aus. Es ist ein Versuch, den sozialen Wandel in Deutschland autoritär zu bewältigen.
Von der Realität ausgehen
Auch wenn es schwierig ist, Postmigration im soziologischen Sinne zu definieren, so treten überall im Alltag postmigrantische Situationen auf, welche die lebensweltliche Seite dieser Verhältnisse zeigen: Meine Nichte etwa, Deutsch-Griechin der dritten Generation, ist persönlich nie rassistisch diskriminiert worden, hat aber Diskriminierungserfahrungen ihrer Eltern und sogar ihrer Großeltern erlebt und verarbeite sie dementsprechend als ein Teil ihrer postmigrantischen Identität in Deutschland. Ähnliches gilt für auch für „Herkunftsdeutsche“ in binationalen Beziehungen, die die Diskriminierungserfahrungen ihrer Partner oder Kinder in ihrer eigenen Biografie verarbeiten müssen.
Für viele arabischstämmige Jugendliche in Deutschland ist die Lage in den von Israel besetzten Gebieten direkt mit Vertreibungserfahrungen ihrer Familien verbunden. Eine angemessene Erinnerungskultur muss also auch von dieser Realität ausgehen. Es muss eine transnationale Erinnerungskultur sein.
Der Erinnerungsforscher Michael Rothberg in seinem Buch „Multidirectional Memory. Remebering the Holocaust in the Age of Decolonization“ (2009) für die Verknüpfung der Erinnerung an die Schoah mit der Erinnerung an den Kolonialismus plädiert. Auf diese Weise könne eine weitere Schicht des europäischen Gedächtnisses freigelegt werden, der die antikoloniale Revolte mit den Wunden migrantischer Gruppen verbunden sieht. Die zentrale Herausforderung besteht darin, durch verknüpfte Erinnerungen die Opferkonkurrenz zu verhindern: also weder die Erinnerung an die Schoah zu relativieren noch die historischen Wunden anderer Opfergruppen zu trivialisieren.
Fortexistenz des Kolonialismus
Es gibt Züge von Antisemitismus bei vielen migrantischen Gemeinden in Deutschland. Auch die Al-Quds-Demonstrationen waren nicht frei davon. Aber: Der muslimische Protest gegen die Besatzung Jerusalems ist auch Teil eines dekolonialen Vertreibungsgedächtnisses, welches in Deutschland bislang keinen Platz haben darf. Gerade für die arabisch-muslimische Diaspora bedeuten die Ghettoisierung Gazas und die israelische Aberkennung des Rückkehrrechts für die Vertriebenen aus Palästina eine Fortexistenz des Kolonialismus.
Viele Migrantinnen und Migranten aus muslimischen Ländern sehen sich inzwischen (unabhängig vom Grad ihrer praktizierten Religiosität) nicht mehr als Türkinnen oder Libanesen, sondern als Muslime. Sie tun dies, weil sie im öffentlichen Diskurs als solche adressiert werden.
Da Muslime und Islam mit negativen Stereotypen verbunden werden, führt diese Fremdzuschreibung dazu, dass sich die so Adressierten gezwungen fühlen, sich innerhalb der semantischen Ordnung der Vorurteile zu erklären. Auf diese Weise wollen sie dem antimuslimischen Rassismus etwas Positives entgegenzusetzen. Hannah Arendt brachte es auf die berühmte Formel: „dass man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist“. Die Solidarisierung mit der Gaza-Bevölkerung verknüpft die Marginalisierungserinnerung der muslimischen Welt mit der Marginalisierungsrealität der muslimischen Diaspora hierzulande.
Neue Deutsche nicht ausschließen
Im Selektionssystem Schule werden migrantische Jugendliche häufig mehrfach diskriminiert; diese Erfahrung hat Einfluss auf ihre bzw. die kollektive Erinnerung. Generationen von migrantischen Jugendlichen werden im Geschichtsunterricht auf eine europäische Weise über den Holocaust belehrt. Die Geschichte ihrer Familien kommt nicht vor. So erleben sie die Holocausterziehung als pädagogischen Rassismus der Geschichtslehrer_innen, die ihnen verbieten, nicht Deutsch zu reden, oder sie vom Hijap (Kopftuch) „befreien“ wollen. In diesem Kontext bietet die provokative Israelkritik ein Integrationsangebot an.
Die postmigrantische Gesellschaft zeichnet sich durch Diversität aus; die Partizipationsrealitäten werden neu verhandelt. Das betrifft auch gemeinsames Erinnern, das die neuen Deutschen nicht ausschließt. Sie stellt neue Spannungsräume dar, in denen das Potenzial verknüpfter Erinnerungen gesamtgesellschaftlich wirkt und auf neue Gerechtigkeitsordnungen zielt.
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