Debatte um die Gedenkkultur: Diffuse Erinnerung
Postkoloniale Anliegen zu thematisieren ist wichtig. Doch was bringt es, dafür die Beispiellosigkeit der Shoah in Frage zu stellen?
D ass etwas falsch ist an der deutschen Erinnerungskultur, wurde schon oft behauptet. Was einst gegen das postnazistische Schweigen hart erkämpft werden musste, ist zunehmend einer Ritualisierung gewichen, die mehr mit nationalem Selbstverständnis als eigentlichem Erinnern zu tun hat.
Einige Autor:innen sprachen gar von einem Erinnerungswahn, dem mit verdächtig viel Euphorie nachgegangen werde, gerade so, als glaube man, den Tod von sechs Millionen Juden wiedergutmachen zu können.
Das ging so weit, dass die „wieder gut gewordenen Deutschen“, wie der Historiker Eike Geisel sie einst treffend bezeichnete, glaubten, den Israelis einen Spiegel vorhalten zu können: Ausgerechnet die Opfer des deutschen Vernichtungswahns sollten aus der Shoah gelernt haben, wie sie sich richtig zu verhalten hätten – als wären die Vernichtungslager große Erziehungsanstalten gewesen.
Interessiert man sich, wie etwa die Wissenschaftlerin Aleida Assmann, für Narrative, kollektive Gedächtnisse und das Nation Building, ist es auch nur folgerichtig, sich gerade wegen der deutschen Vergangenheit zu jeder Gelegenheit als die Gouvernante Israels hervorzutun, eben weil ja die „Verbindung von Licht und Schatten […] zur deutschen Identität“ gehöre, wie sie in ihrem neuen Buch „Die Wiedererfindung der Nation“ schreibt.
Versöhnungskitsch und Mythologisierung
Derlei Kitsch von „Licht und Schatten“ begegnet man oft im deutschen Gedenktheater, etwa wenn Walter Steinmeier in Zusammenhang mit dem millionenfachen Mord sagt: „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“
Versöhnungskitsch und Mythologisierung, seien sie auch gut gemeint, drohen die Shoah unsichtbar zu machen. Aber es gibt noch ein ganz anderes Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur, das eher als der Wunsch nach Relativierung verstanden werden kann, indem die Beispiellosigkeit der Shoah bestritten wird (die entglittenen Wahnvorstellungen deutscher Coronaleugner, Anne Frank zu sein, sind der pathologische Ausdruck dessen).
Wurde Ende der 1980er Jahre im Historikerstreit die Singularität der Shoah von Habermas, Wehler, Brumlik und anderen gegen die konservativen Relativierer Nolte, Hillgruber etc. verteidigt, soll genau dieser Punkt, also die Beispiellosigkeit des Verbrechens, nun wieder zur Diskussion stehen.
Neuester Anlass ist das Erscheinen des Buches von US-Historiker Michael Rothberg in Deutschland, das im Original bereits 2009 herausgekommen ist und den Titel „Multidirektionale Erinnerung“ trägt. Rothberg, der von Linksliberalen und Postkolonialen gefeiert wird, strebt nicht weniger als die Neuverhandlung der Erinnerungskultur an. Die entfachte Debatte ist eine Art Fortsetzung der Mbembe-Debatte aus dem letzten Jahr.
Die Mbembe-Debatte
Die Einladung des kamerunischen postkolonialen Historikers Achille Mbembe als Eröffnungsredner zur Ruhrtriennale und die Kritik des Antisemitismusbeauftragten des Bundes, Felix Klein, daran, hatten einen Streit über die Relativierung der Shoah und israelbezogenen Antisemitismus ausgelöst.
Auch Michael Rothberg unterstützte Rücktrittsforderungen gegen Klein und störte sich nicht an schiefen Apartheidsvergleichen Mbembes – dem zu palästinensischen Selbstmordattentätern einfällt, der Märtyrer in spe suche nach einem glücklichen Leben, und zu Israel, dass er sich eigentlich nicht mit dem Land beschäftige, aber der größte moralische Skandal der Gegenwart auf jeden Fall im „israelischen Besatzungsregime“ bestehe.
Michael Rothberg bekommt so viel Aufmerksamkeit, weil er sich als Vermittler zwischen Holocaustforschung und postkolonialer Theorie inszeniert, obwohl er der Holocaustforschung mal ebenso Provinzialität, heißt Eurozentrismus, unterstellt. Das bringt Applaus von postkolonialen Theoretiker:innen.
Die Opferkonkurrenz
Postkoloniale Autor:innen vertreten gerne die These, der Rassismus sei deshalb so stark, weil alle ständig mit der Shoah beschäftigt seien. Eine Aussage, die man mit gutem Recht für töricht erklären könnte und der man nicht weiter Aufmerksamkeit schenken müsste, würde nicht mittlerweile ein großer Teil der akademischen Linken und Kulturfunktionär:innen das nachplappern.
Beispielhaft für dieses Denken formuliert etwa die intersektionale Aktivistin Emilia Roig in ihrem gerade gefeierten Buch „Why We Matter“: „Die Exzeptionalisierung der NS-Zeit und des Genozids ist insofern problematisch, als sie eine tiefe Auseinandersetzung mit Rassismus häufig verhindert.“
Hinter solchen Aussagen steht die Feststellung, dass den Opfern des deutschen Kolonialismus zu wenig Aufmerksamkeit zukommt. Dass das Deutsche Kaiserreich als Kolonialmacht in Asien und auf einem Territorium, das heute Teile von mehr als zehn subsaharischen Staaten umfasst, geraubt, gefoltert und gemordet und an den Herero und Nama einen Völkermord begangen hat, ist kaum Teil der sogenannten Erinnerungskultur dieses Landes – aber dafür umso präsenter im akademischen und kulturellen Bereich.
Das Fortwirken der rassistischen Gewalt ging freilich nicht mit dem Ersten Weltkrieg, als das Deutsche Kaiserreich endgültig seine Kolonien abtreten musste, zu Ende. Unsere Städte tragen bis heute Zeichen der kolonialen Unterdrückung, und viele Rassismen sind geprägt von kolonialen Kontinuitäten.
Hass auf die Moderne
Das zu thematisieren ist wichtig. Doch das postkoloniale Anliegen ist größer und behauptet den Kolonialismus als unmittelbares Produkt westlicher Rationalität oder gar als Bestandteil von Moderne und Aufklärung, was stets einen reflexhaften Hass auf „den Westen“ nach sich zieht. Woran man deutlich erkennen kann, dass die postmoderne Methode der Genealogie auch für einfachstes Wurzeldenken und schnelle Kurzschlüsse taugt, wenn jeder dialektische Prozess unterschlagen wird.
Aber in welchem Verhältnis stehen Kolonialismus und Shoah zueinander, außer dass in der Shoah auf bestimmte, bereits eingeübte Gewalttechniken zurückgegriffen werden konnte und der NS-Krieg im Osten deutlich koloniale Merkmale trägt?
Rassismus, Kolonialismus und die Shoah werden im postkolonialen Diskurs meist in einer Art Opferkonkurrenz zueinander ins Verhältnis gebracht; man scheint von begrenzten Kapazitäten zum Erinnern und Gedenken auszugehen und Bewusstsein wie einen Container sich vorzustellen, der irgendwann einfach voll ist. Erinnern und Gedenken werden dann folgerichtig als eine Art Wettstreit von Gruppenidentitäten in einer begrenzten Aufmerksamkeitsökonomie gedacht.
In manch einer Vorstellung ist Erinnern auch ein einfaches Sender-Empfänger-Verhältnis, und die Israelis werden als Wachhunde vor dem Container gleich mit imaginiert, wenn etwa insinuiert wird, in Israel wache man über die Einzigartigkeit der eigenen Opfererfahrung.
Wie singulär ist die Shoa?
Es geht natürlich um die Frage, wie singulär die Shoah wirklich ist und wer zu welchem Nutzen die These von der Beispiellosigkeit des Verbrechens an den europäischen Juden aufrechterhält. Wobei diese Frage an sich schon suggeriert, was von den jeweiligen Autor:innen durchaus so gewollt ist, es handele sich dabei um ein Narrativ unter vielen möglichen, das im Dienste einer ganz bestimmten Nutzenkalkulation stünde.
Es scheint, das ist der Grund dafür, die „Singularität“ (Dan Diner) oder „Präzedenzlosigkeit“ (Yehuda Bauer) der Shoah zu verdecken. Sie ist beispiellos, weil sie eine Vernichtung einfach um der Vernichtung willen war.
Der Massenmord an den europäischen Juden war ein industrialisierter Massenmord und eben genau nicht primär getrieben von ökonomischen oder territorialen Interessen. Es ging nicht darum, andere gefügig zu machen oder zu unterwerfen, sondern unter Aufwendung größter Ressourcen einen Wahn in sinnloses Morden zu übersetzen. Das unterscheidet den Genozid an den Juden fundamental von den kolonialen Verbrechen.
Deckerinnerung und Verdrängung
Gedenkpolitik mit dem Freud’schen Begriff der „Deckerinnerung“, also einer Verdrängung von kolonialen Gewalterinnerungen in Verbindung zu bringen, ist eine Sache, eine andere ist, die Verteidigung der Beispiellosigkeit des Holocaust als bewusstes Ablenkungsmanöver darzustellen, das bloß dazu diene, von „der deutschen Verstrickung in die Enteignung der Palästinenser abzulenken“.
So drückt es Michael Rothberg aus, der in seinem bereits erwähnten Buch den Trick anwendet, sich ausdrücklich gegen Opferkonkurrenz zu positionieren, aber seinen Vorschlag zu einer „multidirektionalen Erinnerung“ selbst mit Opferkonkurrenz begründet, indem er das Missverständnis verbreitet, die Behauptung der Beispiellosigkeit der Shoah sei borniert eurozentristisch und verdränge andere Erinnerungen und Traumata.
Diese Einschätzung kann nur gewinnen, wer von historischen Spezifika absieht und Narrativen mehr Aufmerksamkeit schenkt als realer Geschichte oder politischen Prozessen, was ihn wiederum mit Aleida Assmann auch jenseits gemeinsamer Unterschriftstellereien in Form von regelmäßig lancierten Petitionen verbindet, die in ihrem letzten Buch behauptet, würden Israelis und Palästinenser jeweils über Holocaust und Nakba sprechen, könnte das zur „Grundlage für eine friedlichere Zukunft werden“, weil die „Überwindung des fortdauernden und sich weiter verschärfenden Konflikts […] etwas mit der Veränderung der nationalen Narrative und ihrer gegenseitigen Annäherung zu tun“ habe.
Auch Rothberg denkt, dass doch alle irgendwie zusammen weiterkommen, wenn Opfererfahrungen ausgetauscht werden, „dialogische Verbindung“ ist das Stichwort – was aber für ihn nicht möglich zu sein scheint, wenn an der Singularitätsthese des Holocaust festgehalten wird, gerade so, als ginge es darum, sich mit ihr zum Weltspitzenreiter in einer Liga der Traumatisierten aufzuschwingen, und nicht darum, das Spezifische an der Shoah gegenüber anderen Genoziden zu erklären. Immerhin liegt er mit dieser Verwechslung von Analyse mit Empathie voll im Trend.
Abstrus ist sein Framing der ganzen Erinnerungsdebatte, nach dem Motto „Wer vorne ist, bestimme ich“: „Auch wenn die Debatte noch nicht abgeschlossen ist, lässt sich jetzt schon festhalten, dass 1986 der Akt des Vergleichens eindeutig zum Arsenal der konservativen Denker gehörte, im Jahr 2020 hingegen von Konservativen verspottet und von Progressiven wie Brumlik und Assmann verteidigt wurde.“
Zu Rothbergs Verteidigung muss man sagen, dass im Jahr 2009, als er „Multidirektionale Erinnerung“ schrieb, in Washington zwar ein Holocaust-Museum stand, aber keines für afroamerikanische Geschichte. Die Sklaverei war weniger Teil der Erinnerungskultur als die Shoah. Das ist in der Tat verstörend, zeigt aber auch klar, dass der US-amerikanische Kontext ein völlig anderer ist als der deutsche oder französische etc. Das aber heißt im Umkehrschluss: Eine (postkoloniale) Globalgeschichte kann nicht die Lösung sein.
Nur im Ungefähren bleibt auch der Begriff „multidirektionale Erinnerung“. Eigentlich ein Begriff von recht geringer Tragweite, den Rothberg aber über 40 Seiten lang einführt. Er möchte „solidarische Bezüge zwischen Holocaustüberlebenden und deren Nachkommen und den Nachkommen derjenigen, die in Amerika versklavt oder von europäischen Mächten kolonisiert wurden“, finden.
Damit möchte er einen neuen Weg vorschlagen, „kollektives Gedächtnis ganz allgemein zu konzeptionalisieren“. Solche Bezüge findet er in Geschichten, Filmen oder Bildern. Und bei Autor:innen wie Hannah Arendt, Aimé Césaire, W.E.B. Du Bois usw.
Alles mit allem vermischen
Das heißt im Detail: Alles mit allem zu vermischen und somit zu relativieren. Da wecken Folter und „der Einsatz von Lagern durch Frankreich im Kriege gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung“ Erinnerungen an den nationalsozialistischen Genozid und werden aufgemotzt zu „neuen Formen des Zeugnisses und der Zeugenschaft“.
Das Warschauer Ghetto wird irgendwie zu Gaza und Rothberg behauptet schnell mal eine neue „Landkarte“ der Erinnerung zu gestalten – man fragt sich immer, wann sie kommt, aber das war’s dann auch schon.
Wo Hannah Arendt ihm noch zu eurozentristisch ist, verhilft Aimé Césaire zu einer „kolonialen Wende in der Holocaustforschung“: Der konnte 1950 in den NS-Verbrechen nichts Neues erkennen, sondern nur einen „choc en retour“, in dem kolonialistische Praktiken nun mal die weißen Menschen trafen, statt bisher nur „die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas“, weshalb die Shoah (den Weißen) so unerträglich erscheine.
Doch Rothberg geht schnell über diese ressentimentgeladene „Analyse“ hinweg. Ihm zufolge „bietet Césaires vorausschauendes Verständnis des ‚Schocks‘ historischer Zusammenhänge der Theorie multidirektionaler Erinnerung Ressourcen für ein Überdenken von Trauma und zivilisatorischen Diskursen“.
Mehr Analyse statt mehr Empathie
Multidirektionales, nicht kompetitives Erinnern wäre auch unter Anerkennung der Beispiellosigkeit der Shoah möglich – ohne in Opferkonkurrenzen, eingangs erwähnte Mythologisierungen oder Abstraktionen zu verfallen. Dafür müsste die postkoloniale Theorie jedoch mehr Analyse statt mehr Empathie wagen.
Auch wer den Begriff „Zivilisationsbruch“ ablehnt, der auf jeden Fall ein problematischer ist, weil die kolonialen Genozide auch Zivilisationsbrüche darstellten, sollte Beispielloses nicht einfach unterschlagen, um es in eine große Erzählung zu überführen.
Auf dem Spezifischen der Shoah zu bestehen, geschieht nicht zum Selbstzweck und bedeutet nicht, andere Gewalterfahrungen abzuwerten. Die Shoah kann ebenso wenig mit dem Kolonialismus gleichgesetzt werden wie Antisemitismus mit Rassismus. Nur wer das versteht, kann gegen beides angehen.
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