Debatte um das Wahlalter 16: „Wir müssen die Jungen beteiligen“

Die Politologin Sabine Achour fordert, dass 16-Jährige auch bei Bundestagswahlen wählen dürfen. Damit würde auch die politische Bildung glaubhafter.

Plakat zur Europawahl.

Werbung der EU zur Europawahl 2024 in einem Bahnhof in Berlin Foto: Stefan Boness

taz: Frau Achour, bei der Europawahl dürfen in Deutschland erstmals auch 1,4 Millionen 16- und 17-Jährige teilnehmen. Es ist damit das erste Mal, dass Minderjährige bei einer bundesweiten Wahl mitmachen dürfen. Was halten Sie davon?

Sabine Achour: Ich finde Jugendbeteiligung auf allen Ebenen wichtig. Deshalb ist es ganz wunderbar, dass junge Menschen jetzt am Sonntag bei einer so großen Wahl wählen dürfen. Ich würde es auch richtig finden, wenn 16-Jährige bei einer Bundestagswahl mitmachen könnten. Das würde Institutionen und Par­tei­po­li­ti­ke­r:in­nen in die Pflicht nehmen, sich viel stärker auch auf Kinder und Jugendlichen als Zielgruppe zu konzentrieren.

ist Professorin für Politik­didaktik und Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2012 ist sie Vorsitzende des Landesverbandes Berlin der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB).

Die Vorbehalte gegen das Wahlalter 16 sind groß. Ein beliebtes Argument ist, dass Jugendliche noch nicht reif genug seien für eine abgewogene politische Entscheidung.

Die Grenzziehung beim Alter ist aus meiner Sicht komplett willkürlich. Ich würde sogar fast sagen: Sie ist fahrlässig. Wir wissen aus der Forschung, dass die politische Sozialisation bis 18 weit vonstatten gegangen ist. Und wir wissen, dass diese Gruppe ihre Informationen auch viel auf TikTok und anderen Kanälen rezipiert und dort politisiert wird. Das bedeutet, dass wir als Gesellschaft diese Zielgruppe auch entsprechend früh ansprechen müssen. Sonst besteht die Gefahr, dass wir Jugendliche in dieser zentralen Sozialisationsphase an zweifelhafte Politikangebote verlieren.

Lehrerverbandschef Stefan Düll hat diese Woche in Frage gestellt, ob sich Jugendliche überhaupt groß für Politik interessierten. Wie nehmen Sie das wahr?

Wenn wir Dülls Äußerungen ernst nehmen, müssten wir uns doch fragen: Was machen wir eigentlich mit den ganzen Erwachsenen, die sich auch nicht für Politik interessieren? Die gibt es schließlich auch bei jeder Wahl. Wissenschaftlich lässt es sich nicht halten, Jugendlichen pauschal die Urteilsfähigkeit abzusprechen. Im Gegenteil sehe ich hier eine große Chance. Wenn man Jugendliche mit 16 wählen lässt, zeigt man ihnen doch, dass man sie bei der Mitgestaltung von Politik ernst nimmt.

Das ist meiner Meinung nach auch der eigentliche Effekt jetzt bei der Europawahl. Der Einfluss auf das Wahlergebnis ist ja gering, weil die Jugendlichen nur einen sehr kleinen Anteil der Wäh­le­r:in­nen insgesamt ausmachen. Umso wichtiger, auch demographisch, dass sie beteiligt werden und nicht nur „die Alten“ über die Zukunft entscheiden. Was die Beteiligung aber bei Jugendlichen auslöst, sollten wir nicht unterschätzen.

Nicht alle scheinen sich über die Beteiligung zu freuen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wollen nur 57 Prozent der 16-25-Jährigen in Deutschland am Sonntag ihre Stimme abgeben. Wie erklären Sie sich das?

Hier spiegelt sich eine zunehmend geringere Wahlbeteiligung wider, wie wir sie in der gesamten Gesellschaft sehen. Und da finde ich ehrlich gesagt eher erschreckend, dass von den Älteren vergleichbar wenige wählen gehen wollen. Sie sollten ein besseres Vorbild sein. Zugleich können wir aus diesen Zahlen auch einen Auftrag ablesen können. Nämlich zu überlegen, warum Wählen so unattraktiv ist für Jugendliche. Po­li­ti­ke­r:in­nen oder Leh­re­r:in­nen können dabei in ihrer Ansprache viel überzeugender sein, wenn sie mit Jugendlichen über eine reale Wahl kommunizieren. Würde das Wahlalter bei allen Wahlen bei 16 liegen, kann ich mir vorstellen, dass auch die Wahlbeteiligung steigt. Aktuell muss der „Wahlrechtsflickenteppich“ in Deutschland auf Jugendliche willkürlich wirken.

Machen Schulen eigentlich genug, um junge Menschen für Politik zu interessieren? Herr Düll vom Lehrerverband findet ja und nimmt die Familien in die Pflicht.

Auch das halte ich für eine fragwürdige Sichtweise. Wir wissen, dass es einen sozialen Gap in den kulturellen Ressourcen der Elternhäuser gibt. Um Kinder zu erreichen, die nicht aus sozial privilegierten Elternhäusern kommen, bleibt oft nur die Schule. Deshalb sehe ich die Schulen auch in der Pflicht, noch mehr auf die Interessen junger Menschen einzugehen.

Viele Bundesländer haben in den vergangenen Jahren die politische Bildung gestärkt. Woran hakt es dann?

Das stimmt. Viele Landesregierungen haben die politische Bildung gestärkt, dennoch ist sie oft ein Einstundenfach, vorher gab es gar keine politische Bildung oder erst in Klasse 9 oder 10. Andere Bundesländer haben auch andere Prioritäten gesetzt und stattdessen eine affirmative ökonomische Bildung gestärkt. Auch in Berlin wird erst seit einigen Jahren wieder politische Bildung als eigenständiges Fach in der Sekundarstufe 1 unterrichtet. Die Folge aber ist, dass vielen Lehrkräften oft die Erfahrung und Expertise hier fehlt und selbst Fortbildungen in Berlin eingefordert haben. Oft wird Politik mit Geschichte und Geographie als Integrationsfach unterrichtet und damit in Teilen fachfremd. Das hat oft Auswirkungen auf die Qualität.

Zugleich gibt es auch tollen Politikunterricht oder hervorragende Angebote für Demokratiebildung. Aber der Unterricht insgesamt und oft auch vor einer Wahl besteht zu oft vor allem aus Institutionenkunde. Ein guter Unterricht muss aber nah dran sein an den aktuellen politischen Debatten. Das funktioniert nicht, wenn man Unterricht mit einem Schulbuch macht, das zehn Jahre alt ist.

Wie wenig politische Bildung verfängt, zeigt die aktuelle U-18-Wahl. Bundesweit haben fast 14 Prozent der Schü­le­r:in­nen für die AfD gestimmt, in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sogar fast je­de:r Zweite.

Jugendliche spiegeln oft ungefilterter gesellschaftliche Entwicklungen wider. Aber spannend wird, wie die Jugendlichen am Sonntag tatsächlich wählen. Einige wollen damit provozieren, Unmut äußern, Aufmerksamkeit generieren. Daher ist es auch relevant, wie die Schulen mit diesen Ergebnissen umgehen. Ob sie das vor und nach der Europawahl problematisieren oder nicht. Aber wenn sich dieser Trend bestätigt, dass viele junge Menschen AfD wählen, spricht das nur nochmal mehr dafür, uns mehr dieser Wäh­le­r:in­nen­grup­pe zuzuwenden.

Wären Kandidaten-Speeddatings mit Po­li­ti­ke­r:in­nen ein geeignetes Format? Und wenn ja: Sollte auch die AfD eingeladen werden?

Das Format ist sehr geeignet, weil es für Jugendliche Wertschätzung ausdrückt, dass sich Po­li­ti­ke­r:in­nen Zeit für sie nehmen. AfD-Politiker:innen würde ich nicht einladen. Schulen haben eine Fürsorgepflicht. Stellen Sie sich vor, Schü­le­r:in­nen begegnen Politiker*innen, die genau diese Jugendlichen 'remigrieren’ möchten, und das in einer 1-zu-1-Situation. Schulen müssen Schü­le­r*in­nen vor Menschenfeindlichkeit schützen.

Entsprechende Inhalte der AfD, der Verdachtsfall der Partei beim Bundesverfassungsgericht oder die jüngsten Vorwürfe gegen deren EU-Spitzenkandidaten gehören aber definitiv in den Unterricht und würden möglicherweise einen Beitrag leisten, dass Jugendliche auch nicht bei simulierten Wahlen ihr Kreuz bei der AfD machen.

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