Debatte Genozid in Deutsch-Südwestafrika: Guter Zeitpunkt für Reparationen
Vor über 100 Jahren verübten Deutsche einen Genozid an Nama und Herero. Eine Entschädigung für die Nachkommen ist zwingend geboten.
M it der Resolution des Bundestags vom 2. Juni zum Gedenken an den Völkermord in Armenien rückte die deutsche Regierung zugleich einen Schritt näher an die angemahnte und überfällige Anerkennung des Genozids, den Truppen des Deutschen Kaiserreichs an den Völkern der Herero und Nama Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika begangen haben.
Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte, die Cem Özdemir unlängst in der Zeit forderte, muss zwar mit der erwarteten Entschuldigung des Bundespräsidenten beginnen, verpflichtet jedoch auch die heutige deutsche Gesellschaft, die Geschichte ihrer Opfer anzuerkennen und darauf zu reagieren. Mit Ausstellungen wie im Deutschen Historischen Museum derzeit über den „Deutschen Kolonialismus“ allein ist es nicht getan.
Konsequent wäre die Bereitschaft der Bundesregierung, einen konkreten Beitrag zur Besserung der Lebensqualität der Betroffenen zu leisten. In dieser Hinsicht hat die Bundesrepublik mit den Reparationszahlungen an Israel einen historischen Präzedenzfall geschaffen. Als die Adenauer-Regierung 1952 die Initiative ergriff und ihr Vorhaben durchsetzte, trug die Mehrheit der Gesellschaft diese Entscheidung nicht mit.
Nur 29 Prozent waren der Meinung, dass Juden ein Anrecht auf Entschädigung haben. Auch bei einer heutigen Umfrage würde sich wahrscheinlich keine eindeutige Mehrheit für Reparationszahlungen an Namibier stark machen. Unter dem Druck der Flüchtlingskrise hütet man den Bundeshaushalt, aus dem bereits hunderte Millionen Euro für Entwicklungshilfe an Namibia gespendet wurden, und Wolfgang Schäuble verlangt ohnehin nach einer umfassenden Afrikapolitik.
Die Mentalität der Kolonisten
Doch das wird wenig weiterhelfen. Denn die Anerkennung eines Völkermords befördert die Frage der Gerechtigkeit in eine anderen Größenordnung. Die Gesellschaft will am Geschehenen Anstoß nehmen und eingreifen, Tatsachen schaffen, die positiv wirken. Übrigens ist gerade wegen des plötzlichen demographischen Zuwachses an Mitbürgern aus dem Nahen Osten und Afrika eine koordinierte Auseinandersetzung mit der Mentalität der Kolonisten in Südwestafrika mehr denn je angezeigt.
Der Genozid in Deutsch-Südwestafrika war kein von langer Hand vorbereiteter Vernichtungskrieg, dessen Ziel es war, Völker aus der Welt zu schaffen. Das Überlegenheitsdenken der Weißen bewog die Kolonisten dazu, im Massensterben von Schwarzen, die sich gegen ihre Ausbeutung 1904 auflehnten, eine akzeptable Lösung des Konflikts zu sehen.
Ursula Ackrill, geboren 1974 in Kronstadt, Siebenbürgen, studierte Germanistik und Theologie in Bukarest und promovierte 2003 mit einer Arbeit über Christa Wolf an der University of Leicester. Sie lebt heute als Bibliothekarin und Schriftstellerin in Nottingham. Ihr erster Roman „Zeiden, im Januar“ erschien 2015 im Verlag Klaus Wagenbach und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Tatsächlich diskutiert der Sondergesandte der Bundesregierung mit seinem Amtskollegen in Windhoek seit Juli über Hilfeleistungen für Namibia, die im Rahmen von Entwicklungsprojekten der Gerechtigkeit konkret Geltung verschaffen sollen. Die Bevölkerungsgruppen der Herero und Nama sehen sich heute jedoch durch die Unterschiedslosigkeit der gebenden Geste übergangen. Die Reparationszahlungen der Bundesrepublik an Israel waren eben nicht für alle Bürger Israels – Juden, Araber und andere Zugezogene – gleichermaßen bestimmt gewesen, sondern hingen direkt mit den Verbrechen der Deutschen an den Juden zusammen.
Zahlung an wen und wie?
Einerseits kann nur der Verwaltungsapparat einer Regierung eine Verbesserung von Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitswesen umsetzen. Andererseits widerstrebt es jedoch dem Gerechtigkeitssinn, dass Direktentschädigungen für Angehörige der dezimierter Volksgruppen wie der Nama und Herero in Südwestafrika entfallen sollen.
Zu einem Zeitpunkt, wo es keine Überlebenden mehr gibt, sind Renten für (Zwangs)Arbeitsleistungen ausgeschlossen. Sollte einem Antrag auf direkte Entschädigung durch Unternehmen wie die Woermann-Schifffahrtslinie oder Bahngesellschaften, die damals von der Zwangsarbeit profitiert haben, stattgegeben werden, wären jene Reparationen eigentlich nur den Arbeitsfähigen zugedacht. Nicht nur die unbeschäftigten Invaliden, Frauen und Kinder der Konzentrationslager bleiben bei der utilitaristischen Betrachtung außen vor.
Im Konzentrationslager auf der Haifischinsel bei Lüderitz verzichteten die Lageraufseher beispielsweise darauf, die Nama zum Bau der Südbahnlinie heranzuziehen, weil deren Unmut über ihre Zwangslage zu gefährlich schien. Die Bahnlinie wurde daher hauptsächlich von Herero aus demselben Lager gebaut. Lebenswichtige Ressourcen wurden den Herero und Nama vorenthalten, um sie den Deutschen gefügig zu machen. Aus diesem Sachverhalt entspringt die Schuld am Völkermord, für den es nun gilt die Verantwortung zu übernehmen.
Forderungen von Schwarzen in den USA
Wie die Regierung in Berlin auf die Frage zu Reparationen für die Nachkommen der überlebenden Herero und Nama eingehen wird, ist eine Frage von großer Tragweite. Das Verbrechen geschah vor mehr als hundert Jahren und entließ die Überlebenden demographisch vermindert, sozial geschwächt und ohne Zweifel gesundheitlich belastet in ein auf diese Weise knappes Jahrhundert fortgesetzter Kolonialherrschaft.
In den USA sind Reparationszahlungen an Afroamerikaner ein Thema, das seit der Abschaffung der Sklaverei nicht vom Tisch gefegt werden kann, weil die Anerkennung des Unrechts bislang keine praktischen Reformen nach sich zog, welche die Integration im Sinne von sozialem Statusausgleich bewirkt hätten. Trotz der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren, trotz der Antidiskriminierungsmaßnahmen der Affirmative Action und nach zwei Amtszeiten des ersten schwarzen Präsidenten der USA lebt die afroamerikanische Bevölkerung zum Teil weiterhin in einer benachteiligten Parallelgesellschaft.
Seit über fünfundzwanzig Jahren setzt der US-amerikanische Kongressabgeordnete John Conyers Jr. bei jeder Versammlung im Kongress den Gesetzesentwurf HR40, den „Auftrag Reparationsvorschläge für Afroamerikaner zu studieren“ (Commission to Study Reparation Proposals for African Americans Act), auf die Tagesordnung. Bislang ohne Erfolg. Aber die Anhänger dieses Gedankens werden auch Deutschlands Handeln in Zukunft schärfer ins Auge fassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau