De Maizières 10 Thesen: Das Leid mit der Leitkultur
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will eine Debatte über Leitkultur und hat dazu zehn Thesen veröffentlicht. Hier bekommt er sie.
Pünktlich zum Wahlkampf präsentiert am Wochenende Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wieder einmal eine Debatte zur deutschen Leitkultur. Keine Leitkultur ist demnach in seinen 10 Thesen
1. die Burka,
2. wenn man sich nicht bilden will,
3. wenn man nichts leistet,
4. wenn man sich nicht zur deutschen Geschichte bekennt,
5. wenn man „unsere Kulturnation“ nicht würdigt, in der jedes Schuljubiläum mit einem Konzert begangen wird,
6. wenn man die Kirchen (und auch die Moscheen und Synagogen) nicht für ihren Einsatz als Kitt der Gesellschaft würdigt,
7. wenn man unterschiedliche Lebensformen nicht akzeptiert,
8. wenn man kein „aufgeklärter Patriot“ ist: das ist jemand der sein Land liebt, aber andere nicht hasst,
9. wenn man die Westbindung Deutschlands nicht akzeptiert, und
10. kein gemeinsames kollektives Gedächtnis für gewonnene Weltmeisterschaften oder den regionalen Karneval hat.
Wir hätten da ein paar Fragen.
Ganz grundlegend: Warum soll die Meinung von Minister de Maizière (CDU) Leitkultur werden?
Wir haben Meinungsfreiheit, die Freiheit der persönlichen Lebensführung, übrigens auch eine negative Religionsfreiheit, die Kirchen, Moscheen und Synagogen nicht würdigen muss. Wir haben die Bildungsfreiheit, uns steht frei, unser Land oder andere Ländern zu lieben oder zu hassen, wir können gegen oder für die Westbindung sein. Warum sollten wir alle diese Freiheiten aufgeben? Um uns der Union anzuschließen? Bilden wir nicht eine Wertegemeinschaft innerhalb der EU? Sogar innerhalb der UNO? Jeglicher Vorschlag einer Leitkultur ist der Versuch, bestimmte Debatten stillzustellen, Meinungen zu diskreditieren und andere Kulturen abzuwerten. Eine Leitkultur widerspricht deshalb der freiheitlichen Demokratie. Warum sollte das jemand wollen?
Deutsche Leitkultur im Realitätscheck
1. These: „Wir sind nicht Burka.“ Stimmt. Es ist in Deutschland noch keine einzige Burkaträgerin gesichtet worden. Meint Minister de Maizière vielleicht den Nikab, der die Augen frei lässt? Warum verwendet er dann einen falschen und suggestiven Begriff, der mit der Terrorherrschaft der Taliban in Afghanistan verbunden ist? Den Nikab, der auch nicht oft gesichtet wird, tragen die einen unfreiwillig, andere aber auch freiwillig. Was hülfe es Ihnen, wenn die Gesellschaft sie zu Außenseiterinnen der Leitkultur erklärte? Man könnte auch mit These 7 antworten: dass man unterschiedliche Lebensformen akzeptiert – wenn sie denn freiwillig gelebt werden.
2. These: „Wir sehen Bildung und Erziehung als Wert.“ Was ist deutsch an Bildung? Viele Menschen weltweit wollen sich bilden und sehen Bildung als Wert. Sie ist offizielles Ziel der Vereinten Nationen. Eine Selbstverständlichkeit. Warum wird sie in eine These gegossen? Vielleicht, um die Bildungsfernen und Bildungsarmen aus dem imaginären „Wir“ der Leitkultur auszuschließen?
3. These: „Wir sehen Leistung als etwas an, auf das jeder Einzelne stolz sein kann.“ Was ist deutsch an der Leistungsgesellschaft? Der globale Kapitalismus legt nahe, dass die menschliche Arbeitskraft ausgenutzt wird, das ist weltweit so. Arbeitnehmer*innen müssen heute eher vor einer entgrenzten Arbeitswelt geschützt werden. Wozu dient diese These? Um angeblichen selbsternannten „Leistungsträgern“ zu huldigen, die sich oft schlicht als Oberschicht herausstellen? Um das Vorurteil gegen „faule Arbeitslose“ zu unterstützen? Das sind oft Menschen, die die Normanforderungen nicht erfüllen können, weil sie körperlich oder psychisch eingeschränkt sind – manchmal auch dadurch, dass sie zuvor zu viel gearbeitet haben.
4. These: „Wir sind Erben unserer Geschichte, mit all ihren Höhen und Tiefen.“ Das ist eine schlichte Tatsache, warum wird sie zu einer These geformt? Gegen die Rechten? Guter Zweck heiligt die Mittel? Nie mehr Schlussstrichdiskussionen? 2005 sprachen sich in einer Umfrage 41 Prozent der Befragten dafür aus, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit der NS-Zeit zu setzen. Das ist nicht schön, aber gehören die nun nicht mehr dazu?
5. These: „Wir sind Kulturnation.“ Ja, Bach und Goethe sind in Deutschland geboren. Und wir feiern Schuljubiläen mit Musik, wie de Maizière ebenfalls feststellt. Der Rest der Welt hält das allerdings nicht anders, in jedem Dorf auf dem gesamten Globus feiert man gern mit Musik. Und jedes Land hat eine eigene Kultur, die stolz gepflegt und hochgehalten wird. Wovon möchte de Maizière sich hier abgrenzen? Von Ländern ohne Kultur? Die gibt es nicht.
6. These: „In unserem Land ist Religion Kitt, nicht Keil der Gesellschaft, dafür stehen in unserem Land die Kirchen mit ihrem unermüdlichen Einsatz für die Gesellschaft.“ Moscheen? Synagogen? Werden später auch erwähnt. Aber die zivilgesellschaftliche Gruppen, die vielen NGOs, die sich mit guten Gründen auf den Humanismus berufen anstatt auf eine oft exkludierende Religion, die spielen gar keine Rolle? Und kann eine Konfession, in der es Berufsverbote für Frauen gibt und die Benutzung von Kondomen und Abtreibungen verteufelt, Kitt der Gesellschaft sein? Die Männern verbietet, eine Partnerin zu haben? Religionen sind sehr oft janusköpfig. Man kann sie nur in den seltensten Fällen in Gute und Schlechte unterteilen. Und oft schließen sie Nichtgläubige aus. Wir haben aber ein Recht auf negative Religionsfreiheit: von Religionen nicht behelligt zu werden. Was wird aus diesem Recht?
7. These: „Wir haben in unserem Land eine Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten.“ Ist das nicht in jeder rechtsstaatlichen Demokratie so? Worauf will de Maizière hinaus? Weiter unten in der These heißt es dann: „Wir akzeptieren unterschiedliche Lebensformen, und wer dies ablehnt, stellt sich außerhalb eines großen Konsenses.“ Ja, das wäre schön, wenn Diversity schon ein großer Konsens in unserer Gesellschaft wäre. Stattdessen hat de Maizières Partei lange Jahre versucht, ein Antidiskriminierungsgesetz zu verhindern. Steht die Union etwa außerhalb der deutschen Leitkultur?
8. These: „Wir sind aufgeklärte Patrioten. Ein aufgeklärter Patriot liebt sein Land und hasst nicht andere.“ Das würden jede*r AfDler*in und auch viele Rechtsintellektuelle, die vom Ethnopluralismus schwärmen, gern unterschreiben. Sie alle finden andere Länder schön, solange die Menschen dort bleiben und nicht auswandern. Warum muss ich Patriotin sein? Wo bleibt meine Meinungsfreiheit? Und warum sollten Zugewanderte plötzlich zu Patrioten werden? Was ist mit den vielen Europäer*innen und Weltbürger*innen, die gerade auf die Straßen gehen? Alle außerhalb der deutschen Leitkultur?
9. These: „Wir sind Teil des Westens. Kulturell, geistig und politisch.“ Das ist unzweifelhaft wahr. Aber vielleicht habe ich sehr viel Kritik am Westen mit seinen weltweiten Doppelstandards oder der Tatsache, dass er unbegründet Länder bombardiert? Sind das nicht interessante Diskussionsthemen? Befinde ich mich mit meiner Kritik nun außerhalb der Leitkultur?
10. These: „Wir haben ein gemeinsames kollektives Gedächtnis für Orte und Erinnerungen.“ De Maizières Beispiele sind der 9. November, das Brandenburger Tor, die Fußballweltmeisterschaft und der Karneval. Ja, sicher erinnern wir uns an alle. Aber was wir damit verbinden, sind eventuell ganz unterschiedliche Dinge. Warum dann diese These? Viele Einwanderer*innen haben natürlich weniger Verbindung zum deutschen Brauchtum. Und wer an der Wiedervereinigung erhebliche Kritik hat? Gehört dann nicht mehr dazu?
Lieber Herr de Maizière, letzte Frage: Mit welchem Recht wollen Sie unsere Freiheit beschränken, diese einzigartige Errungenschaft der westlichen Demokratie?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis