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Das war das Kunstjahr 2020Klare Bekenntnisse

Berliner Rückblick auf die wichtigsten Kunstdebatten des Jahres: Von Stadtschloss über Dekolonialisierung bis „Ufer-Manifest“.

Digitale Skizze für Plakataktion der Coalition of Cultural Workers against the Humboldt Forum Foto: CCWAH / Marcel Dickahge

Einen fröhlichen Pessimismus wünschte uns der Philosoph Alain de Botton vor einigen Monaten für das Ende dieses ungewöhnlichen Jahres. Fröhlich und ganz ohne Pessimismus scheint die Baubranche durch 2020 gekommen zu sein und stellte dann kurz vor Weihnachten auch noch ein besonders debattiertes Berliner Großprojekt fertig: das rekonstruierte Stadtschloss. Doch so ungeheuerlich wie der künstliche Barockkoloss von außen wirkt, ist er bei genauerer Betrachtung gar nicht, er ist erstaunlich banal. Viel ungeheuerlicher ist, von welchem historischen Unrecht viele Objekte hinter der neuen Schnörkelfassade sprechen.

Die ohnehin kriselnde Stiftung Preußischer Kulturbesitz kann die immer lauter werdende Forderung, wie sie auch die Coalition of Cultural Workers against the Humboldt Forum (CCWAH) Mitte Dezember auf dem Schinkelplatz noch einmal stellte, nun nicht mehr überhören, sie muss die soeben ins Schloss gebrachten Artefakte kolonialer Ausbeutung schnellstmöglich wieder herausholen und den Bestohlenen zurückgeben. Das Stichwort: Dekolonialisierung.

Dekolonialisierung der Kunst

In der zeitgenössischen Kunst jenseits des Stadtschlosses ist dieses Stichwort dieses Jahr angekommen, etwa in der Gruppenausstellung “Reading From Below“ im Times Art Center, oder in den Malereien von Esteban Jefferson, die Tanya Leighton diesen Winter unter dem Titel “Petit Palais“ zeigte.

Im Sinne der Dekolonalisierung gedacht hat die Kuratorin und Autorin Marion von Osten schon lang. 2008 brach sie mit ihrem HKW-Projekt „In der Wüste der Moderne“ einige Mythen über die europäische Nachkriegsarchitektur. Auch das von ihr mit-kuratierte „Projekt Migration“ hatte mit der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Köln 2005 weitere Grundsteine eines postmigrantischen Kunst- und Gesellschaftsverständnisses gelegt. Sie hätte im kommenden März ihre nächste Berliner Ausstellung eröffnet, wäre sie nicht in diesem November verstorben.

Dass Europa migrantisch und Schwarz war, bevor es überhaupt Nationalstaaten gab, scheint die westliche Kunstwelt erst 2020 so richtig verstanden zu haben. Mit der Internationalisierung der Black Lives Matter-Bewegung stellten sich Kunstinstitutionen weltweit infrage. Während ein dekoloniales Programm an anderen Orten wie ­SAVVY Contemporary und Acud Macht Neu schon lange verankert ist.

Neubesetzungen und Überlebenskämpfe

Die klaren Bekenntnisse zu Anti-Rassismus, die das Jahr eben auch zu einem guten Jahr machten, führten international zu einigen Entlassungen und überfälligen Neubesetzungen. Aber eben auch zu merkwürdigen Gleichzeitigkeiten von kolonialen Kontinuitäten und dekolonialen Momenten. Am gleichen Tag als das New Yorker MET mit Patricia Marroquin Norby endlich eine Native American Associate Curator beruft, wird schon die nächste artnet-Auktion mit Porträtfotografien von Edward Sheriff Curtis beworben, die lange unter dem Register „Edle Wilde“ gehandelt wurden.

Für die Berliner Kunstwelt war 2020 auch aus anderen Gründen ein kompliziertes Jahr. Im Frühjahr wurde einmal mehr der Niedergang der Kunststadt herbeigeschrieben, nachdem mit Friedrich Christian Flick und Thomas Olbricht zwei Kunstsammler angekündigt hatten, der Stadt den Rücken zu kehren, und eine dritte Julia Stoschek in den Chor der Beschwerden mit einstimmte – dann aber kleinlaut zurückzog. Viel Schaum kochte in den Diskussionen hoch, der schließlich doch in sich zusammenfiel und offenbarte, wo die eigentlichen Herausforderungen liegen.

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An der Basis nämlich, bei Kunst- und Kulturschaffenden, Vermittler*innen und Kreativen, die im Jahr der Pandemie ins Straucheln gerieten, bei denjenigen, die mit ihrer Arbeit und mit ihren Ideen das Fundament schaffen, auf der die Attraktivität Berlins aufbaut, in der es sich noch immer millionen- oder gar milliardenschwere Sammler*innen gemütlich machen. Ein schlechter Scherz bleibt die Vergabe von Berliner Stipendien im Lotterieverfahren.

Verdrängte Standorte und Kunst auf dem Balkon

Im Frühjahr noch träumten nicht wenige vom großen Wandel in der Welt und der Kunst. Was am Ende des Jahres von den großen Hoffnungen geblieben ist? Nicht so viel, aber vielleicht das: Das Miteinander unter Berliner Galerist*innen, das bestätigen die Beteiligten unisono, wurde 2020 gestärkt. Davon zeugen kleinere und größere im Rekordtempo realisierte Initiativen, von denen freilich nicht alle gleich überzeugen, aber die immerhin allesamt ein Geist der Solidarität umweht.

In den Wilhelm Hallen jedenfalls schlossen sich eine Reihe Berliner Galerien zur Art Week zusammen und stellten eine überzeugende Gruppenausstellung auf die Beine. Bleibt zu hoffen, dass das von privater Hand geführte Areal in Reinickendorf sich auch in Zukunft als ein so zugänglicher Ort der Kunst erweisen wird. Die ebenfalls privat geführten Uferhallen – nämlich von einem Firmenkonstrukt um Zalando-Gründer Oliver Samwer – hingegen drohen schon länger als Kunst- und Atelierstandort verloren zu gehen. Mit der Ausstellung „Ufer-Manifest“ fuhren im Herbst nochmals 45 Künstler:innen dagegen auf, laut und gut.

Und als im Frühjahr alles geschlossen war, da brachten in Kreuzberg Johanna Landscheidt und Lola Göller mit Kunst in Kneipenfenstern und im Prenzlauer Berg Övül Ö. Durmusoglu und Joanna Warsza mit Kunst auf Balkonen viel Süße ins urbane Zeittotschlagen.

„Coordinates to an Island in No Map“ with Diana Troya and Amanda Chartier Chamorro Foto: Courtesy the artists and COLLECTIVE PRACTICES

Und wie verbringen wir im jetzigen Shutdown die Zeit? Mit Netzkunst auf allen Kanälen. Mit Hito Steyerls “Leonardo’s Submarine“ zum Beispiel: letztes Jahr in Venedig noch ein Virtual Environment, jetzt eine immersive Bubble für den Heimbildschirm. Oder mit dem kürzlich allein fürs Internet aufbereiteten Remake der legendären Animismus-Ausstellung im HKW (2012).

Kürzlich staretet auch das Projekt „Coordinates to an Island in No Map“ mit Diana Troya und Amanda Chartier Chamorro, Teil der Acud-Reihe „Collective Practices“ samt Film, Diskussionsrunden und Playlist. Ebenfalls zum Hören: Cashmere Radio, radio-kal von District-Berlin und die „1-54 Forum“-Talks auf der Contemporary African Art Fair – London Edition, die diesmal von Julia Grosse und Yvette Mutumba kuratiert wurden. Die beiden erhielten dieses Jahr den „European Cultural Manager of the Year“- Award für ihre Plattform Contemporary And (C&). Ein gutes Zeichen.

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